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Podcast: Die Humanisierung der Organisation

#2 Mein Verhalten, die Verhältnisse und ich

  • Kai Matthiesen
  • Andreas Hermwille
  • Mittwoch, 26. Oktober 2022

Organisationen wünschen sich die Austauschbarkeit ihrer Mitarbeitenden, Menschen sind aber keine Maschinen. Und die meisten Menschen wünschen sich, ihre Persönlichkeit in die organisationale Rolle einbringen zu können. Wie einerseits das Verhalten des Einzelnen organisationale Erwartungen formt und andererseits die strukturellen Verhältnisse das Verhalten bestimmen – darum geht es in dieser Folge der Podcast-Staffel zum Buch „Die Humani­sierung der Organisation“ von und mit Judith Muster und Kai Matthiesen.

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Andreas Hermwille: Auch wenn Organisationen sich viel Mühe geben: Menschen sind keine Roboter und lösen die gleiche Aufgabe oft auf unterschiedliche Art und Weise. Ist es nicht ein Problem für die Organisation, wenn je nachdem, wer die Mitgliedsrolle besetzt, die Rolle anders ausgeführt wird, egal wie konkret die Rollenbeschreibung ist?

Kai Matthiesen: Das Problem fängt damit an, dass man überhaupt Rollen­beschreibungen anfertigen muss – und Menschen finden muss, die diese Erwartungen erfüllen. Das Rollengefüge der Organisation soll bestenfalls dazu führen, dass die Organisation funktioniert und am Ende alles zusammenpasst. Man versucht eine perfekte Maschine zu bauen, wo das eine Rädchen ins andere greift. Wer Organisationen kennt, weiß, dass das nie ganz funktioniert.

Dieses Reinquetschen der ganzen Person in die eine, spezifische Organisationsrolle, wo immer links und rechts noch etwas überhängt – das ist der Rekrutierungs­prozess.

Die Organisation sucht nach genau der einen Person, die erfüllt, was in der Rolle präzise beschrieben wurde, und zum Bewerbungsgespräch kommen dann Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten. Dieses Reinquetschen der ganzen Person in die eine, spezifische Organisationsrolle, wo immer links und rechts noch etwas überhängt – das ist der Rekrutierungsprozess.

Und in diesem Prozess werden schlaue Menschen auch sagen „warte, vielleicht sollten wir dieses Ding, was hier überhängt, nicht überhängen lassen, sondern diese Erfahrungen mit hineinehmen und versuchen, diese Rolle etwas anders zu gestalten“. Die Frage ist immer: Ich habe diese Maschine gebaut und wie passt das Zahnrad „Mensch“ da jetzt hinein? Und dann wird man schnell merken, dass das Zahnrad nie ganz reinpasst und dass man die Rolle anpassen muss, damit es aufgeht.

Das Verhalten des Einzelnen formt die Erwartungen in der Organisation

Andreas Hermwille: Wenn Organisationen von der Person mehr bekommen, als sie eigentlich brauchen – wie entscheidet man dann, wie viel Raum man dieser Person gibt? Mein Gefühl ist: Im Alltag läuft es meistens so, dass das, was Personen über die Rollenerwartung hinaus mitbringen, früher oder später irgendwo liegen bleibt.

Kai Matthiesen: Das ist so und dazu kommt noch, dass Menschen sich im Bewerbungsprozess darstellen, als würden sie genau in die Rolle passen. Und wenn die Person zu arbeiten anfängt merkt man, dass sie mehr oder weniger kann, als man sich vorgestellt hat, oder die Person die Rolle einfach anders interpretiert.

Man hat zum Beispiel vielleicht jemanden für die Buchhaltung eingestellt, und der Buchhalter merkt, dass er mit seinem Zahlenverständnis auch fürs Marketing sehr hilfreich sein kann. Und dann kommt es dazu, dass der Buchhalter immer mehr Analyse über das Verhalten der Kunden macht und plötzlich unterhält sich das Marketing regelmäßig mit dem Buchhalter über Prognosen zum Kaufverhalten. Hier formt das Verhalten des Einzelnen die Erwartungen in der Organisation, indem der Buchhalter eine Rolle erfüllt, die ihm eigentlich gar nicht zugeschrieben wurde. Solche Entwicklungen sind Beifang, wo man sich immer fragen muss: Nutze ich das oder werfe ich es wieder zurück ins Meer.

Organisierte Anarchie macht die Rollenverteilung leichter

Andreas Hermwille: Wäre es für die Organisation dann nicht am praktischsten, präzise Rollenbeschreibungen wegzulassen und den Mitgliedern selbst zu überlassen, wie sie sich miteinander verschalten und ihre persönlichen Erwartungen aufeinander einstellen?

Kai Matthiesen: Wenn ich ein neues Sales Team rekrutiere, muss ich mir am Ende sicher sein, dass auch alle im Team Sales arbeiten. Ich kann aber auf Team­ebene schauen: Wer bringt welche Qualifikationen mit und wie setze ich das klug ein? Vielleicht habe ich eine Person, die stärker nach vorne geht und gute Kaltakquisen machen kann und eine, die strukturiert denken kann und die Ergebnisse ordnen, während eine andere tolle Kundenbeziehungen aufbauen kann, die lange halten. Da kann ich entscheiden, dass das Team die Rollen flexibel handhabt und unter sich aufteilt. Das wäre dann eine Form der organisierten Anarchie.

