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Retention

Mitarbeiter-Bindung im Graubereich

  • Andreas Stammnitz
  • Timothy Nas
  • Donnerstag, 21. September 2023
Employee-Retention Organisationskultur

Was kann man Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch anbieten, wenn formal alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind? Die steigenden Fluktuationsraten bringen HR-Abteilungen ins Grübeln. Dabei haben die meisten Organisationen schon spannende Retention-Programme. Das Problem ist nur: Sie kennen sie nicht. Oder sie sind „brauchbar illegal“. Wie kann man sie dennoch gut einsetzen?

Der junge Unternehmensberater steht kurz davor, seinen anstrengenden Job mit Überstunden und Reisetätigkeit zu kündigen. Er hat Angebote, kann für das gleiche Gehalt entspannter in einer Konzernzentrale einsteigen. Eigentlich hat seine Consulting-Projektleiterin kein gutes Blatt auf der Hand. Dann gelingt ihr aber doch ein Coup: Der Berater arbeitet an seiner Dissertation. Unter der Hand darf er Interviews aus Projekten verwenden, in seiner Arbeitszeit an dem wissenschaftlichen Projekt arbeiten. Ein Graubereich? Selbstverständlich. Aber einer, den die Projektleiterin zum Wohle aller Beteiligten entdeckt und nutzt.

Geschichten wie diese gibt es derzeit zuhauf am Arbeitsmarkt: Gründe, den Job zu wechseln, gibt es überall. Und um Mitarbeitende zum Bleiben zu bewegen, hätte man die mächtigsten Mittel dazu eigentlich in der Formalstruktur. Wenn Mitarbeitende mangelnde Autonomie als Zumutung erleben, kann es zum Beispiel helfen, ihnen mehr Entscheidungsbefugnisse zu geben.

Weil Formalstrukturen aber so schwer zu fassen sind, sieht die Praxis anders aus. Die Zumutungen bleiben bestehen, werden aber durch Gegenleistungen ausgeglichen, oder abgefedert. Dazu gehören etwa attraktive Gehälter (die Mitarbeitende dann zu Formulierungen hinreißen wie „die Hälfte meines Gehalts ist Schmerzensgeld“) oder Privilegien an anderer Stelle, die die Zumutungen wett machen. Diese Ausgleichsbewegungen können formal oder informal entstehen: Bessere Bezahlung ist die typische formale Lösung. Informale Möglichkeiten, Zumutungen auszugleichen gibt es weit mehr – denn sie werden nicht durch die Regeln der Organisation (oder Gesetze) limitiert.

Informale Ausgleichsformen für ein Arbeitsverhältnis voller Zumutungen entstehen entlang der Fragen: Was kann diese Situation angenehmer machen? Was ist innerhalb dieser problematischen Verhältnisse etwas, das Erleichterung bringt, vielleicht sogar angenehmes Arbeiten ermöglicht? Die Soziologie spricht hier von „Motivationsmitteln“, wobei es nicht unbedingt um die Motivation zu besserer Arbeit geht, sondern auch bereits um „Teilnahmemotivation“: Die Motivation, Teil der Organisation zu bleiben. Wir stellen drei solcher informaler Motivationsmittel vor.

1. Formaler Anlass schafft informale Räume: Workation auf der Finca

Für dieses Motivationsmittel kann beispielhaft die Geschichte einer Web-Agentur stehen, die ein ungewöhnliches Winterprogramm anbot: Über die kalten und dunklen Wochen in Januar und Februar wird eine Finca auf Ibiza gemietet, in der die Mitarbeitenden kostenlos wohnen und arbeiten können. Was als Spleen der Geschäftsführung begann, entwickelte sich zur zweiten Adresse der Fima. Formal ist die gemeinsame Zeit dort kaum mit Regeln versehen. Nur im Erleben werden die Unterschiede zum üblichen Arbeitsalltag deutlich:

