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Holacracy

Die Faszination der Hyper­formalisierung

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 17. März 2023
Hyperformalisierung

Holakratische Organisationen nutzen einen geschickten Kniff, um die Auflösung von Abteilungsgrenzen und die Aufweichung von Hierarchien zu erreichen: eine detaillierte formale Fixierung aller nur vorstellbarer Erwartungen an die Organisationsmitglieder. Jede Übernahme einer Aufgabe, jede Zuordnung zu einem Kreis, jede noch so kleine Verschiebung von Zuständigkeiten wird in einer Steuerungssoftware der Organisation für alle sichtbar fixiert. Dies hat einen spannenden Folgeeffekt: Die Hyperformalisierung.

Zuerst entstehen für sämtliche Organisationsmitglieder eine Vielzahl detaillierter Rollenbeschreibungen, die sich zu umfassenden individualisierten Stellenbeschreibungen zusammensetzen lassen. Selbst in holakratischen Kleinstorganisationen mit einem knappen Dutzend Mitarbeitern können so schnell Stellenbeschreibungen von dreißig oder vierzig eng beschriebenen Seiten für jedes einzelne Organisationsmitglied entstehen. Angesichts dieser Explosion der formalen Regeln ähneln die holakratischen Organisationen ihren häufig kritisierten bürokratischen Großorganisationen.

Aber an einem Punkt gibt es einen grundlegenden Unterschied. Während in klassischen bürokratischen Organisationen die Veränderung von formalen Strukturen durch den Neuzuschnitt von Abteilungen oder die Neudefinition von Prozessen häufig ein langwieriger Prozess ist, befinden sich die formalen Strukturen holakratischer Organisationen in einem permanenten Veränderungsprozess. Jedes einzelne Organisationsmitglied kann seine eigenen Rollenbeschreibungen jederzeit – auch ohne Rücksprache mit anderen Angehörigen – an aktuelle Anforderungen anpassen. In jedem Steuerungstreffen eines Kreises können neue Kreise gebildet, neue Rollen definiert oder neue Zuständigkeiten und Rechte bestimmt werden. So entsteht eine formale Ordnung, die sich, anders als in klassischen bürokratischen Organisationen, in einem permanenten Fluss befindet.

Hyperformalisierung: Alle Erwartungen werden erfasst

Die formale Ordnung holakratischer Organisationen wird dadurch geschützt, dass sich Organisationen durch die Unterzeichnung einer fast fünfzigseitigen „Verfassung“, in dem alle Details der Steuerung einer Organisation geregelt sind, auf die holakratischen Prinzipien festlegen. Abgesichert wird dieses Ineinandergreifen der in der Verfassung spezifizierten Elemente durch eine holakratische Steuerungssoftware, über die alle formalen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse einer Organisation abgebildet werden. Zwar können sich Organisation entscheiden, auf den Einsatz dieser Softwarepakete zu verzichten, aber spätestens ab einer Größe von 20 oder dreißig Mitarbeitern wird die Komplexität so groß, dass sich holakratische Organisationen ohne diese technische Unterstützung kaum mehr steuern lassen.

Diese bis ins kleinste Detail gehende Fixierung von Erwartungen an Organisationsmitglieder kann man als Hyperformalisierung bezeichnen. Unter Formalisierung wird in der Organisationswissenschaft der Versuch bezeichnet, Erwartungen festzulegen, die Mitglieder einer Organisation erfüllen müssen, wenn sie Mitglied einer Organisation bleiben wollen. Aufbauend darauf kann die Hyperformalisierung als die Bestrebung definiert werden, jede noch so kleine Erwartung in einer Organisation formal festzulegen.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Organisationen können ohne formale Regeln nicht exististieren

Jede Organisation – und dieser organisationswissenschaftliche Gedanke ist zentral – ist auf ein gewisses Maß an Formalisierung angewiesen. Selbst in Vereinen, Bürgerinitiativen oder Parteien, in denen die meistens Mitglieder nicht nur unbezahlt tätig sind, sondern häufig sogar für ihre Mitgliedschaft bezahlen, gibt es ein Minimum an formalen Erwartungen, die man einhalten muss, um Mitglied der Organisation bleiben zu können. Unternehmen, Verwaltungen oder Krankenhäuser, die in der Regel ihre Organisationsmitglieder bezahlen, sind nur deshalb überhaupt handlungsfähig, weil sie von diesen mithilfe impliziter oder expliziter Hinweise auf die Möglichkeit der Kündigung die Einhaltung formaler Vorschriften erwarten können. Holakratische Organisationen treiben dieses für alle Organisationen bestimmende Konzept der Formalisierung auf die Spitze.

Für Organisationswissenschaftler ist genau diese Form der Hyperformalisierung interessant, weil sich daran wie durch ein Brennglas nicht nur die Funktionen, sondern auch die Folgen der Formalisierung beobachten lassen. Zugegeben: Solche Versuche der Hyperformalisierung hat es in Organisationen immer wieder gegeben. Man denke nur an das Managementkonzept des Taylorismus, in dem angestrebt wurde, eine perfekte Formalstruktur zu etablieren, an das inzwischen weitestgehend vergessene Harzburger Modell, in dem über eine umfangreiche Verfassung und detaillierte Stellenbeschreibungen versucht wurde, Verantwortlichkeiten zu dezentralisieren, oder an das ebenfalls in der Versenkung verschwundene Business Process Reeingineering, in dem Prozesse mithilfe von Steuerungssoftware detailliert durchformalisiert wurden. Bei aller Ähnlichkeit hat allerdings kein Organisationsmodell die Formalisierung so auf die Spitze getrieben wie die Holacracy.

Wenn hier die Bauart und die Effekte holakratischer Organisationen im Mittelpunkt stehen, dann interessiert dieses Modell als Anschauungsfall, um Grundlegendes über Organisationen zu begreifen, die mit den ungewollten Nebenfolgen bei der Ausbildung von Hierarchien und der Ausdifferenzierung von Abteilungen kämpfen. Gerade Managementmodelle, die einzelne Organisationsprinzipien ins Extrem treiben, sind als Anschauungsobjekt hilfreich, um die Funktionen und Folgen von grundlegenden Organisationsideen zu verstehen.

Mit den weiteren Artikeln in dieser Reihe werden wir einzelne dieser Effekte nochmal gesondert in den Blick nehmen.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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