Mit guten oder gar perfekten Begründungen hapert es regelmäßig, wenn Entscheidungsprobleme schwierig und wichtig sind, und genau dann sind Entscheidung und Urteilskraft gefragt. (Wenn Begründungen auf der Hand liegen und/oder zwingend sind, handelt es sich nicht um ein Entscheidungsproblem, sondern um eine Rechenaufgabe oder die Ausführung eines Programms.)
Das nährt den Mythos der heroischen Entscheidung, aus dem Führungskräfte aller Art reichen Legitimationsgewinn schlagen – Rechtfertigungen für hohe Managergehälter, Statusprivilegien, Dispositionsmacht.
Aber: „Organisationen sind,“ sagt der Autor der wohl raffiniertesten Organisationstheorie überhaupt, Niklas Luhmann, „soziale Systeme, die sich erlauben, menschliches Verhalten so zu behandeln, als ob es ein Entscheiden wäre. Die soziale Realität des Entscheidens in Organisationen wird somit als eine bloße Annahme oder Unterstellung oder Suggestion der am System Beteiligten aufgefaßt.“
Ein Mindestmaß an Deckung durch die Realität müsse zwar vorliegen.
„Aber die Realität der Organisation läßt sich nicht als Summierung dieser Fakten begreifen, sondern sie ergibt sich erst aus eigenständig-selektiven Prozessen des Ignorierens, Vergessens, selektiven Wahrnehmens und Überschätzens“ –
aus Raffungen und Verkürzungen einerseits, fingierenden, lückenfüllenden Ergänzungen der zugrundeliegenden Realität andererseits. Das ist nicht auf Organisationen beschränkt. Wenn François Mitterand schwieg oder Helmut Kohl Probleme aussaß, pflegte die lückenfüllende Unterstellung strategischer Entschiedenheit grandiose Ausmaße anzunehmen. Was vielleicht Ratlosigkeit oder Risikoscheu war, geriet den anderen am System Beteiligten zu strategischer Weisheit. In Organisationen, die für Luhmann aus Entscheidungen geradezu bestehen, grassiert diese Art Entscheidungswahn heftiger als anderswo.
„Will man die pathologische Seite dieses Vorgangs betonen, könnte man Organisationen charakterisieren als soziale Systeme, die von der Dezisitis, von der Entscheidungskrankheit befallen sind, und man könnte analog zur Seuchenforschung die Formen und Wege der Verbreitung dieser Infektion untersuchen.“
Man kann nachgerade von einem Als Ob des Entscheidens sprechen, gespeist durch Mystifikationen und Heroisierungen sei es der Entscheidungsträger – die Sphinx Mitterand, Jack Welch, Ferdinand Piëch –, sei es der Beratungs- und Entscheidungskonzepte. Betriebswirtschaftliche Verfahren der Wirtschaftlichkeitsrechnung, der Kosten-Nutzen-Analyse, der Investitionsrechnung e tutti quanti erfüllen auch dabei eine Funktion. Das darin verborgene So-tun-als-ob, versteht sich, ist im Normalfall nicht dasselbe wie Vortäuschen (obwohl auch das vorkommt, wie uns die Finanzmanipulateure und Bilanzakrobaten in den letzten Jahre nachdrücklich in Erinnerung gebracht haben). Es gleicht nicht per se der Fiktion des Lügners oder des bullshitters. Es handelt sich vielmehr um ein enactment im Sinne Karl Weicks, um ein In-Geltung- oder In-Kraft-Setzen. In Kraft gesetzt wird die Geltung von Ursache-Wirkungs-Ketten: Dies war – zählt als – die Wirkung (der Gewinn/der Verlust), das die Ursache (der Verantwortliche, der Kostenträger).
Die Differenz zu bloßer Fabrikation oder schierer Show-Fiktion ist, erstens, dass dieses enactment in seiner Funktion, unser soziales Leben zu regulieren, akzeptiert sein muss, und zweitens, dass es sich innerhalb und im Dienste unserer sozialen Praxis bewähren muss. Die Herren Entscheider müssen als Herren und als Entscheider akzeptiert sein, und ihre Entscheidungen – oder ihre Unentschlossenheit – dürfen eine Obergrenze der Unvernunft nicht übersteigen.
Luhmanns Bild von Organisationen zeigt deren Wahrheit so, wie eine Karikatur es tut: Wohlbegründete Entscheidungen mögen unmöglich sein, aber das macht nichts. Suggestionen, Unterstellungen, Fiktionen füllen die Lücke.
Und die Managergehälter? Enthalten Entgeltanteile für die Produktion von Akzeptanz mit Hilfe zwingender Gründe, die zu kreieren hohe Kunst ist.