Leitbilder sind en vogue und gehören in Zeiten möglichst großer Sinnstiftung im Beruf zur Grundausstattung moderner Organisationen. Gleichzeitig sind die oftmals in aufwendigen Workshops erarbeiteten und prominent ausgestellten Texte häufig Gegenstand von Kritik. Als zu abstrakt, zu weichgeschliffen und wenig alltagsbezogen werden sie häufig charakterisiert.
Wie kommt es zu diesen Urteilen? Welche Rolle spielen Mitarbeitende in diesem Prozess?
Die Erstellung von Leitbildern gehört zu den Standardmaßnahmen von modernen Organisationen. Sie sollen die Mitarbeitenden auf eine bestimmte Verhaltensweise ausrichten, eine bessere Positionierung gegenüber Mitbewerbern ermöglichen, die Anforderungen von Aufsichtsgremien sowie gesetzliche Vorgaben befriedigen und nicht zuletzt auch die normativen Erwartungen wichtiger Kundengruppen erfüllen. Um die Entwicklung von Leitbildern herum hat sich in den letzten Jahren eine ganze Beratungsindustrie organisiert, die mit immer gleichen Methoden in Organisationen hineingeht, um nach einem mehr oder weniger langen sowie einheitlichen Prozess ein mehr oder weniger stark austauschbares Leitbild auf der Website, dem Eingangsbereich der jeweiligen Organisation oder als gedruckte Broschüre in den Postfächern der Mitarbeitenden hinterlässt.
Dabei sind die Erwartungen, die üblicherweise an Leitbilder gestellt werden, hoch: Sie sollen Visionen konkretisieren, Werte und Normen festlegen, die Beziehung der Organisation zur Außenwelt regeln und den Umgang der Mitarbeitenden untereinander klären. Bei derartig überbordenden Erwartungshaltungen und einer vergleichsweise mechanisierten Erstellungspraxis ist es leicht, Leitbilder als wenig effektive Maßnahmen abzutun, die sich lediglich auf der Schauseite von Organisationen abspielen und nur dazu geeignet seien, die Eitelkeiten von Managern zu erfüllen und eine wachsende Beratungsindustrie am Leben zu erhalten.
Leitbilder als Folge von Steuerungsfantasien?
Doch kann dieses Urteil nicht erklären, wieso sich Unternehmen oftmals obsessiv mit ihren Leitbildern beschäftigen. Wieso stecken sie so viel Zeit, Ressourcen und Energie in die Ausformulierung dieser Ansammlungen von Allgemeinplätzen und austauschbaren Standardsätzen? Diese können oftmals gar nicht unmittelbar praxisrelevant werden, da sie aufgrund der sich zum Teil sogar einander widersprechenden Anforderungen an Leitbilder in der Regel zu abstrakt und „reingewaschen“ daherkommen, um in der Praxis irgendwelche Wirkungen zu entfalten.
Die systemtheoretisch informierte Organisationswissenschaft erklärt dies in erster Linie mit der Komplexität von sozialen Organisationen. Erfahrenen oder zumindest einigermaßen reflektierten Managern sei viel zu bewusst, dass das Leben in Organisationen weitaus ungeregelter, widersprüchlicher und unübersichtlicher sei als man das bei einem bloßen Blick in das QM-Handbuch oder auf das Organigramm einer Organisation – also bei einer Orientierung an der Schauseite oder formalen Seite – annehmen würde. Nach innen zielten Leitbilder daher auf die informale Seite, sollten „gemeinsame Wahrnehmungs- und Denkhorizonte eröffnen“ (Kühl 2017, S. 8) und damit zu einer Übereinstimmung von Schauseite, formaler Seite und informaler Seite führen.
Aus dieser Perspektive ist die Erstellung von Leitbildern in erster Linie ein mit Gestaltungsfantasien assoziierter Versuch der Top-Führungskräfte, die organisatorische Wirklichkeit nach den eigenen Vorstellungen zu formen. Zu dieser Vorstellung passt dann auch das übliche Vorgehen, abgeleitet von einer übergreifenden Vision immer detailliertere Regelungen zu finden und so umfassende Geschäftsführungsideen in die informalen Abläufe einer Organisation einzuschreiben. Dieses Vorgehen ist in der Regel dann auch von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Leitbildforderungen kommen von unten
Blickt man auf die Interaktionsformen innerhalb der Organisationen greift es jedoch zu kurz, die Erstellung von Leitbildern lediglich als einen Ausdruck von Steuerungsfantasien des Managements zu begreifen. Denn im Alltag lässt sich immer wieder beobachten, dass die Forderungen nach einem umfassenden Leitbildentwicklungsprozess nicht von dem Top-Management, sondern von dem mittleren Management oder den Mitarbeitenden erhoben werden. Meistens wird diese Forderung mit der Erwartung verbunden, dass ein solcher Prozess nicht nur die Mitarbeitenden, sondern vor allem auch das Management auf eine einheitliche, konsistente Handlungsweise festlegt. Neben die Vorstellung von Leitbildern als Steuerungselement von oben tritt aus dieser Perspektive der Leitbildprozess als eine Hoffnung auf Steuerungsmöglichkeiten von unten.
