„Ceci n’est pas une pipe.“
Die Frage „Ist das Kunst oder kann das weg?“ kam ja erst mit Ready-mades wie Duchamps Urinal Fountain und dann mit Joseph Beuys auf. Bis dahin pflegte sich Kunst ohne große Reflektion als Kunst zu zeigen. Gemalte Heuschober von Monet oder van Gogh waren mit wirklichen Heuschobern nicht zu verwechseln. Michelangelos David nicht mit David. Duchamp et alia allerdings führten in einer Bewegung ironischer Selbstreflexion der Kunst vor, dass Kunst als Kunst gesetzt, ja: gemacht wird – und dass kontingent ist, was dazu gemacht wird. (Das war doch eigentlich immer klar? Michelangelos David sieht ganz anders aus als der Lucas Cranachs des Älteren.)
Magritte mit seinem Bild der Pfeife, die keine Pfeife ist, macht sich darüber lustig, dass man diese Selbstverständlichkeit immer noch eigens aussprechen muss. Auch Monet und van Gogh aber laden zu einer Reflexion auf das näher besehen figelinsche Verhältnisse zwischen Bild und Gegenstand, Darstellungs- und Wahrnehmungsweise ein. Bilder, die wir der Kunst zurechnen, machten seit Langem keinen Hehl daraus, dass diese Verhältnisse ziemlich vertrackt sind.
Anders dagegen wissenschaftliche Bilder, sagt Bettina Heinz in einem für das Thema „Datenbasierte Organisation“ sehr einschlägigen Sammelband, „Zahlenwerk. Kalkulation, Organisation und Gesellschaft“ (Wiesbaden 2007, Hg. Andrea Mennicken und Hendrik Vollmer, S. 78). Sie thematisierten nicht das Bildhafte des Bildes. Sie ebneten die Differenz zwischen Bild und Realität insofern ein, als sie die eigene Visualität gewissermaßen unterschlügen. Sie unterschlügen ihre Kontingenz – den Umstand, dass die Landkarte auch ganz anders aussehen könnte und jedenfalls nicht die Landschaft ist. Dass das in der Wissenschaft immer unterschlagen wird, ist wohl übertrieben, und nun erst recht, wenn es nicht auf visuelle Bilder beschränkt, sondern – metaphorisch – auf die Menschen- und Weltbilder bezogen wird, die von der Wissenschaft entworfen werden. Karl Weick etwa, siehe unten, verfällt nicht dieser Kritik. Es trifft aber ganz gut die Naivität solcher Rezipienten, wie sie Magritte mit seinem Spott im Auge hatte.
Übertragen wir nun diese Verwicklungen zwischen Darstellung und Wahrnehmung auf Leute, die sagen: „Wir müssen uns erstmal ein genaues Bild machen“ und damit meinen: ein Bild aus Daten und Zahlen.
Das ist ja nicht falsch, aber die Gefahr ist groß, dass dabei unterschlagen wird, dass es da einen zirkulären, rekursiven Zusammenhang gibt. Der Satz „Entscheidungen basieren auf Daten“ muss leider durch den Satz ergänzt werden: „Daten basieren auf Entscheidungen“. Man muss über Selektions-, Erhebungs- und Messverfahren entscheiden, die erst jene Daten liefern, auf die sodann Entscheidungen gestützt werden sollen. Ob das im Ergebnis zu guten Entscheidungen führt, ist schwer zu beurteilen, und, um die Verwicklungen noch weiterzutreiben: Diese Beurteilung muss sich ihrerseits auf Daten stützen, etwa Performance-Messungen, für die wiederum gilt … – siehe oben.
Wenn Sie jetzt das Gefühl haben, einem Kreiselwahnsinn und Schwindel ausgesetzt zu werden, von dem Sie nicht wissen, ist es Ihr eigener oder der des Autors dieser Zeilen oder gar der einer verrückten Realität, habe ich zwei schlechte und eine gute Nachricht. Die schlechte, erstens: Tja, das ist selbst eine verwickelte Angelegenheit des Zusammenhangs zwischen datenbasierter Darstellung und Wahrnehmung, und, noch verwickelter, sogar des Zusammenhangs zwischen meiner (kaum datenbasierten) Darstellung hier und Ihrer Wahrnehmung meiner Darstellung. Die schlechte, zweitens: Die soziale Wirklichkeit ist tatsächlich ein bisschen verrückt, nämlich von lauter Kreiseln durchsetzt. Wir glauben an Geld, weil es Geld gibt, aber das gibt es nur, weil wir irgendetwas, daran glaubend, dazu machen.