Andreas Hermwille: Wie sieht das aus, wenn eine Person dazu eingesetzt wird, ein schlecht funktionierendes Sales Team zu optimieren – kann so eine Rollenerwartung überhaupt erfüllt werden?

Kai Matthiesen: Als Organisationsgestalter würde ich davor warnen, eine neue Person zur Verbesserung eines schlecht funktionierenden Teams einzusetzen, ohne vorher zu schauen, ob es nicht vielleicht die strukturellen Verhältnisse sind, die verändert werden müssen. Typischerweise personalisieren Organisa­tionen ihre Probleme, indem sie davon ausgehen, dass die Teammitglieder Schuld sind, wenn das Team nicht funktioniert, und das Problem gelöst werden kann, indem eine neue Person dem Team hinzugefügt wird und da einmal „ordentlich aufräumt soll“. Darüber wird gern vergessen, darauf zu schauen, was vielleicht auch strukturelle Probleme im Team sein könnten.

Man muss Rollenerwartung und Personenertwartung voneinander trennen

Andreas Hermwille: Das heißt, es gibt auch Rollenerwartungen, die einfach nicht erfüllt werden können?

Kai Matthiesen: Genau. Das wird dann ein Kampf, den man nicht gewinnen kann. Man muss die Rollenerwartung von der Personenerwartung trennen. Bestenfalls passen die Erwartungen an die Rolle und die Erwartungen an die Person zusammen. Wenn etwas nicht gut läuft muss man schauen: Muss ich den Menschen austauschen oder die Rollenerwartung anpassen?

Idealerweise sind die Rollenerwartungen in Organisationen unpersönlich, das heißt, sie können von allen Personen, die man rekrutieren könnte, ausgefüllt werden. Wenn dann aber konkrete Personen die Rolle besetzen, enwickeln sich auch Erwartungen an die Person. Da muss man immer wieder überprüfen, ob Rollenerwartung und Personenerwartung noch zusammenpassen.

Rezension zum Buch „Humanisierung der Organisation“

Auch Menschen dürfen sich verändern

Andreas Hermwille: Widerspricht sich nicht der Wunsch der Organisation nach Austauschbarkeit ihrer Mitglieder mit dem Wunsch der Person, einzigartig zu sein, und zwar auch in der eigenen Arbeit?

Kai Matthiesen: Das sind einfach nur zwei unterschiedliche Perspektiven. Die Organisation braucht größtmögliche Flexibilität und versucht deshalb Rollenbeschreibungen zu entwickeln, die möglichst personenunabhängig funktionieren. Die Mitglieder einer Organisation jedoch suchen den für sie persönlich am besten passenden Job. Das heißt, sie haben individuelle Ideen und Wünsche, die sie in der Organisation verwirklichen möchten.

Das widerspricht sich nicht grundsätzlich damit, dass die organisationale Rolle von vielen verschiedenen individuellen Personen ausgefüllt werden kann. Dabei wird es immer passieren, dass Mitglieder von ihrer Rollenerwartung abweichen und sich Personenerwartungen ändern – das ist das normale Leben und der immer andauernde Versuch des Organisierens.

Sowohl Verhalten als auch Verhältnisse sind veränderbar

Andreas Hermwille: Dahinter steckt ja die Idee, dass Organisationen veränder­bar sind und man an den Verhältnissen immer etwas tun kann. Wie ist das, wenn sich eine Person in der Organisation einfach nur unangenehm verhält – zum Beispiel der cholerische Chef, der regelmäßig Wutausbrüche auf den Rücken seiner Mitarbeitenden ausagiert. Was dann passiert ist doch, dass sich die Mitarbeitenden in ihrem Verhalten auf die Person des Chefs einstellen, ihre Erwartungen anpassen und zum Beispiel versuchen, die Stimmung des Chefs zu lesen und seine Explosivität einschätzen zu lernen.

Kai Matthiesen: Diese Anpassungsleistungen sind wichtige Bausteine der Erwartungsbildung in Organisationen. Mitarbeitende können sich auf die Personen einstellen, mit denen sie arbeiten, und ihr eigenes Verhalten an ihren Kolleg:innen ausrichten. Was nicht alle Mitarbeitenden können, ist die Verhältnisse zu verändern – dafür braucht es eine Position in der Organisation, die mit Gestaltungsmacht ausgestattet ist. Wenn man diese Position nicht hat, ist es eine Frage von „love it, change it or leave it“ – also finde dich damit ab oder haue ab.

Es ist eine große Errungenschaft der Moderne, dass wir als Mitglieder einer Organisation immer die Wahl haben, zu gehen. Im Mittelalter war als Sohn eines Schusters determiniert, dass man selbst Schuster werden musste. Das ist heute anders. Das heißt, wer sich nicht an den cholerischen Chef anpassen möchte, hat die Freiheit, die Organisation zu verlassen. Auch das ist Teil der Erwartungs­bildung in Organisationen, dass wir wissen: Alle Mitglieder können die Organisation auch verlassen, wenn es ihnen nicht mehr gefällt.

Im Gespräch
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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Andreas Hermwille

freut sich wenn er eine Frage findet, die Geschichten als Antwort haben.

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