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Der ganz formale Wahnsinn

Zwangsmitgliedschaft - Weswegen Verweise und Bußgelder Protestierenden nützen

  • Stefan Kühl
  • Donnerstag, 1. Dezember 2022
zwangsmitgliedschaft

Bei den Klimaprotesten von Schülern verkündeten einige Schulleitungen schnell, dass sie zukünftig Bußgelder gegen Eltern durchsetzen werden, die ihre Kinder nicht an der Teilnahme an den Klimademonstrationen hindern. Bei aller Sympathie für die Sache ‒ so der Tenor ‒ könnte man nicht dulden, dass die Schulpflicht an Freitagvormittagen faktisch außer Kraft gesetzt werde. Wenn Schüler protestieren wollten, sollten sie dies bitte in ihrer unterrichtsfreien Zeit machen.

Erfolgreiche Proteste widersetzen sich Verboten

Dabei übersahen sie, dass der Erfolg der Klimaproteste damit zusammenhing, dass diese als Streik während der Unterrichtszeit stattfanden. Erst dadurch, dass Schüler sich punktuell der Schulpflicht verweigerten, erhielten sie überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit. Sie verfügten damit über Protestmöglichkeiten, die den Studierenden, die diese Demonstrationen unterstützten, nicht in gleicher Weise zur Verfügung standen – weil sich letztlich niemand dafür interessiert, ob Studierende an einem Freitag an einer Vorlesung beziehungsweise Übung teilnehmen oder nicht.

Die Schüler nutzten dabei für ihre Proteste geschickt aus, dass sie zu den wenigen Gruppen gehören, die noch mit Zwang zur Mitgliedschaft in einer Organisation verpflichtet werden. Dass die Schulpflicht ursprünglich nicht wegen lernresistenten Schüler, sondern wegen Eltern eingeführt wurde, die ihre Kinder lieber zum Arbeiten als zum Unterricht schicken wollten, ändert nichts daran, dass die Schüler durch die Missachtung der Schulpflicht einen außergewöhnlich effektiven Hebel haben.

Vom Protest zum Beruf

Nachdem die Proteste anfangs weitgehend ignoriert worden sind, wurden die Verantwortlichen zunehmend unruhig. Dabei war klar, dass es bei den Bestrafungen nie um den konkret verpassten Unterricht ging. Es gehört ein erhebliches Maß an Fantasie dazu, zu glauben, dass zwei verpasste Stunden Mathematik, Biologie oder Geografie an einem Freitag verhindern, dass aus einer Schülerin eine zukünftige Ingenieurin für alternative Antriebstechniken oder eine auf Klimawandel spezialisierte Meteorologin wird. Das Gegenteil trifft zu.

Bekanntermaßen hat ein Engagement in Protestbewegungen eine motivierende Wirkung auf die Berufswahl, die selbst von sehr guten Lehrern nur schwer zu erzielen ist. Man braucht sich bloß die Juristin anzuschauen, deren Berufswahl auf Erfahrungen mit Polizeigewalt im Zuge von Friedensdemonstrationen zurückgeht, den in der Umweltbewegung sozialisierten Ingenieur, der alternative Techniken der Färbung von Kleidung entwickelt, oder die Schriftstellerin und Politikerin, die darin Möglichkeiten sieht, ihre in nationalistischen Bewegungen gesammelten Erfahrungen zu einem Beruf zu machen.

Formale Strukturen werden geschützt, indem Verstöße umgangen werden

Der Grund für die Sensibilität, mit der einige Schulleiter, aber auch Politiker auf die Klimastreiks reagierten, war ein anderer. Die offene Verweigerung der Schulpflicht stellte in der Wahrnehmung die formale Ordnung der Schule insgesamt in Frage. Organisationen reagieren generell sensibel, wenn Mitglieder sich offen weigern, auch nur eine Anweisung, eine Regel oder eine Aufforderung auszuführen. Wer auch nur „einer Vorschrift aus Prinzip die Anerkennung verweigert“, so schon der Soziologe Niklas Luhmann, rebelliert nicht nur gegen diese eine Vorschrift, sondern „gegen alle formalen Erwartungen“ der Organisation.[1]

