Zum Hauptinhalt der Webseite
Matthiesen meint

Wegen der aktuellen Situation schlecht organisiert

  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 26. Mai 2023
wegen der aktuellen Situation

Vor Kurzem stand ich vor verschlossenen Türen, wo ich offene erwartet hatte. Es war nicht das Stammrestaurant, sondern die Alternative – die man aufsucht, wenn es um Variation, aber nicht um Überraschung geht. Wir waren spontan vor Ort, und ich meinte die Öffnungszeiten zu kennen.

Die Schilder „Montag + Dienstag Ruhetag“ und direkt darunter „Wir suchen dringend Personal“ auf der verschlossenen Tür erklären, weshalb die Öffnungs­zeiten, die ich im Gedächtnis hatte, nicht mehr aktuell waren. (Schilder in Organisationen erzählen generell spannende Geschichten. Wenn auf dem Parkplatz des jungen Start-Ups, das sich hierarchiefrei darstellt, die besten Parkplätze mit „Sara“ und „Peter“ gekennzeichnet sind, weiß man direkt: Hier sind natürlich alle gleich – und Sara und Peter sind gleicher. Aber das nur als Randnotiz.) 

In der Form überrascht und mit etwas Ärger über mich selbst (man hätte vorher einmal online gucken können …), waren die Personalgesuche und „wegen Fachkräftemangel“-Entschuldigungen, die man als Teil der Normalität meist ausblendet, plötzlich überpräsent: Self-Check-ins und -Checkouts in Hotels. Sicherheitskontrollen am Flughafen, die über eine Stunde dauern – und es besteht keine Aussicht auf Besserung. Verzögerte Lieferzeiten für Sofas, Autos oder auch Fahrräder. Keine Chance auf Termine mit Handwerkern oder in Facharztpraxen, aber ausschließlich In-Person-Termine beim Bürgeramt, da die digitale Verwaltung „leider noch nicht angeboten werden kann“, wegen: Fachkräftemangel. 

Fachkräftemangel funktioniert mittlerweile als Generalentschuldigung für vieles, das eigentlich unentschuldbar ist. Mich erinnert das an die Hochzeiten der Pandemie, als die ganze Bandbreite an Serviceaushöhlungen und Einsparungen möglich wurde, legitimiert durch das schildgewordene Achselzucken: „Wegen der aktuellen Situation“. Wer nur eine Legitimation braucht, um den Service zu reduzieren oder Belastungen an Kundinnen und Kunden weiterzugeben, der hat mit „Fachkräftemangel“ vermutlich ein gutes, neues Trittbrett gefunden. Und wer dabei so vorausschauend war, die Generalentschuldigung auch generisch zu formulieren, braucht nicht einmal neue Schilder.

Doch nehmen wir einmal an, der Mangel an Mitgliedern ist tatsächlich ein Problem, das die Organisation nicht nur nach außen darstellen, sondern ernst­haft bearbeiten möchte. Dann ist es meiner Einschätzung nach die falsche Herangehensweise, die große, weite Umwelt nach den Gründen dafür zu fragen, wieso niemand hier anfangen möchte. Offene Ausschreibungen werden selten mit Absagen beantwortet.

Leichter ist es dagegen, ins Innere der Organisation zu schauen: Ist noch irgendjemand hier? Wenn ja: Warum? Was ist hier so gut, dass es zum Bleiben bewegt – wenn sich Arbeitnehmer:innen in vielen Branchen mittlerweile das Unternehmen aussuchen können? Und was hat die anderen dazu bewegt, zu gehen?

Lohn ist dabei der Dreh- und Angelpunkt in vielen Argumentationen. Wenn Mitglieder unzufrieden mit ihrer Bezahlung sind, weil sie in anderen Unter­nehmen für die gleiche Arbeit mehr bekommen, ist das prinzipiell ein leicht zu bearbeitendes Problem. Zumindest ist es leichter zu beheben, als eine belastende Organisationsstruktur.

Kollegialität – zweischneidiges Schwert. Sie bewegt zum Bleiben, wird aber auch ausgenutzt – „guilt traps“, Krisenrituale und wieder „die aktuelle Situation“ machen es notwendig, dass alle gemeinsam mehr anpacken: Kurzfristig hilft das, lässt dann aber noch mehr Menschen erschöpft ihren Mitgliedschaftshut an den Nagel hängen.

Strukturen – können übergriffig sein, Nerven kosten, aussaugen. Oder die Arbeit gut sortieren und ein Leben ermöglichen. Gute Strukturen machen Lust zu bleiben, weil sie gute Arbeit ermöglichen (und ich unterstelle Menschen grundsätzlich, dass sie den Wunsch haben, gute Arbeit zu machen). Nichts ist frustrierender für Mitarbeitende, als mit gutem Willen gebremst zu werden, weil Streit, nicht gelöste Widersprüche, und schlicht Unwillen, Organisationsarbeit zu leisten, im Weg sind.

Unternehmerisch handeln heißt, angesichts gegebener Umstände neue, gute Wege zu finden. Das gilt für Entlohnung, selbst wenn die klassische Möglichkeit der Lohnerhöhung tatsächlich ausgeschlossen sein mag. Das gilt für die Ermöglichung kollegialen Verhaltens – ohne es zu einem „Gemeinsam ausbren­nen“-Arbeitsethos verkommen zu lassen. Und es gilt ganz besonders für das Entdecken und Entwickeln kluger Organisationsstrukturen – also solchen, die zwar nicht alle jederzeit froh machen (weil man Spannungen und Zielkonflikte nun einmal nicht wegorganisieren kann), aber ermöglichen, dass die Mitarbeitenden ihre angemessen bezahlte Arbeit erledigen können ohne das Gefühl, dabei gegen die Strukturen anrennen zu müssen.

Darum geht es – nicht trotz, sondern wegen der aktuellen Situation.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

LinkedIn® Profil anzeigen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.