Das Einhalten der Arbeitszeiten spielt eine geringere Rolle. Statt am Schreibtisch kann der Tag auch gemeinsam mit Joggen beginnen. Wenn man ausgiebig beim Kaffee die Beziehung mit den Kolleginnen und Kollegen vertieft, zählt das ebenso zur Arbeitszeit. Doch was mittags in Geselligkeit zerfranst, kann abends wieder zu Arbeit werden: Wer sich zu früh verabschiedet, verpasst unter Umständen den Moment, wenn beim dritten Wein das Gespräch vom besten Marvel-Film weiter schwenkt zur besten Produktidee – also plötzlich Strategie diskutiert wird.

Der gegebene Raum, dass man einander kennenlernen kann, zieht implizit die Erwartung nach sich, dass man sich auch kennenlernen sollte. Wer nur einen Arbeitsplatz mit mehr Sonne will, aber an gemeinsamem Kochen, Abend­gestaltung, persönlichem Bekanntwerden kein Interesse hat – für den wird ein solches Format kaum ein Motivationsmittel, sondern vielmehr eine weitere Zumutung darstellen.

Teamarbeit

Lasst uns keine Freunde sein

Für die sozial aufgeschlossenen Mitglieder, die nichts gegen das Einbringen ihrer Privatperson am Arbeitsplatz haben, sind die Vorteile offensichtlich. Kollegiale Bande werden geknüpft, entlastende oder gar strategische Cliquen können sich bilden, und wenn die Dinge stressig werden, malt man einander Visionen der kommenden Neujahrsfeier in der Finca. Dieser Mechanismus dient am Ende auch der Organisation: Die Aussicht auf informale, gemeinsame Erlebnisse machen Zumutungen erträglich.

2. Führungskräfte ermöglichen das Unmögliche: Krank ohne Schein

Wenn das Team nach dem großen Projektabschluss den Freitag aufschreiben, aber nicht zur Arbeit erscheinen soll. Wenn Maßgaben des öffentlichen Dienstes oder Tariflöhne keine höhere Bezahlung möglich machen – aber ein konkurrenz­fähiges Angebot gemacht werden muss, da sonst die wertvollen Mitarbeitenden die Branche wechseln werden. Oder wenn im Logistikzentrum die ungeliebte Schicht keine Besetzung findet – es sei denn, man erlaubt den Eintrag der Doppelschicht zum Preis von anderthalb geleisteten.

Würden solche Fälle offen besprochen werden, hätten die jeweiligen Vorgesetzten mit Problemen zu rechnen. Formal kann die Organisation solche Abweichungen nicht zulassen, schließlich wird sie um Arbeitsleistung betrogen. Faktisch sind es solche Abstimmungen, die eine besondere Beziehung knüpfen. Eine Teamleitung, die mehr möglich macht, als sie muss – oder gar darf –, verdient sich den Respekt ihrer Mannschaft.

Doch damit eine besondere Beziehung entsteht, muss auch die ermöglichte Sonderleistung besonders bleiben. Wenn informale Zugeständnisse zur Regel werden, erodieren die dazugehörigen Normen. Dann ist der freie Tag nicht mehr Teil des Retention-Programms: Er wird zur Selbstverständlichkeit. Egal wie außergewöhnlich eine Sache einmal war – wenn man sie oft genug erlebt, wird sie zur Normalität.

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Hier ist also ein feines Gefühl gefragt, wie die Privilegien angeboten werden, damit sie ihren Zweck erfüllen, aber unter dem formalen Radar der Organisation bleiben und sich keine Eigendynamik entwickelt, die die Führungskraft nicht mehr einhegen kann.