Man kann diese Sensibilität gegen einzelne Verweigerungen wie durch ein Brennglas bei Armeen mit Wehrpflicht beobachten. Die explizite Aussage eines Soldaten, er sei nicht bereit, den Hof zu putzen oder sich am Exerzieren zu beteiligen, löst nicht deswegen erhebliche organisatorische Unruhen aus, weil ein sauberer Kasernenhof eine Grundbedingung für eine erfolgreiche Kriegsführung ist, sondern weil die Ablehnung auch nur dieser einen kleinen Anweisung als Rebellion gegen alle formalisierten Erwartungen der Organisation interpretiert werden muss und dadurch die Fähigkeit der Armee zur Kriegsführung abnimmt.[2]

Deswegen bilden gerade Organisationen, die ihren Mitgliedern nicht die Wahl lassen, in der Organisation zu verbleiben oder diese zu verlassen, ein hohes Maß an Intelligenz aus, um mit Regelverstößen umzugehen. Man zieht die Verantwortung für die Regelverstöße nicht sofort in der Zentrale zusammen, sondern überlässt die Handhabung der Verstöße den unmittelbaren Vorgesetzten. Diese können dann selbst überlegen, ob sie die Verstöße überhaupt zur Kenntnis nehmen, vorgeschobene Entschuldigungen akzeptieren oder offiziell Bestrafungen aussprechen, die aber faktisch weitgehend wirkungslos bleiben.

Insofern ist es vermutlich eine kluge Politik der Bildungsministerien gewesen, den Schulen keine rigide Vorgehensweise gegen die Streikenden vorzuschreiben, sondern es den einzelnen Bildungseinrichtungen selbst zu überlassen, wie sie mit den fehlenden Schülern umgehen. Dabei wählten die meisten Schulen aus guten Gründen eine Vorgehensweise, die auf den Einsatz des zur Verfügung stehenden Bestrafungsapparats verzichtet, gleichzeitig aber die auf der Schulpflicht basierende formale Ordnung aufrechterhält. Das Fehlen von Schülern wurde zwar nicht offiziell erlaubt, aber stillschweigend geduldet: So konnten die Fehlstunden durch die Beteiligung an Diskussionen über Klimaschutz kompensiert werden, oder es wurden Verwarnungen ausgesprochen und dabei mitkommuniziert, dass aus diesen keine Konsequenzen folgen werden.

Sanktionen verstärken Proteste

Wir wissen, dass Protestbewegungen – man denke nur an die Friedensbewegung, die Frauenbewegungen oder auch nationalistische Bewegungen – nach einer gewissen Zeit in sich zusammenfallen. Sicherlich, das Ergebnis von Protestbewegungen ist die Bildung professionell organisierter Lobbyorganisationen und die Entstehung von Parteien, die das Thema in die Parlamente treiben. Aber die Protestbewegung selbst und das scheint fast ein ehernes Gesetz von Bewegungen zu sein – verliert zunehmend an Bedeutung und ist irgendwann kaum noch in der Lage, eine nennenswerte Anzahl an Personen für ihre Proteste zu mobilisieren.

Eine rigide Vorgehensweise gegen Protestbewegungen wirkt für diese jedoch wie eine permanente Beatmungsmaßnahme. Insofern trugen Politiker, die während der Klimastreiks harte Bestrafungen der Protestierenden forderten, sowie Schulleiter, die alle rechtlich möglichen Wege, die Schlupflicht durchzusetzen, ausnutzten, entscheidend zu einem vergleichsweise langanhaltenden Erfolg dieser Protestbewegung bei. Den größten Gefallen, den Politiker und Schulleiter den Schülern hätten tun können, lag also gerade in der Eskalation der Bestrafungsmaßnahmen. Insofern hätten die protestierenden Schüler nur hoffen können, dass etliche von ihnen aufgrund ihrer Proteste aus der Schule entfernt und ihre Eltern zu Bußgeldern verurteilt würden, oder aber die Politiker über Beugehaft gegen Schüler respektive Eltern zur Durchsetzung der Schulpflicht aufgerufen hätten. Weil aber nur einzelne Politiker und Schulleiter den protestierenden Schülern diesen Gefallen taten, schlafften die Proteste, wie zu erwarten, schnell wieder ab.

[1] N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation (wie Anm. 5), S. 63.

[2] S. Kühl: Ganz normale Organisationen (wie Anm. 116), 120ff.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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