Der Eintritt in eine Organisation hat für das Mitglied eine weitreichende Konsequenz: Es wird von einem erwartet, dass man mit Personen kooperiert, auch dann, wenn sie einem äußerst unsympathisch sind. Die Organisation verlangt von ihren Mitgliedern, dass diese eine Akte auch an eine Kollegin weitergeben, die man unerträglich findet, dass man in einem Team auch mit dem von allen als nervig empfundenen Kollegen zusammenwirkt und sich in offiziellen Meetings sogar mit Personen auseinandersetzt, denen man außerhalb der Organisation aus dem Weg gehen würde. Die Minimalerwartung ist, dass man mit anderen Organisationsmitgliedern zumindest im Rahmen der formalen Ordnung zusammenarbeitet.[1]
Es kann jedoch äußert nützlich sein, wenn Kollegen über das formal erwartete hinaus kooperieren. Man unterstützt sich gegenseitig bei schwierigen Aufgaben, teilt Informationen, die man nicht unbedingt teilen müsste, hilft sich bei einer möglichst unangreifbaren Darstellung gegenüber Außenstehenden. Man leiht einer Kollegin sein Ohr, wenn diese ihre Vorgesetzte mal wieder nicht ertragen kann, man kann sich gemeinsam über besonders penetrante Kunden auskotzen und sich so von den vielfältigen Spannungen in der Organisation erholen.[2] Über die Kollegen wird man in die informalen Strukturen der Organisation hineinsozialisiert, von ihnen lernt man die kleinen Tricks, mit denen man sich die Arbeit erleichtern kann, und auf sie ist man angewiesen, wenn es darauf ankommt, eigene kleine Missgeschicke gegenüber Vorgesetzten oder gegenüber Kunden zu verbergen.[3] Diese formal nicht vorgeschriebene, sondern lediglich informale Form der Zusammenarbeit wird in Organisationen als „Kollegialität“ bezeichnet.
Wie Kollegialität aufgebaut wird
Zum Aufbau von Kollegialität ist ein hohes Maß an Disziplin notwendig: Signalisierung von kommunikativer Offenheit und wechselseitiger Achtung, Drosselung von Konkurrenz beim Kampf um Ressourcen oder Posten und Verzicht auf übermäßige Profilierung gegenüber Kunden.[4] Wenn Kollegen nicht schnell den Wert der Kollegialität begreifen, werden sie zuerst dezent und dann immer deutlicher darauf hingewiesen. Dem „zickigen Kollegen“ werden wichtige Informationen vorenthalten, die er eigentlich dringend zur Erledigung seiner Aufgaben braucht. Man verzichtet darauf, ihn bei Fehlern gegenüber der Chefin zu decken und lässt ihn so ins offene Messer laufen. Der Begriff für diese Art der informalen Durchsetzung von Kollegialitätsnormen ist Mobbing.
Der Vorteil von Motivationseffekten durch Kollegialität für die Organisation ist offensichtlich: Gerade unmittelbare Kollegen haben stark disziplinierende Wirkung auf das Verhalten von Mitgliedern. Dieser Effekt wird darüber produziert, dass Kollegen beratend, mahnend und in letzter Konsequenz strafend eingreifen, wenn ein Organisationsmitglied seine informalen Pflichten verletzt. Weil die Durchsetzung dieser Normen eher im Schatten der formalen Ordnung stattfindet, sind diese nicht selten wirksamer – die Konsequenzen für das betroffene Mitglied gleichzeitig brutaler – als die offizielle Drohung von Vorgesetzten mit Bestrafung oder mit der Kündigung.
Kollegialität kann nur ergänzende Motivation für die Mitgliedschaft sein
Die Organisationsforschung hat immer wieder nachzuweisen versucht, dass Organisationsmitglieder sowohl zufriedener als auch leistungswilliger sind, wenn sie eine Bindung zu ihren Kollegen empfinden. Besonders eng ist dieses Verhältnis, wenn sich die Kollegen in Cliquen zusammenfinden. Das Bedürfnis nach Kontakt und Zusammensein mit anderen Menschen werde, so etwa die Annahmen des Human-Relations-Ansatzes, nicht nur von Freunden, sondern schon von Kollegen befriedigt.[5]
Aber in der Regel wird die Kollegialität als einziges Motiv zur Mitgliedschaft in der Organisation nicht ausreichen. Einem Unternehmen, einer Verwaltung oder auch einer Nichtregierungsorganisation wird es vermutlich nicht gelingen, potenzielle Mitglieder zu gewinnen, wenn es lediglich mit einer „netten Arbeitsatmosphäre“ werben kann, aber ansonsten über keine Zwangsmittel verfügt, keinen Lohn zahlen kann oder über keinen wirklich attraktiven Organisationszweck verfügt.[6]
[1] Vermutlich sind Hochschulen, die einzigen Organisationen, die es dulden, dass sich in Instituten professorale Mitglieder komplett der Kommunikation mit anderen Mitgliedern verweigern.
[2] Siehe zu diesen Funktionen der Kollegialität N.Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 323.
[3] Siehe dazu William M.Evan: Peer Group Interaction and Organizational Socialization: A Study of Employee Turnover. In: American Sociological Review 28 (1963), S. 436–440.
[4] So N.Luhmann: Spontane Ordnungsbildung (wie Anm. 81), S. 171. Siehe dazu auch S.Kühl: Coaching und Supervision, S. 48.
[5] Klassisch dazu Elton Mayo: The Human Problems of an Industrial Civilization. New York 1933. Siehe auch F. J. Roethlisberger, W. J. Dickson: Management and the Worker.
[6] Siehe dazu auch meine Überlegungen in S.Kühl: Organisationen, 35f.