Wenn man den Einredungen des Managements Glauben schenken mag, dann soll durch die Kompetenzverlagerung in dezentrale Einheiten die gesamte Organisation flexibler ausgerichtet werden. Statt Flexibilität durch spezielle Funktionsbereiche wie die Arbeitsvorbereitung, die Entwicklungsabteilung oder das Top-Management zu sichern, soll die Flexibilität durch sich selbststeuernde, dezentrale Einheiten gewährleistet werden. So sollen Innovationen schneller in die Praxis umgesetzt, Aufträge flexibler bearbeitet und Qualitätsprobleme kreativer gelöst werden. Aber geht diese Rechnung auf? Wird mit der Verlagerung der Flexibilität in dezentrale Einheiten wirklich die gesamte Organisation flexibler?[1]
Wie steuern trotz Dezentralisierung?
Die Erzeugung von Flexibilität durch die Verlagerung von Kompetenzen in dezentrale Einheiten ist für die Organisationsspitze problematisch: Es verbaut sich durch die Dezentralisierung die direkten Zugriffsmöglichkeiten auf die verschiedenen nachgelagerten Einheiten. Die Vorgesetzten können nicht mehr ohne Weiteres in die einzelnen teilautonomen Bereiche hineinsteuern, in denen die Flexibilität dezentral erzeugt werden soll.
Das Problem des Organisierens ist jedoch nicht nur die Erzeugung von Flexibilität und Innovation, sondern auch die Produktion von Zusammenhang, Einheit und Kohärenz. Um zu gewährleisten, dass durch eine weitgehende Flexibilisierung das Unternehmen nicht als Ganzes unsteuerbar wird, müssen sich die Unternehmen die Erzeugung von Flexibilisierung in Form von Kompetenzverlagerungen „nach unten“ durch Standardisierungen, Verfestigungen und Stabilisierungen in anderen Bereichen förmlich erkaufen.[2]
Der Bereich, der sich besonders für Verfestigungen anbietet, ist die Beziehungsebene zwischen den dezentralen Bereichen und dem Vorgesetzten. Damit die flexiblen dezentralen Einheiten steuerbar bleiben, müssen die Vorgesetzten die Beziehungen zu den dezentralen Einheiten relativ stark reglementieren und strukturieren. Dies geschieht in Form von genauen Vorgaben über Qualität, Preis und Leistungen der dezentralen Einheiten – Stichwort Zielvereinbarungen.[3]
Dezentralisierung führt zu neuer Flexibilität auf Kosten der alten
Zugespitzt: Das Management erkauft sich die Flexibilisierung durch die Kompetenzverlagerung in dezentrale Einheiten – also durch den weitgehenden Verzicht seiner ursprünglichen Flexibilisierungsmöglichkeiten – des hierarchischen Eingriffes in die Arbeit der Mitarbeiter. Es ist jetzt für die vorgesetzten Einheiten nicht mehr so einfach möglich, von oben die vorrangige Bearbeitung eines bestimmten Auftrages durchzusetzen, eine bestimmte Person in einer dezentralen Einheit zu entlassen oder die Beziehung von dezentralen Einheiten durch hierarchische Anweisungen zu regulieren.
Dieser Prozess wird zum Beispiel bei Auftragsbearbeitung in der Gruppenarbeit deutlich: Früher war es einer Vorgesetzten möglich, direkt in die Planung für die Auftragsbearbeitung eines Fertigungsbereiches einzugreifen. Falls in einem Bereich der Firma problematische Engpässe deutlich wurden, wies die Führungskraft einfach einen anderen Bereich an, kurzfristig den Nachbarbereich in der Bearbeitung des Auftrages zu unterstützen. Hier lag ein erhebliches Flexibilitätspotential in der traditionellen Organisationsform. Dieses Flexibilitätspotential geht mit der Einführung der Gruppenarbeit weitgehend verloren. Vorgelagerte Einheiten sind darauf angewiesen, die Beziehungen zu den einzelnen Gruppen genau zu definieren: Kennziffern, Rechte und Pflichten werden genau festgelegt. Dies bietet dem Vorgesetzten und den Gruppen die Sicherheit, dass die Aufträge auch bearbeitet werden können. Aber die Flexibilität, die die einzelnen Gruppen erhalten haben, verhindert es, dass der Vorgesetzte von oben kurzfristig Umdisponierungen in der Arbeit der Gruppe anordnen kann. Die Schaffung von Flexibilität in einem Bereich wurde sich durch Vernichtung von Flexibilität in einen anderen Bereich erkauft.
Organisationen stecken in einem Dilemma: Flexibilität in den unteren, dezentralen Einheiten wird durch Standardisierung und Verfestigungen in anderen Bereichen der Organisation erkauft. Flexibilität ist nicht etwas, was sich in Organisationen beliebig steigern lässt, sondern muss vielfach gegen Starrheit in anderen Teilen des Organisationen eingetauscht werden.[4]
[1] Erste Überlegungen zu dem Thema von mir finden sich in S. Kühl: Von der Suche nach Rationalität zur Arbeit an Dilemmata und Paradoxen (wie Anm. 140), 316f.
[2] Diese Idee findet sich schon bei P. M. Blau: Decentralization in Bureaucracies (wie Anm. 165).
[3] Siehe das Harzburger Modell für ein Managementkonzept, dass komplett auf Zielvereinbarung aufgebaut ist. Reinhard Höhn: Führungsbrevier der Wirtschaft. Bad Harzburg 1969.
[4] Dazu ausführlich S. Kühl: Wenn die Affen den Zoo regieren (wie Anm. 24), 25ff.