Nicht so schlimm? Okay. Aber nehmen wir dies: Wir glauben an Außenseiter, weil es sie gibt, aber es gibt sie nur, weil wir sie, daran glaubend, dazu machen. Nun braucht man nur Sklaven, Frauen, Ausländer, Juden, Muslime oder auch Christen, Schwule und andere potentielle Diskriminierungsopfer, daran glaubend, zu Außenseitern zu erklären und sie als solche zu behandeln, dann werden sie Außenseiter. Wir machen sie dazu – und unterschlagen dann die Kontingenz dieses unseres Machwerks.
Solche Drehungen des Kreisels ereignen sich auch in Organisationen. Die Leute glauben an die Autorität der je höheren Hierarchieebene, weil es sie gibt, aber es gibt sie, weil die Leute daran glauben und sich, daran glaubend, ihr fügen. (Chester Barnard hat sogar „Fiktion“ dazu gesagt, „fiction of superior authority“; und ja, es gibt für hierarchische Verhältnisse auch noch andere Gründe.) Sie glauben an die Zuverlässigkeit von Effizienzmessungen, weil ihre Resultate „für sich sprechen“, aber sie „sprechen“ so nur, weil wir an jene Zuverlässigkeit glauben, und dann zählt tatsächlich als effiziente Leistung, was bei der Messung gut abschneidet. Sie glauben an gute Begründungen ihrer Entscheidungen, die es aber nur gibt – und die tatsächlich als solche funktionieren –, weil die Leute daran glauben und ihren Glauben, à la Luhmann, im Wege der Selbstverstärkung des Wahrscheinlichen vor Zweifeln bewahren. Gute Gründe werden fingiert, aus wenig Wahrscheinlichem wird Wahrscheinliches gemacht, und so fort. (Ich komme demnächst darauf zurück.)
Bei Karl Weick, in Der Prozeß des Organisierens (1985, S. 356) liest sich das so: „Deshalb kann eine Organisation, die von Zweifeln lebt, die Dinge, die sie bezweifelt, routinemäßig als gewiß behandeln“. Sie kann routinemäßig darauf setzen, was Key Performance Indicators tatsächlich oder angeblich indizieren. Man könnte das noch schärfer zuspitzen: Wir alle müssen so – in einem gewissen Maße – mit unseren Zweifeln umgehen, und Organisationen müssen es erst recht. (In der Kolumne „Entscheidungsstärke“ habe ich ja schon einmal Brechts Buch der Wandlungen zitiert: „Gefragt, was denn dem Zweifel eine Grenze setze, sagte Do: Der Wunsch zu handeln.“)
In dem Weick-Zitat zeichnet sich schon die gute Nachricht ab: Solche Kreisel der Selbstbegründung sind sind keineswegs per se von Übel. Sie sind vielmehr die Form, in welcher der Stoff namens ‚soziale, institutionelle Tatsachen‘ gewebt wird. Eltern erzeugen die Zurechnungsfähigkeit ihrer Kinder, indem sie die lieben Kleinen von Anfang an als potentiell zurechnungsfähig behandeln. Mehr noch, wir alle erzeugen unser aller Zurechnungsfähigkeit auf die gleiche Weise – indem wir einander als zurechnungsfähig behandeln und so anerkennen. Anerkennung erzeugt Zurechnungsfähigkeit, aber nur Zurechnungsfähige sind zu Anerkennung fähig. Was nach einem Denkfehler aussieht, ist Sache der Praxis, Sache rekursiver Konstitution, der Zirkel wird zur Wendel auf einer Zeitachse.
