Der dschihadistische Islamismus ist aus einer wissenschaftlichen Perspektive zunächst einmal nichts anderes als der typische Fall einer sozialen Bewegung. Politische und religiöse Bewegungen orientieren sich an Werten, die sich zur Mobilisierung von Bevölkerungsteilen eignen. Das können Werte sein wie Frieden, Umweltschutz oder Gleichberechtigung, es können aber auch Werte wie Rassenreinheit, nationale Identität oder die weltweite Durchsetzung des „wahren“ islamischen oder auch christlichen Glaubens sein.[1]
Im Gegensatz zu Organisationen fällt es bei Bewegungen schwer, den Kreis der Mitglieder genau zu definieren. Während es in Verwaltungen, Unternehmen oder Armeen leicht zu erkennen ist, welche Personen Mitglieder sind, ist es bei der Friedensbewegung, der Frauenbewegung, der evangelikalen Bewegung oder eben der islamistischen Bewegung schwerer, zu bestimmen, wer dazugehört und wer nicht. Man kann zwar grob zwischen Aktivisten und Sympathisanten unterscheiden, aber es ist nicht nur für Sicherheitskräfte, sondern oft auch für die jeweilige Bewegung selbst nur schwer zur erkennen, wo genau die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen verläuft.
Die mobilisierenden Werte allein erzeugen noch keine starke Bindungswirkung; diese entsteht in Bewegungen oftmals erst auf der Grundlage von Gruppen, die sich durch persönliche Kontakte bilden. Wir wissen aus Studien über die Friedensbewegung, wie wichtig solche häufig durch die „gemeinsame Sache“ initiierten Freundeskreise waren, um eine hohe Sichtbarkeit der jeweiligen Bewegung zu erreichen. Die Rote-Armee-Fraktion muss maßgeblich auch als eine sich um Paare und Freundeskreise bildende Gruppe verstanden werden, die sich, anders als die Bewegung selbst, politisch radikalisierte. Und auch bei einer ganzen Reihe der islamistischen Terroranschläge ist deutlich geworden, wie stark die Umsetzung von Erwartungen, die ja im Fall von Selbstmordattentaten mit weitgehenden Folgen für die weitere Lebensplanung der Attentäter verbunden sind, auf persönlich und familiär verdichteter Erwartungsbildung basiert.[2]
Aus dieser Perspektive mögen sich die islamistische Bewegung, die Bewegung der patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes oder die sowohl gegen den Islamismus als auch gegen Pegida protestierende antirassistische Bewegung in ihrer Ideologie unterscheiden, von ihrer Struktur her sind sie sich jedoch nicht unähnlich. Wenn in Städten die mit rechtsextremen Parteien verbundenen Hooligans auf gewaltbereite Islamisten treffen und gleichzeitig antirassistische Initiativen zu Gegendemonstrationen aufrufen, dann beziehen diese Bewegungen ihre Identität in einem hohen Maße aus der gegenseitigen Abneigung. Aber von der Art und Weise, wie sie für ihre Sache mobilisieren, Konflikte inszenieren und Proteste organisieren, unterscheiden sie sich nicht grundlegend. Welche Erkenntnisse kann man gewinnen, wenn man den Islamismus als Bewegung begreift?
