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Bürde des Entscheidens

Russels Teekanne

  • Günther Ortmann
  • Donnerstag, 14. November 2024

In Organisationen wird so Manches behauptet, zum Beispiel, dass die „oben“ getroffene Entscheidung, die eben verabschiedete Strategie, das morgen zu startende Reformvorhaben wohlbegründet und gar alternativlos sei.  

Auch von Organisationen wird so Manches behauptet, zum Beispiel, dass geheime Mächte den „Großen Austausch“ betrieben, was ein Codewort für „jüdische Weltverschwörung“ ist.  

In Der Schneider von Panama von John le Carré, inspiriert von Graham Greenes Unser Mann in Havanna (und übrigens von der ganz realen Panama-Invasion der USA mit dem schönen Namen Operation Just Cause 1989), sucht der Secret Service nach einem Vorwand für eine „Intervention“. Gut geeignet ist die Behauptung und der Glaube, in Panama treibe eine „Stille Opposition“ ihr Unwesen, die es zu bekämpfen gelte.

Eine Regierung behauptet, dass die zu rettende Bank (oder auch jene Werft an der Ems, die Luxusschiffe baut) systemrelevant sei.  

Das Schöne an einer geheimen Weltverschwörung ist, dass sie so geheim ist. Das Schöne an Panamas Stiller Opposition ist, dass sie still ist. Beides legt nahe, dass „man“ sie beide nicht (leicht) sehen beziehungsweise hören kann. Daran scheint der Einwand abzuperlen, es gebe so etwas gar nicht.  Ist nicht die Stille der Stillen Opposition vielmehr ein Beweis für ihre Existenz? Daran zeigt sich doch, dass sie etwas zu verbergen haben, und wer etwas zu verbergen hat, der existiert ja wohl?

Das Schöne an Systemrelevanz ist, dass die Probe auf’s Exempel nie gemacht werden kann, wenn der Glaube nur fest genug ist.  

Bedenken Sie nun die Parallele zu alternativlosen Entscheidungen. Alternativen können, und das ist praktisch, nicht erwogen, jedenfalls nicht realisiert werden, denn sie sind ja alternativlos. Praktisch? Nun, wie Nils Brunssons Analysen organisatorischer Entscheidungsprozesse gezeigt haben, ist eine Mehrzahl von Alternativen ziemlich hinderlich, weil sie Zweifel an der einen, der gewünschten weckt und daher die Motivation derer beeinträchtigt, die nun zur Tat schreiten sollen. Besonders schön ist es, wenn eine Organisation die Bezeichnung ‚Alternative‘ im Namen trägt und damit eine alternativlose Alternative meint. 

Alternativlosigkeit, geheime Mächte, Stille Opposition und Systemrelevanz – wer derlei behauptet, betreibt, was ein anderer berühmter Organisationsforscher, William Starbuck, einmal, im Titel eines Beitrags aus dem Jahre 1982, so genannt hat: „Inventing ideologies to justify acting ideologies out“. Zur Tat schreiten – „acting ideologies out“ –, das heißt in diesen Fällen: getreuliche Ausführung der Entscheidung, Bekämpfung der Demokratie, Intervention in Panama respektive Rettung der Bank/der Werft.  

Um die Sache auf eine noch höhere Ebene zu heben: Die Schönheit der Behauptung freiwilliger Arbeitslosigkeit liegt darin, dass sie Unterbeschäftigung zur Sache freier Entscheidung individueller Akteure und, ergänzend, der zu großen Macht der Gewerkschaften erklärt. Intervention: Gegen „zu hohe Löhne“ und Gewerkschaftsmacht wettern. Das Schöne ist: Immer sind die Löhne dann „zu hoch“ und die Gewerkschaften „zu mächtig“.

Noch allgemeiner: Dass wir nicht in der besten aller möglichen Welten leben, liegt, heißt es, an denen, die nicht an die Naturwüchsigkeit ökonomischer Gesetze und nicht daran glauben, dass der Markt, wenn man ihn nur lasse, „es“ schon richten werde. Zur Tat schreiten, das heißt dann: für Deregulation, gegen Verbotsparteien und gegen Gewerkschaften kämpfen. (À propos Verbotspartei: Was ist stärker durch Verbote geschützt als jenes Privateigentum, das den heftigsten Kritikern von Verbotsparteien am meisten am Herzen liegt, um nicht zu sagen: heilig ist?) 