3. Die individuellen kleinen Benefits: Wer weg sieht, muss kein Auge zudrücken

Man kennt diese Zuwendungen aus dem Handwerk oder der Lebensmittel­industrie: Wer am Band steht und Süßigkeiten verpackt, darf auch für sich oder die Familie mal etwas mitnehmen. Und wenn beim Garten-Landschaftsbauer nur noch dreißig Quadratmeter der hellen Terrassenfliesen vorrätig sind – dann macht es doch Sinn, diesen Palettenplatz freigeben zu können. Mit einer Mischung aus Faszination und Frösteln wird auf erfahrene Vertriebler geschaut; für ihre findigen Wege, Dienstwagennutzungen, Bonusmeilen, Hotelrechnungen und Abendessen entweder als Teil des Geschäfts darzustellen, (wenn die Firma zahlen soll) oder für sich selbst in Anspruch zu nehmen (wenn es etwas gratis gibt).

Neben direkten finanziellen oder materiellen Werten gibt es viele Umnutzungen von Zeit: Wenn Arbeitszeit eingesetzt wird für Projekte, die eher indirekt aufs Geschäft oder den Zweck der Organisation einzahlen. In ländlichen Regionen gehört Ehrenamt besonders dazu, auch aus Gründen des Unternehmens-Image. Wer will schon das Dorf über sich sagen hören, man verböte den Mitarbeitenden die Teilnahme an Einsätzen der Freiwilligen Feuerwehr? Doch auch die Teilnahme an Sport- und Kulturveranstaltungen, das Vermischen von Arbeit und akade­mischer Forschung, sind individuelle Formen von Zuwendungen, die dem jeweiligen Mitglied zeigen: Diese Organisation lässt mir Raum als Person, den sie mir nicht unbedingt lassen müsste. Zum Ausgleich ertrage ich vielleicht auch einige der Zumutungen, die mich eigentlich sehr nerven.

Was informal entsteht, kann nie Teil des Formalen werden

Alle drei Sorten Motivationsmittel haben gemein, dass sie dazu geeignet sind, die profitierenden Mitglieder in der Organisation zu halten. Sie sind jedoch aufgrund ihres informalen Charakters nicht generalisierbar.

Was für ein Team erfolgreich als Retention-Programm zum Einsatz kommt, kann höchstens zwischen den Teamleitungen, in einem „Nichtgespräch“, weiter­empfohlen werden. Was sich informal als Ordnung einspielt, kann nie formal besprochen werden, ohne dass entweder die formale Regel oder die informale Ordnung in sich zusammenfällt.

Diese Lücken in der Formalität, dieses Finden von kreativen, aber brauchbaren Lösungen für ein formal nicht lösbares Problem, wird von Mitarbeitenden honoriert. Für die Organisationsgestaltung kommt es darauf an, die Balance zu finden: Wird es zu offensichtlich, dass der Bruch mit den formalen Regeln konsequenzlos bleibt, kommt es zum Wildwuchs der Informalität. Dann lassen sich die Abläufe nicht mehr kontrollieren. Agiert die Organisation hingegen zu invasiv, sehen sich die Führungskräfte in ihren Einflussmitteln beschnitten und die Mitglieder fragen sich ernsthafter, ob das Gras an anderer Stelle nicht grüner erscheint.

Zwischen diesen beiden, extrem schwer zu identifizierenden Grenzen liegt der Korridor, in dem die Organisation die Zugeständnisse an ihre Mitglieder erträgt und gleichermaßen die Mitglieder bereit sind, die Zumutung der Organisation weiter zu ertragen. Als Organisationsgestalter ist es eine lohnende Aufgabe, diesen Korridor zu finden. Der zu Anfang erwähnte Unternehmensberater schloss seine Dissertation “Summa cum laude“ ab – und blieb. Im Sinne der Organisation hätte seine Projektleiterin wohl die gleiche Auszeichnung verdient.

Autoren
Andreas Stammnitz

Andreas Stammnitz

berät Unternehmen und Institutionen beim Strategieprozess, bei der Organisation von Wachstum und bei der Positionierung ihrer Produkte im Markt.

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Timothy Nas

interessiert sich für die Einführung neuer Formal­strukturen und deren Auswirkungen auf Organisationen.

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