Ähnlich wie bei anderen Bewegungen kann man auch bei der islamistischen Bewegung eine zunehmende „Verorganisierung“ beobachten.[3] Ein erster Schub für eine Verorganisierung der islamistischen Bewegung wurde durch externe militärische oder finanzielle Unterstützung ausgelöst. Für die Lieferung von Waffen und Geld brauchte man Adressen, und darüber verfügen nur Organisationen. Man konnte eine solche „Verorganisierung“ in Afghanistan beobachten, als die USA während des sowjetisch-afghanischen Krieges Islamisten militärisch unterstützten und so letztlich die Ausbildung der al-Qaida-Organisation beförderten. Und einen ähnlichen Prozess konnte man später auch im Fall der islamistischen Bewegung beobachten, die allein schon deswegen eine Organisation brauchte, um die Geldzahlungen aus Saudi-Arabien und Katar sowie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kuwait empfangen und verteilen zu können. Im Fall der islamistischen Bewegung war der zentrale Effekt für die Organisationsbildung jedoch die Entstehung eines islamistischen Protostaates in Ostsyrien und im West-Irak. Auch wenn es der Ideologie von Bewegungen widerspricht, so können Staaten nicht ohne Organisationen auskommen. In dem vom IS kontrollierten Gebiet hatten sich deshalb schnell eigene Organisationen für die innere Sicherheit, für die Rechtsprechung, für die soziale Hilfe und für die Erziehung gebildet. Schnell wurde die erste Verwunderung über den starken Bürokratisierungsgrad in den besetzten Gebieten geäußert.
Deutlich zeichneten sich ungewollte Nebenfolgen der Verorganisierung ab. Der Zweck – die Durchsetzung des Islams mit Hilfe des Dschihad – hatte allein nicht mehr genug Strahlkraft, um Nachwuchs zu rekrutieren. Auch wenn die Propaganda-Videos des IS noch versuchten, die Aufopferung für die islamische Sache in den Mittelpunkt zu stellen, wurden andere Motive für die IS-Rekruten immer wichtiger. Das Bedürfnis nach Action musste nicht mehr durch die bei vielen IS-Kämpfern beliebten Videospiele befriedigt werden, man konnte auch mit Pick-ups durch die Straßen fahren und sich bei der Folterung von vermeintlich Ungläubigen selbst verwirklichen. Den IS-Kämpfern wurden Wohnungen, Bezahlung und Frauen in Aussicht gestellt. Mit dem Islam hatte das nichts mehr zu tun, aber Bewegungsorganisationen müssen solche Gegensätze zwischen den eigenen Zwecken und den Motiven ihrer Mitglieder dulden, häufig sogar fördern.
Der dschihadistische Islamismus geriet immer mehr in das typische Dilemma von Bewegungen.[4] Wenn er sich nicht zu einer Organisation entwickelt hätte, dann wäre er Gefahr gelaufen, zersplittert oder überrollt zu werden, weil sich besetzte Gebiete in der Form einer Bewegung nicht hätten halten lassen. Wenn Bewegungen jedoch immer mehr zu Organisationen werden, dann verlieren sie die ihre für Mitglieder attraktive Eigenart. Attentäter sprengen sich dann nicht mehr aus Identifikation mit der Sache in die Luft, sondern weil sie von Organisationen dazu gezwungen werden. Und: sich zunehmend verorganisierende Bewegungen lassen sich vergleichsweise gut bekämpfen – schließlich haben sie eine (wenn auch nicht immer leicht feststellbare) Adresse.
[1] Beitrag basiert auf einem Artikel, den ich zur Hochzeit des islamischen Staates geschrieben habe. Siehe Stefan Kühl: Terror mit Adresse. In: Süddeutsche Zeitung (24.11.2015), S. 2. Eine ausführliche Fassung findet sich in ders.: Die „Verorganisierung“ des Islamismus 2015. Online unter: https://www.soziopolis.de/beobachten/religion/artikel/die-verorganisierung-des-islamismus/.
[2] Friedhelm Neidhardt: Soziale Bedingungen terroristischen Handelns. In: Wanda von Baeyer-Katte u.a. (Hrsg.): Gruppenprozesse. Analysen zum Terrorismus. Opladen 1982, S. 318–391.
[3] Die Grundlagen für diese Überlegungen finden sich in der Soziologie schon früh, siehe Moissei Jakowlewitsch Ostrogorski: Democracy and the Organization of Political Parties. London 1902.
[4] Siehe dazu Friedhelm Neidhardt: Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen. In: Stefan Hradil (Hrsg.): Sozialstruktur im Umbruch. Opladen 1985, S. 193–204, hier S. 202.