Was eine gute Organisation ist – was als gute Organisation gilt –, diese Eigenschaft erzeugen wir auf eben jene zirkuläre Art und Weise und schaffen so Tatsachen, wenn auch keine vollendeten: die Schlankheit, Agilität, Responsivität, Flexibilität, Verantwortlichkeit e tutti quanti der Organisation. Ordnung, saubere Arbeit, Erfüllung des Arbeitsvertrags, standard operating procedures, Effizienz, um weitere Beispiele anzuführen, all‘ das wird durch performative Sprechakte (zu denen auch jenes Handeln gehört, mittels dessen wir Taten sprechen lassen) hervorgebracht. Seit John Austin und sodann John Searle heißt ‚performativ’ eben: Wir tun Dinge mit Worten, indem wir, sprechend, und sei es durch Taten sprechend, etwas als etwas setzen und es so hervorbringen, ein Stück Metall tatsächlich als Geld, einen Kerl als Abteilungsleiter, eine Frau als EZB-Chefin, eine Organisation als agil, responsiv, verantwortungsvoll etc.
Und nun auch: eine Organisation oder organisationale Entscheidungen als datenbasiert. Wenn wir das tun, entwerfen wir, zumindest implizit, was Weick (ebd., S. 125 f) eine Ursachenlandkarte genannt hat. „Richtige“ Daten sind darin die Ursache – eben die Basis – für gute Entscheidungen. Und wieder gilt: Muss ja nicht falsch sein, aber: Es unterschlägt die rekursive, zirkuläre, selbstbezügliche Konstitution und deren Kontingenz (rekursiv, zirkulär, selbstreferentiell, weil die sozialen Tatsachen jenes Handeln bestimmen, das diese Tatsachen selbst hervorgebracht hat). Wie groß die Bandbreite solcher Kontingenz ist, das hat Weick (ebd.) ausbuchstabiert: Die Kausalrichtung könnte umgedreht werden (Achtung, Kreiselwahnsinn?), die beiden Variablen, Daten und Entscheidungsqualität, könnten entkoppelt sein, die Kopplung kann gelockert werden, die schöne Wirkung der Ursprungsvariable, Daten, mag durch einen anderen Pfad aufgehoben werden, etwa durch Aversionen wider datenfixiertes Management, und so fort. Weick selbst führt neun solcher Anfechtungen von Ursachenlandkarten an und fährt fort: „Der Leser kann dieser Liste weitere Veränderungen hinzufügen“. (Ebd., 126)Das können Sie auch. Machen Sie mal die Probe auf’s Exempel. Meine „weitere Veränderung“ ist ganz im Sinne Weicks: Ursache und Wirkung können zirkulär ineinander verschlungen sein.
Die respektiven Veränderungen aber etablieren unabweisbar die Einsicht in die Kontingenz der Karte, eine Einsicht, die aber im Prozess des Entscheidens latent gehalten, schärfer gesagt: unterschlagen werden muss. Und sie schärfen das Bewusstsein für das Diktum: „Die Karte ist nicht das Gelände.“ Auch diese Einsicht allerdings gerät ins Taumeln und Kreiseln, und das war Karl Weick ganz klar: „Wenn eine Organisation eine Ursachenkarte produziert und sie künftigen Geschehnissen auferlegt, dann schafft sie tatsächlich das Gelände, das sie bewohnt.“ (Ebd., S. 356) Es gilt dann und insofern: „Die Karte ist das Gelände.“ Trotzdem bleibt es bei ihrer Kontingenz – der Kontingenz ihrer sozialen Konstruktion via Performativität sensu Austin und Searle – und bei der Differenz zum Kartierten.
Setzen wir nun an die Stelle der Landkarten- die Bildmetapher (was insofern schon wieder schwindelerregend ist, als Metaphern ja selbst bildhaft sind, die Bildmetapher als Metapher für die Landkartenmetapher also Bild eines Bildes eines Bildes ist). Dann wird klar, dass das Bild der datenbasierten und deshalb wohlfundierten Organisation seine eigene Kontingenz latent halten muss. Es unterschlägt die Selbstverständlichkeit, dass die Karte nicht das Gelände, das Bild des Heuschobers nicht der Heuschober ist. Es ist wie bei Magritte. „Ceci n’est pas une pipe.“