Marktgläubig? Heilig? Da gibt es eine immer wieder einmal bemerkte Nähe zu Religiosität. An meiner alten Universität pflegten sich unsere marktliberalen Volkswirte gegenseitig und mit einer Selbstironie, die eine einhergehende, schulterklopfende Selbstgerechtigkeit nur mühsam verbrämte, zu versichern: „In Sachen ‚Markt‘ sind und bleiben wir katholisch.“ 

Das ist die Stelle, an der Russells Teekanne ins Spiel kommt. Russell fand: Für die Behauptung, es existiere zwischen Erde und Mond eine winzige Teekanne, so klein, dass man sie nicht sehen könne, trägt die Beweislast der, der sie aufstellt. Keineswegs sei es an Skeptikern, die Behauptung zu widerlegen. Das fungierte bei Russell als – blasphemische? – Antwort auf die Behauptung, Gott existiere. Was nicht widerlegt ist, daran darf geglaubt werden? Nein, lautet Russells agnostische, wenn nicht atheistische Antwort. Es mache keinen Sinn, an etwas zu glauben, dessen Existenz sich nicht belegen, aber auch nicht widerlegen lässt.  

Das ist wohl ein bisschen krude argumentiert. Wir alle müssen von impliziten Gewissheiten ausgehen; wir können nicht mit Zweifeln beginnen. Wie Wittgenstein sagte „Der Zweifel kommt nach dem Glauben.“ Und: „Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewissheit voraus.“ Als Pennäler lernte ich übrigens im Religionsunterricht: Der Glaube fängt da an, wo das Wissen aufhört. Das alles lasse ich auf sich beruhen, weil diese Arten des Glaubens, das eben war ja Russells Punkt, nicht zu widerlegen sind. Ob wir allerdings an die Rationalität einer Entscheidung, an geheime Mächte der Weltverschwörung, an die Stille Opposition, an die Systemrelevanz einer Bank oder an den Markt als Heilsbringer glauben, das ist zwar nicht leicht, aber am Ende doch widerlegbar.  

Vor allem aber gibt es zwischen Religion und Teekannen einen Unterschied. Wie Richard Dawkins bemerkt hat: Teekannen-Gläubige steinigen keine Teekannen-Ungläubigen. Für Teekannen-Ketzer in Sachen Entscheidungen in Organisationen, Weltverschwörung, Stille Opposition, Bankenrettung und Marktgläubigkeit aber besteht eine entsprechende Gefahr sehr wohl und, mutatis mutandis, recht handfest. Steinigen ist hierzulande aus der Mode, aber „Ketzer“ und Kritiker – zumal: Whistleblower – in Organisationen werden gemobbt oder entlassen, Politiker, die den tiefen Staat leugnen, bedroht. Stille-Opposition-Gläubige schreiten bei John le Carré sehr wohl zur Invasion, und da wird es dann doch ziemlich schmutzig. Leute, die an Bankenrettungen zweifeln, werden der Systemgefährdung bezichtigt. Und Kritiker des ökonomischen Mainstreams kriegen keine VWL-Professorenstellen.  

Für die Fabrikation der Gründe in Sachen Panama-Intervention engagierte und bedrängte Mr. Luxmore vom Secret Service den Spion in spe Andrew Osnard (im Film: Pierce Brosnan), der seinerseits den armen Harry Pendel (Geoffrey Rush) bedrängte, den Schneider von Panama, Pendel & Braithwaite, Panama City. Der kreierte – vulgo: erfand – die Stille Opposition. Sein Job war es, aus Unwahrscheinlichem Wahrscheinliches zu machen. Das, die Selbstverstärkung des Wahrscheinlichen, ist, die letzte Kolumne handelte davon, für Niklas Luhmann, alltägliches Geschäft in Organisationen. 

Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

war zuletzt Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

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