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Der ganz formale Wahnsinn

Werte: Zum Nutzen konsens­fähiger Formulierungen gegenüber handfesten Zwecken

  • Stefan Kühl
  • Montag, 6. Februar 2023

Organisationen sind wahre „Bekenntnismaschinen“. Unternehmen erklären, wie wichtig ihnen „Nachhaltigkeit“, „Gleichberechtigung“ und „Innovation“ ist. Polizeien zeigen, wie zentral „Bürgerorientierung“, „Mitarbeiterzufriedenheit“ und „Wirtschaftlichkeit“ ihr Handeln bestimmt. Hochschulen bezeichnen „Forschungsexzellenz“ und „Studierendenzentrierung“ als ihre Fixpunkte. Organisationen scheinen nicht existieren zu können, ohne regelmäßig ihrer Begeisterung für alle möglichen, in der Gesellschaft gefragten Werte Ausdruck zu verleihen.

Auf die lauten und farbigen Bekenntnisse folgen jedoch nicht zwangsläufig auch die entsprechenden Beschlussfassungen in der Organisation, denn Formu­lierungen wie „Unsere Kunden sind König“, „Humanisierung der Arbeitswelt“ oder „Schutz unserer Umwelt“ lassen weitgehend offen, welche Entscheidungen in einer konkreten Situation zu erwarten sind.

Diese Diskrepanz ist nicht per se ein Problem. Die Formulierung von Werten hat gar nicht die vorrangige Funktion, konkretes Entscheiden anzuleiten. Solche Bekenntnisse dienen stattdessen zuallererst dazu, Akzeptanz in der Umwelt der Organisation zu erzeugen.[1] Je wohlklingender die Wertformulierungen desto höher die Chancen, Akzeptanz in der Umwelt zu erzeugen. Gleichzeitig sinkt aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese proklamierten Werte in konkretes Verhalten übersetzen lassen.[2]

Werte sind im Vergleich zu Zwecken wesentlich abstrakter formuliert. Zwar liefern auch Werte Präferenzgesichtspunkte für Handlungen, aber sie lassen offen, welche Alternative gegenüber einer anderen zu favorisieren ist. Werte geben bestenfalls einen groben Orientierungsrahmen und können, im Gegensatz zu Zwecken, nicht als Hilfe bei konkreten Entscheidungsproblemen dienen. Anders ausgedrückt: Werte schränken als „Regeln der Angemessenheit“ die in einer Situation möglichen Handlungen ein, aber sie eignen sich nicht als eindeutiges Kriterium für Entscheidungssituationen.[3]

Ein offensichtliches Problem dieser Gegenüberstellung ist, dass Werte und Zwecke auf den ersten Blick nicht leicht zu unterscheiden sind. Auch Wertformulierungen scheinen immer das Versprechen einer konkreten Handlungsausrichtung in sich zu tragen. Die Beteuerung des Wertes der Demokratisierung würde nur begrenzt überzeugend wirken, wenn er nicht als Kriterium für konkrete Entscheidungssituationen angeboten werden würde. Das Bekenntnis zur Mitarbeiterorientierung, das gleichzeitig kommunizieren würde, dass man sich bewusst sei, dass diese Maxime nicht unmittelbar handlungs­leitend sei und im Konfliktfall gegenüber der Effizienzorientierung zurückstehen müsse, würde als Wert an Überzeugungskraft einbüßen.

Glücklicherweise gibt es eine pragmatische Methode, durch die man schnell erkennen kann, ob man es mit einem Wert oder Zweck zu tun hat.[4] Wertformulierungen sind dadurch gekennzeichnet, dass man nur schwerlich gegen sie sein kann. Wer bekennt sich schon öffentlich gegen Demokratie, Frieden, Menschenrechte, Umweltschutz, Gleichberechtigung oder Agilität?Wenn sich ein Konzept als Wert etabliert hat, bedeutet dies nicht die generelle Unmöglichkeit, sondern vielmehr eine spezifische Struktur der Kritik: Einwände richten sich in diesen Fällen immer nur gegen das „Wie“ der Definition, der Ausrichtung oder der Umsetzung, aber nicht gegen das „Ob“.

Organisationen lösen die Herausforderung, dass von ihnen sowohl Werte­bekenntnisse verlangt werden und gleichzeitig eine Steuerung über Zwecke notwendig ist, dadurch, dass sie beides machen. Nach außen bekennen sie sich zu einer Vielzahl von attraktiven Werten, während sie nach innen klare Zwecke vorgeben, die bestenfalls nur noch in einer losen Verbindung zu den proklamierten Werten stehen. Dass ihnen deswegen vorgeworfen werden kann, dass sie nicht immer ihren Werten gerecht werden, können sie verkraften.

[1] Siehe grundlegend J. W.Meyer, B.Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony (wie Anm. 115). Vorher jedoch schon präziser N.Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation (wie Anm. 5), 108ff.
[2] N. Luhmann: Rechtssoziologie (wie Anm. 186), 88f.
[3] James G. March, Johan P. Olsen: Rediscovering Institutions. New York 1989, 21ff.
[4] Niklas Luhmann: Complexity, Structural Contingencies and Value Conflicts. In: Paul Heelas, Scott Lash, Paul Morris (Hrsg.): Detraditionalization. Cambridge 1996, S. 59–71, hier S. 65.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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