Zum Hauptinhalt der Webseite
Der ganz formale Wahnsinn

Cliquen: Verdichtete Formen kollegialer Erwartungen

  • Stefan Kühl
  • Montag, 23. Januar 2023
cliquen

Bei Cliquen handelt es sich um über informale Erwartungen geprägte Subsysteme, die sich im Schatten der Formalstruktur ausbilden.[1] Deswegen werden Cliquen – zurückgreifend auf eine ältere Terminologie – häufig auch als informale Gruppen bezeichnet.[2] Cliquen sind insofern die „natürliche Fortsetzung und Verdichtung kollegialer Beziehungen“.[3] An dieser Stelle darf aber die Bedeutung von Cliquen im Rahmen von kollegialen Beziehungen nicht überschätzt werden – ein erheblicher Teil der kollegialen Beziehungen verdichtet sich nämlich nicht in Cliquen. Kollegiale Beziehungen umfassen ebenso Beziehungen zu Mitgliedern in derselben formalen Einheit, nur sporadische Kontakte zu Mitgliedern anderer Einheiten oder auch Erstkontakte zu bisher unbekannten Organisationsmitgliedern.[4]

Demgegenüber können Cliquen da entstehen, wo das Verhältnis zur formalen Organisation besonders distanziert und problematisch ist. Es gibt aber umgekehrt auch Cliquen, die sich deswegen ausbilden, weil eine Identifikation mit der Organisation ausgeprägter ist als bei anderen Mitarbeitern, um auf diese Weise bestimmte, formal (noch) nicht vorgesehene Ziele in der Organisation zu befördern oder sich wechselseitig bei der Karriere zu unterstützen.

In Cliquen kommt es oft dazu, dass ihre Mitglieder sich als Personen mit sehr unterschiedlichen persönlichen Rollenbezügen einbringen. Wenn man sich im Widerstand gegen die Organisation befindet, versucht, einander in der Karriere voranzubringen, oder Ziele jenseits der offiziellen Agenda der Organisation durchsetzen will, steigt die Chance, dass sich die Mitglieder nicht nur in ihren Organisationsrollen begegnen, sondern sich auch über andere Rollen austauschen und darüber Personenkenntnisse aufbauen.

In Organisationen herrscht vielfach die Erwartung, dass alle Mitarbeiter kollegial miteinander umgehen und sich gegenseitig unterstützen. In Cliquen werden die kollegialen Beziehungen dann jedoch in einer Form besonderer Solidarität kondensiert. Da es – anders als bei Teams – keine durch die Organisation abgesicherte Zuweisung von Personen zu Cliquen gibt, ist die Identität der Clique sowohl für ihre Mitglieder als auch für Außenstehende häufig nur schwer zu fassen.[5] Die Cliquen können selbst darüber verfügen, wer in ihnen Mitglied ist und wer nicht. Organisationen mögen – wenn sie die Bildung von Cliquen überhaupt wahrnehmen – über Vorgesetzte appellieren, dass sich die Cliquen doch neuer Organisationsmitglieder annehmen oder zumindest versuchen sollten, allzu brutale Ausschlüsse zu unterbinden, aber es gibt keinen formalen Zugriff auf die Cliquenmitgliedschaft seitens der Organisation.

Dabei beziehen sich Cliquen in der Ausbildung ihrer Normen grundsätzlich zwar auf die formalen Regeln, sind in der tatsächlichen Interpretation und Auslegung dieser Normen jedoch autonom. In Industriebetrieben ist etwa früh beobachtet worden, dass Teammitglieder, die den Akkordlohn durch Übererfüllung der Norm „kaputt machten“, als „Akkordbrecher“ bezeichnet wurden, während diejenigen, die auf Kosten des Teams zu wenig arbeiteten, als „Nassauer“ diskriminiert wurden.[6] In Armeen ließ sich feststellen, dass sich innerhalb von militärischen Einheiten Cliquen bildeten, in denen sich auf der Grundlage von besonderen Loyalitäten zwischen einzelnen Mitgliedern die Norm einer außergewöhnlichen Kampfbereitschaft ausbildete.[7]

Aber weil Cliquen über die Mitgliedschaft in der Organisation nicht verfügen können, behält die „formale Organisation das Heft gleichwohl in der Hand“.[8] Organisationen können zwar nicht direkt auf die Normbildung in Cliquen einwirken, aber sie haben prinzipiell die Möglichkeit, Personen aus der Organisation zu entfernen und die kleinen Zusammenschlüsse auf diese Weise zu schwächen oder gar aufzulösen. Häufig reicht bereits das Ausscheiden von einer oder zwei Personen aus, um zu einer Auflösung einer Clique zu führen. Die Existenz von Cliquen in Organisationen ist immer prekär.[9]

[1] Der Text basiert auf einer Gegenüberstellung von Teams, Cliquen und Gruppen in StefanKühl: Die folgenreiche Verwechslung von Teams, Cliquen und Gruppen. Zu unterschiedlichen Formen der Systembildung von Organisationen. In: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie 52 (2021), 417-434.
[2] So zum Beispiel Noel Tichy: An Analysis of Clique Formation and Structure in Organizations. In: Administrative Science Quarterly 18 (1973), 2, S. 194–208, hier S. 194.
[3] N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 324.
[4] Siehe dazu auch die Kritik an soziometrischen Methoden von RenéKönig: Die informellen Gruppen im Industriebetrieb. In: ErichSchnaufer, KlausAgthe (Hrsg.): Organisation. Berlin 1961, S. 55–118, hier S. 77.
[5] Zu all diesen Punkten ausführlich N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, 331f.und ders.: Spontane Ordnungsbildung. In: Fritz Morstein Marx (Hrsg.): Verwaltung. Berlin 1965, S. 163–183, 175f.
[6] Siehe dazu Fritz JulesRoethlisberger, William J.Dickson: Management and the Worker. An Account of a Research Program Conducted by the Western Electric Company, Hawthorne Works, Chicago. Cambridge 1939, 196ff.
[7] Siehe dazu einschlägig Roger W.Little: Buddy Relations and Combat Performance. In: MorrisJanowitz (Hrsg.): The New Military. Changing Patterns of Organization. New York 1964, S. 195–224.
[8] Siehe dazu auch allgemein die auf Informalität bezogenen Überlegungen in N.Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 285.
[9] N. Luhmann: Spontane Ordnungsbildung, 178f.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

LinkedIn® Profil anzeigen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.