Vom Pathos der Entscheidung ist es nur ein kleiner Schritt zur Verherrlichung charismatischer Führer, auch, wie an Martin Heidegger und Carl Schmitt zu studieren ist, des Führers, den Heidegger übrigens noch selbst geistig führen wollte. Davor, zum Glück, ist Luhmann mit seinem kühlem Eulenblick gefeit. Tatsächlich ist es ein erheiternder, befreiender, ein durch Erheiterung befreiender Gedanke, sich jene starken Männer als Zauderer vorzustellen, die ihr Zaudern hinter entschlossenen Mienen oder rätselhaftem Schweigen nur mühsam verbergen, und die jede Gelegenheit nutzen, im Nachhinein Entscheidungen zu fingieren, wo eine Leere war – vielleicht nach dem Muster, das der Ethnomethodologe Harold Garfinkel so beschrieben hat:
„Anstelle der Ansicht, dass Entscheidungen so getroffen werden, wie es die Umstände erfordern, muß in Betracht gezogen werden, […] dass die Person die getroffenen Entscheidungen erst im nachhinein definiert. Das Ergebnis kommt vor der Entscheidung. […] Die Entscheidungsregeln im Alltagsleben könnten sich in viel stärkerem Maße mit dem Problem beschäftigen, den Ergebnissen ihre legitime Geschichte zuzuschreiben, als mit dem Problem, vor dem tatsächlichen Anlaß zur Wahl zu entscheiden.“
Und nun erst recht in großen Organisationen, wo das Topmanagement meist nurmehr exekutieren kann, was die große Gruppe der Träger spezialisierten Wissens bis hinunter zu den Arbeitern längst präjudiziert hat; und wo, in den Worten Karl Weicks, ein großer Teil der Aktivitäten der Beteiligten „darin besteht, im nachhinein plausible Geschichten zu rekonstruieren, um zu erklären, wo sie gerade stehen, selbst wenn keine derartige Geschichte sie genau an diese Stelle gebracht hat“!
Das sind narrative Ursachen-Landkarten, Legenden, deren Funktion es ist, die Vernunft vergangener Entscheidungen zu beschwören, und die Weitsicht der Entscheider.
Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen.