Organisationen können Menschen einige unangenehme Dinge antun. Das habe ich zum ersten Mal gespürt, als ich meinen Wehrdienst als Funker absolvierte. Damals waren die Erlebnisse für mich nur von einem diffusen Unbehagen geprägt. Mir war noch nicht klar, dass ich mit strukturellen Zumutungen rang – vor allem, weil ich noch keine Begriffe für die Situationen hatte, die ich als Zumutung empfand:
Lernen unerwünscht: Die gleichen stupiden Tätigkeiten wieder und wieder erfüllen, bis ich sie auch bewusstlos gekonnt hätte. Fast schon aus Selbstverteidigung habe ich heimlich angefangen, Gedichte auswendig zu lernen.
Hierarchie als Hackordnung: Es war Teil des Alltags, dass Ranghöhere ihre Macht bis zur Unterdrückung auslebten. Mein Rang war der geringste. Selbst unter Gleichrangigen war es ein Kampf, Augenhöhe und Anerkennung zu erreichen.
Selbständiges Handeln verboten: Mir wurden Befehle erteilt, die auszuführen waren, ohne Wenn und Aber.
Uniform(ität) war Sein: Ich wurde mit „Soldat“ oder „Funker“ angesprochen. Wie alle anderen. Und so eine Individualität ablehnende Anrede macht etwas mit Einem. „Soldat.“ Wer, ich? Wer bin ich?
Ich hatte zügig den Eindruck, dass ich mich hier in einer sehr besonderen Organisation befinde, in der mir seltsam deformiert erscheinende Menschen übel mitspielten. Entsprechend ließ ich das alles hinter mir so schnell es nur ging. In der Hoffnung, Unternehmen seien viel besser darin, den Bedürfnissen und (Menschen-)Rechten ihrer Mitglieder zu genügen, studierte ich BWL, lernte über Praktika viele Firmen und Betriebe kennen … und wurde enttäuscht. Auch Wirtschaftsorganisationen standen ihren Mitgliedern ständig auf den Füßen bis es weh tat.
Es ging für mich also doch noch nicht in die Wirtschaft. Sondern in die Forschung. Ich wollte diesem unerträglichen Zustand etwas entgegensetzen. So machte ich mich auf den Weg, eine „sozialökonomischen Betriebswirtschaftslehre“ zu entwickeln (oder wollte wenigstens meinen Teil dazu leisten) und forschte in Philosophie und Soziologie nach orientierenden Normen, die der Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System Unternehmen entgegenzusetzen wären. Mein wunderbarer Doktorvater Peter Ulrich, der mich anleitete und ermutigte, steile Thesen zu formulieren: Das Menschenbild, verstanden als Metapher für die Wertprämissen der Managementtheorien, stimme einfach nicht. Ein philosophisch-anthropologisch fundiertes Menschenbild musste also her.
Trotz Konzept noch machtlos
Dieses Menschenbild entstand. (Viel Leid, Forschung- und Schreibstress in drei Worten, aber das soll an dieser Stelle reichen). Es sollte mir Orientierung sein beim Wirken in den dann folgenden Organisationen: einer klassischen Beratung, einem Medienkonzern, im Familienunternehmen und in Start-ups der New Economy.
Doch immer wieder stellte ich fest, wie gering meine Einflussmöglichkeiten waren. Wie wenige Chancen ich hatte, durch mein eigenes Tun in der Zusammenarbeit mit Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern die Orientierungen zu verfolgen, von denen ich wusste, dass sie gut waren. Es zeigte sich wieder ein Muster: wie Organisationen mehr einforderten und weniger gaben als verabredet, sie dennoch Regeltreue und Gefolgschaft erwarteten – und wie ihre Mitglieder aller Hierarchiestufen darüber zynisch wurden und auch zynisch statt normorientiert handelten. Einzig anders war, dass ich jetzt Begriffe und Beobachtungswerkzeuge hatte, um die Zumutungen besser zu erkennen. Verhindern konnte ich sie dadurch aber trotzdem nicht.
Menschenbild trifft auf Gestaltungsansätze
Erst als ich dann zu Metaplan stieß, kam alles zusammen: Aus Organisations- und Führungserfahrung, meinen betriebswirtschaftlichen und philosophischen Studien sowie der organisationswissenschaftlichen Metaplan Denk- und Beratungsschule wuchs langsam die Erkenntnis, dass nicht das Zurückdrängen des Systems durch lebensweltliche Ansprüche der Schlüssel zu besseren Organisationen ist, sondern die Gestaltung des Systems selbst eine Perspektive bietet: Die Humanisierung der Organisation kann gelingen, wenn man an den Strukturen ansetzt statt am Menschen. Und beim Blick auf diese Strukturen kann das einst entwickelte Menschenbild nun endlich helfen, richtet es doch den Blick auf vier Dimensionen der humanen Organisationsgestaltung:
- Lernen erwünscht: Als weltoffenes Wesen braucht der Mensch Möglichkeiten, mehr zu erfahren.
- Hierarchie als Ordnung unter Gleichen: Arbeitsteiliges Organisieren erfordert klare Zuständigkeiten, mitunter auch Weisungsordnungen. Aber als Menschen erkennen sich Mitglieder als gleichwertig an, mit gleichberechtigten Interessen, das System zu gestalten.
- Selbstständiges Handeln möglich: Zwischen Organisation und Mensch findet ein offenes Aushandeln statt, wie viel Orientierung, wie viel Freiheit fürs Organisationsziel gut und fürs Arbeiten in der Organisation human ist.
- Wahlfreiheit der Identität: Die Menschen bekommen durch die Organisation Identitätsangebote, die auch abgelehnt werden dürfen.
Nimmt man diese Dimensionen für den Blick auf Organisationsprobleme, sieht man zum Beispiel Folgendes:
Wenn Mitarbeitende das Mitdenken verweigern, Hirn und Motivation für Lernfelder außerhalb der Organisation aufsparen, hat man es seltener mit problematischen Menschen zu tun. Irgendwo im System hat man ihnen den Wunsch verleidet, für die Organisation zu denken.
Wenn eine Organisation ihre Hierarchie mit Tradition und altehrwürdigen Figuren aufgeladen hat, die mehr Ehrerbietung erwarten als alle anderen – dann ist es vielleicht doch keine Floskel, wenn Mitarbeitende dieses Umfeld verlassen, „weil sie mehr mitgestalten“ wollen.
„Selbstverwirklichung“ wird genau wie Mitbestimmung oft belächelt als Ziel. Aber vielleicht sind die Kolleg:innen nicht (nur) wegen des besseren Angebots eines anderen Unternehmens gegangen. Vielleicht hat die Organisation zuvor den Zugriff in die Indifferenzzone übertrieben und mehr verlangt, als der Mensch noch mit sich machen lassen wollte.
„Du wirst Teil einer Familie“ ist kein freundliches Identitätsangebot – es ist der Offenbarungseid einer übergriffigen Organisation, die mit Methoden, die man auch aus Sekten kennt, keinen Spielraum bei der Frage „Wer will ich hier sein“ zulässt. Eine humane Organisation verfügt über Rollen und gibt den Mitgliedern Spielraum, beim Ausfüllen dieser ihre Identität finden. Sie macht Angebote – mehr nicht.
Ganz können Organisationen ihren zumutenden Charakter nie loswerden. Sie bleiben einschränkend, fordernd, bestimmend. Aber es kann der erste Schritt sein, mit diesen Zumutungen bewusst umzugehen oder wo möglich mit klugem Organisationsdesign die Zumutungen zu verringern.
Kommentar (1)
Der Beitrag zeugt von diesbezüglich enormer Erfahrung als Basis für eine konzeptionell individuelle Bearbeitung.
Im Rahmen unserer Tätigkeit haben wir es mit den unterschiedlichsten Organisationen zu tun.
Wir werden Sie künftig begründet empfehlen.
W.T.Oberdorfer
DIA Deutsche Ingenieur Allianz