Im Jahre 2005 erschien in der Princeton University Press ein kleines Buch, dessen Titel, On Bullshit, nicht unbedingt die Erwartung begründet, sein Autor, Harry G. Frankfurt, werde sich darin seinem Gegenstand mit jener Ernsthaftigkeit nähern, die man in dieser Umgebung – Princeton! – und von diesem berühmten Philosophen erwarten würde. Nichts anderes jedoch tut Frankfurt, und der grimmige, extrem trockene Witz des Büchleins liegt in der eisernen Abstinenz gegenüber der Versuchung, mit dem Text den Schabernack zu treiben, den der Gegenstand nahelegt. Was Frankfurt stattdessen vorlegt, ist eine ganz ernsthafte Antwort auf die ganz ernsthafte Frage: Was meinen wir, wenn wir etwas bullshit nennen?
Man mag vorläufig an Humbug denken, an heiße Luft, an Quatsch, Blödsinn, Bockmist, aber im Englischen oder eher noch im Amerikanischen führt das Wort auch die Konnotation des Prätentiösen mit, des Gespreizten und des Bluffs. Bei Eric Ambler zum Beispiel, in Dirty Story, rät ein Vater seinem Sohn: „Never tell a lie when you can bullshit your way through.“ Niemals lügen, wenn du mit prätentiösem Mist durchkommen kannst.
„Eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Kultur“, so beginnt Frankfurt in wohlbekanntem Gestus unbestreitbarer Wichtigkeit seinen Beitrag, „ist, daß es so viel bullshit gibt.“
Inmitten einer außerordentlich subtilen Erörterung zahlreicher Probleme (zum Beispiel: ist es nicht vergebliche Liebesmüh, die Bedeutung des Wortes zu erhärten, wenn doch das Phänomen ersichtlich weich und amorph ist?) stößt Frankfurt auf folgende diffizile Frage: Wenn der bullshitter im Unterschied zum Lügner, der ja die Wahrheit verfälscht und insofern der Unterscheidung ‚wahr/falsch’ verpflichtet bleibt, jedwede Verbindung zu dieser Unterscheidung gekappt hat; wenn er also der Frage, wie die Dinge wirklich liegen, mit herzlicher Gleichgültigkeit begegnet, weil er einfach nur mit seinem bullshit durchkommen will: ist er dann nicht nur ein gedankenloser Pfuscher? Korrektheit im Umgang mit der Wahrheit jedenfalls braucht seine Sache nicht zu sein, nicht einmal die seitenverkehrte, welche selbst der Lügner noch wahren muss. Ist sein Produkt dann nicht notwendigerweise unsauber und plump?
„Das Wort shit suggeriert das natürlich. Ein Exkrement ist nicht entworfen oder überhaupt gekonnt hergestellt, es wird einfach ausgeschieden oder fallengelassen. Es mag eine mehr oder minder kohärente Gestalt annehmen oder auch nicht, aber es ist sicherlich in keinem Falle gestaltet.“
Sorgfältig gestalteter Mist, das klingt allerdings nach einem, wie die Philosophen sagen, hölzernen Eisen. Und doch – ganz aus der Welt ist das Phänomen nicht. Das findet auch Harry Frankfurt:
„Die Felder der Werbung und der Public Relations und das heutzutage nahe verwandte Gebiet der Politik sind voll von so lupenreinen Beispielen für bullshit, daß sie als unstrittigste und klassische Paradigmen des Begriffs dienen können. Und auf diesen Gebieten sind exquisite Könner tätig, die sich – mit Hilfe avancierter, anspruchsvoller Techniken der Marktforschung, der Meinungsumfragen, psychologischer Tests und so fort – der Aufgabe widmen, jedes Wort und jedes Bild, das sie produzieren, genau auf den Punkt zu bringen.“
Insofern ist, was sie produzieren, am Ende doch „carefully crafted bullshit“. Allerdings, so sorgfältig und bewusst der bullshitter auch vorgeht, es bleibt doch eine Ungenauigkeit, eine Laxheit, die er zu verbergen und mit der er davonzukommen versucht. Frankfurt macht sie, und damit die Essenz des bullshit, in der Indifferenz gegenüber der Wahrheit aus. Wer lügt und wer die Wahrheit sagt, spiele sozusagen innerhalb desselben Spiels (wenn auch auf entgegengesetzten Seiten). Der bullshitter nicht. Er weise nicht, wie der Lügner, die Autorität der Wahrheit zurück. Er ignoriere sie (und ist insofern ihr größerer Feind). Unser Ärger über den bullshitter gelte nicht der Lüge, sondern der Gleichgültigkeit gegenüber der Unterscheidung von wahr und falsch. Indes: Zweierlei trachtet der bullshitter vor uns zu verbergen (wenn er es überhaupt selbst merkt): dass es bullshit ist, was er produziert, und: was er dabei im Schilde führt; näherhin, dass er vorhat, unsere Bindungen an die Wahrheit und an eine genaue Sicht der Dinge zu lösen, ohne direkt zu lügen. Der performative Effekt des bullshitting ist es, den Klugscheißer klug erscheinen zu lassen. Auch er hat also, das kommt bei Frankfurt nicht deutlich genug heraus, nicht alle Brücken zur Wahrheit abgebrochen. Denn er präsentiert bullshit ja als Wahrheit. Die Essenz des bullshit ist nicht die Indifferenz gegenüber der Wahrheit, sondern die Mischung aus Indifferenz und Prätention; nicht das leere Gerede, sondern das leere, aber prätentiöse Gerede.
Der Frage, was das alles mit der Kunst des Entscheidens zu tun hat, kommen wir näher, wenn wir mit Harry G. Frankfurt die Frage stellen, die sich nun aufdrängt: „Why is there so much bullshit?“
Antwort:
„Bullshit ist immer dann unvermeidlich, wenn die Umstände es erfordern zu reden, ohne zu wissen worüber.“
Das sei in der Demokratie, im Parlament, überhaupt im öffentlichen Leben häufig der Fall. Da seien oder fühlten sich die Leute oft genötigt, ausführlich über Dinge zu sprechen, von denen sie nicht genug verstehen. Ein gewisses Maß an Ignoranz aber, und damit kommen wir zum Thema ‚Entscheidung’, kann auch der Entscheider nicht vermeiden, weil und insofern er unter Unsicherheit entscheiden muss und mit perfekten Begründungen, perfekten Brücken über die Kluft der Kontingenz nicht dienen kann.
Gesetzt nun, dass er diesen Rest, diesen Riss, diese Lücke nicht offenbaren kann, sondern verbergen muss, weil anders Motivation und Commitment derer, die ihm folgen sollen, nicht zu erwarten sind: Dann könnte er zum Mittel der Lüge greifen. So aber wird es nicht gemacht. Die Antragsprosa für Budget- und Projektanträge folgt ebenso wie die Bewilligungs- und Begründungslyrik, mit der Entscheidungen gerechtfertigt werden, eisern der Devise: „Never tell a lie when you can bullshit your way through.“
Bullshit ist, so gesehen, Nebenprodukt der Kontingenz – unvermeidlich, wenn Entscheidungen, kontingent, wie sie sind, als zwingend begründet werden müssen. Auch das Management ist daher ein Feld, auf dem exquisite Könner als Produzenten am Werk sind.
Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen.