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Der ganz formale Wahnsinn Podcast

#48 Zentralisieren oder Dezentralisieren

  • Andreas Hermwille
  • Stefan Kühl
  • Montag, 4. Juli 2022

Kommen die Entscheidungen besser alle aus einer Hand und gelten für alle? Oder vertraut man besser auf die Expertise der Bereiche und lässt sie selbst entscheiden? Beides geht nicht. Was bringt wann mehr, was sind typische Probleme? Über das Dilemma zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung.

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Skript zum Gespräch

(Das Skript gibt den Gesprächsverlauf und Inhalt wieder, ist aber gekürzt und an einigen Stellen zum leichteren Verständnis vom Wortlaut abweichend über­arbeitet.)

Andreas Hermwille: Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Frage, die sich Organisationen zum Thema Zentralisierung und Dezentralisierung stellen sollten?

Stefan Kühl: Sicherlich die Frage danach, auf welcher Ebene Entscheidungen getroffen werden sollen. Intuitiv haben viele den Impuls, dezentralisieren zu wollen, weil dezentral die entsprechenden Kompetenzen vorhanden sind, um Entscheidungen mit hoher Qualität in der Vor- und Nachbereitung treffen zu können. Zentralisierung hat einen schlechten Ruf. Es gibt aber auch gute Gründe für Organisationen, auf Zentralisierung zu setzen.

Andreas Hermwille: Und zwar?

Stefan Kühl: Ganz häufig geht es darum, die Organisation insgesamt schlagkräftig auszurichten. Und wenn es darauf ankommt, dass alle Organisationseinheiten an einem Strang ziehen, bedeutet das faktisch in der Entscheidungsfindung Zentralisierung. Man könnte natürlich hoffen, dass sich die dezentralen Einheiten in einem großen, konsensualen, partizipativen Prozess darauf einigen, genau so vorzugehen. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings eher gering, weil alleine durch die Arbeitsteilung die verschiedenen dezentralen Einheiten ganz unterschiedliche Interessen haben. In dem Moment, wo man an der Spitze der Organisation die Entscheidungskompetenzen zusammenzieht, ist man in der Lage, die ganze Organisation auszurichten und bestimmte Synergieeffekte über die dezentralen Einheiten hinweg zu produzieren.

Auf Digitalisierung folgt Zentralisierung

Andreas Hermwille: Was sind typische Organisationsprobleme, die es nahelegen, zu zentralisieren?

Stefan Kühl: Was ich häufig in Beratungsprojekten beobachte ist, dass das Thema Digitalisierung einen Zentralisierungsdruck in Organisationen auslöst. Und zwar deswegen, weil die neuen, digitalen Lösungen organisationsweit eingeführt werden. Die Effizienzen von Digitalisierung werden erst in dem Moment produziert, wo die Lösungen für alle gelten. Deshalb sind Digitalisierungsprozesse immer auch Zentralisierungsprozesse. Dadurch, dass in letzter Zeit in vielen Organisationen Digitalisierung ein großes Thema gewesen ist, kann man auch eine starke Zentralisierungswelle in Organisationen beobachten.

Andreas Hermwille: Ist es nicht ein Problem, wenn die Organisation fantastisch dezentral funktioniert, aber für den Digitalisierungsprozess den Schmerz auf sich nehmen muss, alle Strukturen gleichzuziehen?

Digitalisierung ist erst dann effizient, wenn sie für alle gilt

Stefan Kühl: Ich gehöre jetzt auch nicht zu denjenigen, die sagen, dass Digitalisierung dazu führt, dass in allen Organisationen alles geändert werden muss. Aber man kann schon erkennen, dass gerade das Anbieten von bestimmten digitalen Produkten dazu führt, dass man Lösungen braucht, die organisationsübergreifend funktionieren. Und das setzt häufig dann doch einen Prozess in Gang, wo bestimmte Verfahren und Abstimmungen auf zentraler Ebene gemacht werden. Da werden dann die dezentralen Einheiten diskursiv mit eingebunden.

Es gibt aber auch noch andere Themen, die Zentralisierung nahelegen. Krisen wie Seuchen oder Kriege zum Beispiel. Wenn eine Pandemie ausbricht, braucht man schnelle, zentralistische Lösungen für akute Probleme. Und auch im Kriegsfall macht es Sinn, dass eine Armee über eine zentrale Heeresleitung geführt wird und nicht jede Einheit für sich selbst festlegt, was gerade der nächste Kriegsplan ist.

Die Schattenseiten der Zentralisierung

Andreas Hermwille: Sie haben die Vorteile für Zentralisierung benannt und die Probleme, die man damit lösen kann – gibt es auch unbequeme Nebenwirkungen?

Stefan Kühl: Ein klassisches Problem ist, dass häufig in der Zentrale nicht die Informationen vorhanden sind, die man für adäquate Situationslösungen braucht. Natürlich wird versucht, die Information an den zuständigen zentralen Stellen zusammenlaufen zu lassen, aber wir wissen aus der Forschung sehr genau, dass in der Regel Zentralisierung immer dazu führt, dass man eine sehr schlechte Einschätzung von der jeweils konkreten Situation vor Ort hat. Ein zweites Problem ist, dass die zentralen Lösungen für alle Organisationseinheiten zu gelten haben, und dementsprechend situativ nicht immer so gut angepasst sind. Wenn die dezentrale Einheit eine Lösung zur Verfügung hat, die genau auf ihre eigene Situation passen würde, dann sind die in der Regel mit den zentralen Lösungen nicht besonders glücklich.

Andreas Hermwille: Das heißt – um beim Digitalisierungsbeispiel zu bleiben – es ist für dezentrale Einheiten sinnvoller, weiter ihre gut angepassten, dezentralen Lösungen zu benutzen, als sich auf eine zentralisierte digitale Lösung einzulassen?

Stefan Kühl: Ich kenne das aus dem Bankenbereich, wo es viele Bankenverbünde gibt, und bezüglich IT Lösungen immer die Frage ist, ob man das zentral einkauft oder dezentral entwickelt. Dort entsteht allerdings häufig die Situation, dass der Kostendruck dazu führt, dass am Ende auf die zentralen Lösungen zurückgegriffen wird – obwohl die dezentralen Einheiten autonom entscheiden können.

Andreas Hermwille: Heißt das, Zentralisieren ist günstiger?

Stefan Kühl: In vielen Zentralisierungsprozessen spielt Kostensenkung eine wichtige Rolle, aber es gibt genug Beispiele, die zeigen, dass die Effizienzsteigerung und Kosteneinsparung durch Zentralisierung nicht unbedingt einschlägig ist. Häufiger erwächst Zentralisierung aus der Notwendigkeit, bestimmte Leistungen erbringen zu müssen, die erfordern, schnell und über viele Organisationseinheiten hinweg eine bestimmte Vorgehensweise durchzusetzen.

Die Vorteiler dezentraler Strukturen

Andreas Hermwille: Könnte man nicht auch sagen, dass dezentrale Strukturen krisenfester sind, weil sie näher an der Umwelt sind und sich dementsprechend besser anpassen können?

Stefan Kühl: Die Frage, ob schnelle, für alle verbindliche Entscheidungen über zentrale Entscheidungsorgane besser sind als organisationale Lösungen, die sich dezentral an lokale Gegebenheiten anpassen, ist ganz typisch für diese Debatte über Zentralisierung versus Dezentralisierung. Wenn man sich an die Frühphase der Corona Pandemie erinnert, ist letztlich genau diese Debatte in verschiedenen Staaten geführt worden, wenn es darum ging, Corona Maßnahmen im Land zu koordinieren. Die Frage ist ja: Wie viel Flexibilität kriege ich über Dezentralisierung hin?

Andreas Hermwille: Dezentralisierung eignet sich also besonders gut für Organisationen, die viele verschiedene lokale Standorte haben. Was sind weitere Vorteile?

