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Der ganz formale Wahnsinn

Vertrauen - Die Überschätzung eines Steuerungskonzeptes

  • Stefan Kühl
  • Donnerstag, 1. Dezember 2022
vertrauen

Vertrauen ist in Mode: Je schärfer der Wind in der Wirtschaft weht, je stärker der Druck auf die Mitarbeiter in den Unternehmen und Verwaltungen wird, desto intensiver wird von Managern, Beratern und Sachbuchautoren Vertrauen als Essenz moderner Führung beschworen. Dabei geht es den Verkündern von Vertrauen als neue Zauberformel nicht darum, diese als eine neue Metamoral für Unternehmen zu proklamieren. Vielmehr wird versprochen, dass Vertrauen sich rechnet. Vertrauenskultur ist, so der Tenor, der Wettbewerbsvorteil für das 21. Jahrhundert.[1]

Angesichts dieser Vertrauens-Euphorie fragt man sich: Warum werden nicht alle Prozesse in der Gesellschaft (oder wenigstens in Unternehmen, Krankenhäusern, Verwaltungen, Universitäten oder Hochschulen) auf Vertrauen aufgebaut? Weswegen gibt es Hierarchien, in die Mitarbeiter eines Unternehmens oder einer Verwaltung mit ihrem ersten Arbeitstag hineinverpflichtet werden? Weswegen beschäftigen wir immer noch ganze Horden von Rechtsanwälten mit der Gestaltung von Verträgen, in dem jede Kleinigkeit „gerichtssicher“ ausformuliert wird, und hoffen nicht einzig darauf, dass unser Partner nicht schon die Vertrauensfrage stellt?

Vertrauen ist fragil und benötigt Zeit

Dies hängt mit der zentralen Schwäche von Vertrauen zusammen – ihrer Fragilität. Vertrauen zwischen Personen baut sich langsam auf. Man kann mit einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Entgegenkommen beginnen und wartet dann ab, wie der oder die andere reagiert.[2] Wenn es eine positive Reaktion gibt, kann sich langsam eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Aber Vertrauen ist riskant. Häufig reicht ein kleines Anzeichen für einen Missbrauch des Vertrauens aus, damit eine mühsam aufgebaute Vertrauensbeziehung auseinanderbricht. Man kann ja nicht sicher sein, dass es bei dem einen Missbrauch bleibt.

Angesichts der Fragilität von Vertrauen zwischen Personen ist es ein evolutionärer Fortschritt, dass moderne Gesellschaften nicht mehr in der gleichen Form durch persönliche Beziehungen geprägt sind wie noch die Germanenstämme zu Caesars Zeiten oder die (fiktiven) amerikanischen Indianerstämmen zu Zeiten von Karl May. Vermutlich werden wir deswegen immer flexibler und mobiler werden, weil wir die Beziehungen zu unserer Umwelt nicht alleine auf die Stärke persönlicher Netzwerke aufbauen. Wir können von Oslo aus zum Krüger-Nationalpark nach Südafrika reisen und dort zwei Wochen Löwen beobachten, ohne alte persönliche Kontakte zu mobilisieren und ohne während des Aufenthalts mühsam Vertrauensbeziehungen zum Fremdenführer aufzubauen.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, weswegen es ein Gewinn ist, dass die moderne Gesellschaft – und eben auch deren Organisationen – nicht auf persönlichem Vertrauen basiert. Es macht unser Leben einfacher, dass wir zum Verkäufer im Supermarkt nicht erst durch Komplimente oder Geschenke eine Vertrauensbeziehung aufbauen müssen, sondern davon ausgehen können, dass wir in der Regel für unseren einen Euro auch das gewünschte Kilo Bananen bekommen. Es erleichtert die Koordination im Unternehmen, dass der Chef nicht bei jeder Einzelfrage um das Vertrauen seiner Mitarbeiter werben muss, sondern aufgrund seiner hierarchischen Stellung erst einmal von einer pauschalen Folgebereitschaft ausgehen kann. Der Soziologe Niklas Luhmann beschreibt diesen Prozess, in dem man nicht konkreten Personen, sondern Geld oder Macht vertraut, als Systemvertrauen.[3] Mit dem romantischen Verständnis des Vertrauens zwischen Personen, wie es in der Managementliteratur gepflegt wird, hat dies wenig zu tun. Wie kommt es jetzt, dass Vertrauen wenigstens in der Managementliteratur so populär wird?

Es erleichtert die Koordination im Unternehmen, dass der Chef nicht bei jeder Einzelfrage um das Vertrauen seiner Mitarbeiter werben muss, sondern aufgrund seiner hierarchischen Stellung erst einmal von einer pauschalen Folgebereitschaft ausgehen kann.

Das Propagieren von Vertrauen ist zunächst einmal Indiz dafür, dass andere Steuerungsmechanismen wie Hierarchie, Regeln und Märkte zunehmend problematisch werden. Wenn die Spitzen in Unternehmen und Verwaltungen so überlastet sind, dass Untergebene sich immer weniger auf Entscheidungen von oben verlassen können, wenn Regeln in Unternehmen so flexibel gehandhabt werden müssen, das deren Verletzungen zur Regel werden, wenn die Märkte so komplex werden, dass man nicht mehr alles in Verträgen festschreiben kann – dann giert man nach einem Steuerungsmechanismus, der diese Lücke füllen kann. Man erinnert sich an Vertrauen, das ja in Freundschaften und Liebesbeziehungen eine wichtige Rolle spielt, und versucht damit die „Lücken“ in den Unternehmen und Verwaltungen zu stopfen. Das mag sogar Erfolg versprechend sein, aber nur dann, wenn Vertrauen zwischen Personen nicht – wie zurzeit üblich – zum Maß aller Dinge hochstilisiert wird, sondern innerhalb seiner Grenzen verstanden wird.

[1] Die Ausarbeitungen basieren auf Überlegungen von mir aus Stefan Kühl: Die Grenzen des Vertrauens. In: Harvard Business Manager (2003), 4, S. 112–113. Für eine Anwendung auf Universitäten siehe ders.: Die Grenzen des Vertrauens. Wider eine neue Managementmode in Universitäten. In: Forschung & Lehre 14 (2007), 12, S. 718–720. Zum Verhältnis von Vertrauen zu Macht und Verständigung siehe auch S. Kühl: Laterales Führen (wie Anm. 182), 27ff.

[2] Siehe zum Aufbau von Vertrauen aus spieltheoretischer Perspektive die klassische Studie Robert Axelrod: The Evolution of Cooperation. New York 1984.

[3] Siehe dazu Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1989.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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