Derartige Forderungen kommen selbstredend insbesondere in den wenigen Organisationen vor, die noch kein Leitbild entwickelt und veröffentlicht haben. Aber auch die immer wieder zu beobachtenden Kritiken seitens der Mitarbeitenden an den bestehenden Leitbildern einer Organisation lassen sich aus dieser Perspektive anders lesen: Nicht als zynischen oder resignierten Kommentar auf ein jenseits der Organisationsrealitäten erdachtes Wunschbild, sondern als eine Forderung nach einem konsistenten und einheitlich eingehaltenen Referenzsystem – das freilich auch von der ubiquitären Leitbilddiskussion gespeist wird. Das Vorhandensein eines konsistenten Leitbildes wird dann oftmals als Qualitätsmerkmal und den Schlüssel zur Lösung allerhand interner Schnittstellenproblematiken geframt.
Die Motivationen – und die damit verbundenen praktischen Probleme – der Mitarbeitenden ähneln also denen des Managements. Beide Seiten sind von der unrealistischen Idee geprägt, durch ein mehr oder weniger abstraktes Normensystem die notwendigerweise entstehenden Dilemmata und Paradoxien aus dem Alltag einer Organisation zu vertreiben. Darüber hinaus weist diese Beobachtung aber auch auf einen generellen Handlungszwang des Managements hin: Es kann nämlich nicht, nicht auf die ubiquitäre Leitbilddiskussion reagieren. Das heißt, Leitbildideen müssen in der täglichen Interaktion nicht immer durch das Management lanciert werden. Sie können auch durch die Mitarbeitendenschaft auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Sehenden Auges in die Frustration
Im organisationalen Alltag hat dies im Zweifel weitreichende Folgen: Die Einforderung eines Leitbildentwicklungsprozesses von unten kann so wirkmächtig werden, dass das Management keine andere Wahl hat als einen solchen in Gang zu setzen und damit erst die Enttäuschungen zu produzieren, die im Zusammenhang mit neu entwickelten Leitbildern häufig formuliert werden. Der Verweis auf die begrenzte Wirkmächtigkeit sowie die Ambivalenz entwickelter Leitbilder reicht in der Regel nicht aus, um den Wunsch nach einer Leitbildentwicklung zu entkräften oder zumindest die mit der Entwicklung verbundenen Hoffnungen zu relativieren.
Auf diese Weise wird im schlechtesten Fall auf beiden Seiten Unzufriedenheit produziert. Die Mitarbeitenden werden Zeug*innen eines nicht gut aufgesetzten Leitbildprozesses, an dessen Ende ein Dokument steht, das aufgrund seiner Abstraktheit die Realität des jeweiligen Arbeitgebers nicht adäquat abbildet. Statt – wie erhofft – eine stärkere interne Einheitlichkeit zu schaffen, macht das neue Leitbild ganz im Gegenteil nun erst die internen Fraktionen und Uneindeutigkeiten sichtbar. Diese „Visibilisierungen“ (Armin Nassehi) der Brüche innerhalb des Unternehmens verstärken im schlimmsten Fall auch noch den Eindruck der Mitarbeitenden, das eigene Unternehmen sei aufgrund der Komplexität der Umwelteinflüsse nicht mehr steuerbar.
Das Management wiederum bekommt seinen begrenzten Durchgriff auf das Alltagshandeln sowie den „Eigensinn“ (Alf Lüdtke) der Mitarbeitenden plastisch vor Augen geführt. Im Ergebnis ist der Prozess für diese Personengruppe ebenso unbefriedigend wie für die Mitarbeitenden. Aufgrund des relativ hohen Ressourceneinsatzes für seine Durchführung ist aber ein Abbruch des Prozesses mit einem Gesichtsverlust verbunden, sodass er schließlich bis zum Abschluss durchgezogen wird – und das neue Leitbild direkt nach seiner Veröffentlichung in der sprichwörtlichen Schublade landet.
Was hilft: Kontrollierte Ernüchterung
Doch was macht man nun im Alltag von organisationaler Führung mit dieser Beobachtung? Welche Schlüsse zieht man aus diesen Prozessen? Zum einen gilt es, aus den bisherigen Erfahrungen mit Leitbildprozessen zu lernen und derartige Projekte mit einer gehörigen Portion Entspannung anzugehen. Sich als Führungskraft nicht vom allgegenwärtigen Hype rund um Leitbilder und Sinnstiftung anstecken zu lassen, ist der erste Schritt zu einem reflektierten Umgang mit dem Instrument. Das kann im Zweifel auch bedeuten, sich gegen die Durchführung eines aufwendigen Prozesses zu entscheiden und den Wunsch der Mitarbeitendenschaft nach einem Leitbild anders zu befriedigen oder vorerst wegzumoderieren.
Zum anderen ist es die Aufgabe des Managements, die Vor- und Nachteile eines Leitbildprozesses gegenüber den Mitarbeitenden gut zu kommunizieren und seine begrenzten Wirkungen immer wieder deutlich zu machen, um Enttäuschungen zu vermeiden. Ein reflektiert angegangener und mit begrenzten Erwartungen durchgeführte Leitbildprozess kann dann nämlich durchaus positive Wirkungen entfalten, indem er eben genau das sichtbar macht, was sonst unterhalb der Formal- oder Schauseite einer Organisation verborgen ist: Die Friktionen, Uneindeutigkeiten, Dilemmata und Interessengegensätze, die jede moderne, funktional differenzierte Organisation prägen. Diese sicht- und besprechbar zu machen, ist kein kleiner Verdienst – selbst wenn das fertige Endprodukt in Form von zehn abstrakten Leitsätzen irgendwann in irgendeiner Schublade verstaubt.