Stefan Kühl: Es gibt viele Organisationen, die viele dezentrale Standorte haben, aber extrem zentralisiert sind. Denken Sie an McDonald’s, wo bis ins kleinste Detail alles vorgegeben ist. Aber es gibt eben auch viele Organisationen mit dezentral in Regionen organisierten Einheiten, die eine hohe Autonomie haben, weil die Geschäftsfelder ganz unterschiedlich sind und dementsprechend ein hohes Maß an flexibler Anpassung an Umweltveränderungen vor Ort notwendig ist. Ein weiteres klassisches Argument für Dezentralisierung ist, dass die Motivation der Mitarbeiter:innen höher ist, wenn sie ihre Entscheidungen selbst treffen können. Und zwar deswegen, weil die Klage darüber, dass die Zentrale sich mal wieder was richtig Dummes ausgedacht hat, nicht zieht.

Man kann sichere Prozesse und freie Entscheidungen nicht gleichzeitig ermöglichen

Andreas Hermwille: Was ist ihre Erfahrung: Hilft eine dezentrale Struktur dabei, dass Mitglieder hinter den Entscheidungen stehen, die sie treffen müssen?

Stefan Kühl: Man darf nicht vergessen, dass Standardisierung gerade was Abläufe angeht auch ein hoher Sicherheitsfaktor ist. Es ist kein Zufall, dass die Mitarbeiterinnen häufig gleichzeitig fordern, dass sie selbst entscheiden möchten, aber von oben Sicherheiten bekommen. Das ist eine fast schon paradoxe Anforderung ans Management, wenn man einerseits klare Ansagen und Standards möchte, aber auch gerne selbst entscheiden können. Das schließt einander – jedenfalls wenn es um die gleiche Frage geht – tendenziell aus. Der Begriff dafür ist „Prozesssicherheit“. Das ist letztlich eine verkappte Forderung nach Zentralisierung.

Andreas Hermwille: Prozesssicherheit würde ja immer auch bedeuten, dass die Prozesse über die Organisationseinheiten hinweg einheitlich sind. Niemand fordert Prozesssicherheit nur für sich alleine.

Der schmale Grat zwischen Flexibilität und Sicherheit

Stefan Kühl: Hier zeigt sich ein Grunddilemma in Organisationen, die zwischen Flexibilität und Sicherheit abwägen müssen. Und es ist eine zu einfache Lösung, zu sagen: So viel Zentralisierung wie nötig, so viel Dezentralisierung wie möglich. Das ist als Maxime nicht völlig ungeeignet, aber wie es im Einzelnen aussieht muss in Reformprozessen immer wieder neu ausgehandelt werden. Viele Konflikte in Organisationen werden von dieser Frage getragen.

Andreas Hermwille: Die meisten Strukturen wachsen ja historisch, und dann muss man sich irgendwann mit den Problemen beschäftigen, die sich aus dieser gewachsenen Struktur ergeben. Und während man die Schmerzen der Strukturen versucht, zu bearbeiten, bewegt man sich in diesem Dilemma.

Enthierarchisierung heißt immer auch Zentralisierung

Stefan Kühl: Häufig bemerken die Organisationen gar nicht, dass sie gerade zentralisieren. Ein klassisches Beispiel sind Organisationen, die Hierarchien abflachen möchten. Instinktiv denkt man, dass es sich dabei um Dezentralisierungsprozesse handeln muss. Bis zu einem bestimmten Grade ist das auch plausibel, wenn man Kompetenzen nach unten abgibt. Aber es ist gleichzeitig auch immer ein Zentralisierungsprozess, weil die mittlere Ebene, die bis dato dezentral entscheiden konnte, bei einer Abflachung aus der Hierarchie rausgenommen wird.

Das heißt, wenn sich die selbst steuernden Teams untereinander nicht einig werden, müssen sie sich an die Organisationsspitze wenden, wo die Fäden dann zusammenlaufen. In dem Moment, wo man Hierarchieebenen rausnimmt, merkt das Management an der Spitze sofort, dass die Arbeitsbelastung steigt. Selbstorganisierte Teams sind in den seltensten Fällen in der Lage, alles untereinander zu klären, sondern brauchen irgendwann Ansprechpartner, die Konflikte auflösen.

Und die sind immer an der Spitze der Organisation.

Andreas Hermwille

freut sich, wenn er soziologische Theorien über eine gute Geschichte erzählen kann.

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Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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