Wenn man gefragt wird, warum man auf einem internationalen Managementkongress einen Vortrag hält, mag – auch für sich selbst einsichtig – Eitelkeit ein treibendes Motiv sein. Aber ein solcher Beweggrund ist nicht offen kommunizierbar. Man kann, darauf hat Jan-Philipp Reemtsma hingewiesen, auf die Frage nach Motiven nicht einfach antworten: „Weil ich ein eitler Kerl bin und zeigen möchte, dass ich über dieses Thema mehr zu sagen habe als XY“. Stattdessen werden in der Kommunikation legitime Motive bedient. Man verweist darauf, dass man eingeladen worden ist, man suggeriert, dass man nicht in erster Linie sich selbst, sondern anderen einen Gefallen tut, und wird dann ein paar Worte über die Wichtigkeit des Themas verlieren.[1]
Latenz kommt in jedem sozialen System vor
In der Systemtheorie wird ein solches „Fehlen bestimmter Themen zur Ermöglichung und Steuerung von Kommunikation“ als Latenz bezeichnet.[2] Will man einen durch die Psychoanalyse geprägten Begriff nutzen, kann man auch von einem „Tabu“ sprechen. In Beratungsprozessen wird häufig auch von „Hidden Agendas“ geredet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass maßgebliche Gründe für das Engagement von Berater zwar von allen Beteiligten beobachtet, jedoch nicht angesprochen werden können.
Diese Kommunikationslatenz muss von allen an einer Kommunikation Beteiligten sorgfältig gepflegt werden, weil diese die Funktion eines „Strukturschutzes“ hat. Häufig hat man als Beobachter eine Ahnung, welche Themen nicht ansprechbar sind. Interagiert man mit einem Ehepaar, sind beispielsweise die außerehelichen Kontakte des Ehemanns oder der Ehefrau meistens nicht als Gesprächsthema geeignet. In Jugendcliquen ist Kleinstdelinquenz – der Ladendiebstahl oder das Sprayen an Häuserwände – derweil ein beliebtes Thema, während eine Konversation über Schwächen einzelner Cliquenmitglieder möglichst vermieden wird. In Organisationen sind die Aspekte der Formalstruktur – die offiziellen Kommunikationswege, die verabschiedeten Programme sowie die verkündeten Personalentscheidungen – in der Regel problemlos ansprechbar. Viele im informellen Bereich ablaufenden Macht-, Verständigungs-, und Vertrauensprozesse sind dagegen nicht offen zu benennen.
Beispiele für Tabus in formalen und informalen Handlungen
Gerade in Reformprozessen lassen sich solche Tabuisierungen informaler Verhaltensweisen oftmals beobachten. Jede Organisation ist auf informale, häufig sogar illegale Praktiken angewiesen: die Abkürzung von Ausschreibungsverfahren, das Ausflaggen von Standardaufträgen als eilige Angelegenheit, um ein bürokratiereduziertes Verfahren nutzen zu können, die Nutzung nicht offiziell gemeldeter Räume oder die erst nachträgliche Ausfüllung von Formularen, die eigentlich vor einem Arbeitsschritt ausgefüllt sein müssen. In den Workshops bilden sich dann stillschweigende Vereinbarungen zwischen Management, Mitarbeiter und Beratern aus, welche informalen Aspekte ansprechbar sind und welche nicht.[3]
Aber Tabus in Organisationen sind nicht auf informale oder illegale Prozesse in Organisationen beschränkt. Es ist bekannt, dass Politiker sich gern Gutachten von möglichst renommierten Beratungsfirmen erstellen lassen. Es ist dabei allen Beteiligten (manchmal mit Ausnahme der Berater) klar, dass die Empfehlungen nie umgesetzt werden. Aber die Gutachten erfüllen auch in solchen Fällen eine latente – nicht kommunizierbare – Funktion, weil die Beamten in den Ministerien angesichts der häufig realitätsfernen Einschätzungen eher bereit sind, selbst über Modernisierung nachzudenken.
[1] Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008, S. 407.
[2] N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 208), S. 457. Siehe Luhmann auch zum Begriff des Strukturschutzes.
[3] Siehe dazu auch die Empirie in S. Kühl: Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung. Systemtheoretische Analyse eines Beratungsprozesses (wie Anm. 106), 284ff.