Man muss sehr genau suchen, bis man eine Organisation findet, die sich nicht in irgendeiner Form zum Wert der Nachhaltigkeit bekennt. Unternehmen lassen Berichte erstellen, in denen sie nachweisen, wie sie nachhaltig werden wollen. Dabei gilt die Faustregel – je größer die Umweltverschmutzungen eines Unternehmens, desto dicker sind die Nachhaltigkeitsberichte. Auch Verwaltungen, in denen vorrangig Akten bearbeitet wird, erstellen inzwischen umfangreiche Nachhaltigkeitsstrategien, um ihre Bemühungen bei der Reduzierung des ökologischen Schuhabdrucks nachzuweisen. Einzelne Universitäten stellen inzwischen bevorzugt Personal ein, die nachweisen können, dass sie mit ihrer Forschung zu einer wie auch immer gearteten nachhaltigen Gesellschaft beitragen.[1] Vermutlich würde es niemanden mehr überraschen, wenn auch kriminelle Organisationen wie die Mafia sich ein partizipativ erarbeitetes Nachhaltigkeitsleitbild geben würde.
Der Begriff der Nachhaltigkeit hat inzwischen eine so hohe Selbstverständlichkeit, dass man ihn problemlos in jede Rede zu fast jedem Thema einfließen lassen kann: „Wir müssen nachhaltigere Politik machen, damit wir auch noch der nächsten Generationen eine Überlebenschance geben“. „Wir brauchen in unserem Unternehmen eine Strategie, um uns nachhaltig am Markt halten zu können. „Wir müssen einen Change Prozess nachhaltig anlegen, so dass die Effekte nicht verpuffen.“ Kaum etwas scheint in Organisationen nachhaltiger zu sein als die Verwendung des Wortes Nachhaltigkeit.[2]
Gegen Nachhaltigkeit kann niemand sein
Man kann den Grad der Selbstverständlichkeit testen, indem man in Organisationen einmal versucht, genau das Gegenteil von Nachhaltigkeit zu fordern – einen Ressourcenverbrauch auf Kosten der nächsten Generationen, eine Strategie, die auf Kosten der langfristigen Positionierung des Unternehmens geht, oder einen Change Prozess, der nur kurzfristige Effekte erzielen soll. Der Lyriker und Dichter Walter Moers hat dies einmal dargestellt, in dem er seinen Helden ein Konzert geben lässt, in dem er sein erstes Lied dem „Erfinder der FCKW-Spraydose“ widmet, ihn erklären lässt, dass „bedrohte Lebewesen“ nie sein „Fach gewesen seien“, er regelmäßig Insektenvernichtungsmittel auf Bienen sprüht und sich vorrangig von Delphinen ernährt. Spätestens wenn sein Held „Ich quäl das Tier zum Scherz, trag Wegwerfslips aus Nerz“ und „Auf mein Parkett aus Tropenholz, da bin ich ganz besonders stolz“ singt, wird deutlich, dass er mit seinen Formulierungen nicht den allgemein akzeptierten Wert der Nachhaltigkeit bedient.[3]
Auch wenn ein Begriff wie Nachhaltigkeit einen extrem hohen Bekenntnisdruck auslöst, heißt das nicht, dass Kritik unmöglich ist. Die Kritik richtet sich dabei aber nie gegen das Ziel selbst, sondern kritisiert wird, dass bisher der falsche Weg gewählt wurde, um das Ziel zu erreichen, dass das Konzept bisher noch nicht den erforderlichen Nutzen gebracht hat oder das das Konzept noch nicht ausreichend operationalisiert wurde. Die Kritik richtet sich also immer nur gegen das „Wie“, nie aber gegen das „Ob“.[4]
Es muss zumindest der Anschein gewahrt werden, dass den Werten entsprochen wird
Das Bekenntnis zu populären Werten hat eine wichtige Funktion – sie soll Akzeptanz in der Umwelt der Organisation zu erzeugen. Eine Organisation, die sich nicht routiniert zu Werten wie Nachhaltigkeit, Menschenrechten oder Diversität bekennt und für das Anstreben der Werte auch Geld in die Hand nimmt, bekommt fast zwangsläufig Legitimationsprobleme. Von außen betrachtet sind Organisationen inzwischen wahre „Bekenntnismaschinen“ geworden, die sich regelmäßig zu allen möglichen in der Gesellschaft gefragten Werten bekennen.[5]
Zur Pflege dieser „Bekenntnismaschinen“ ist es notwendig, permanent den Anspruch der Konkretisierung aufrechtzuerhalten. Es darf, so die inzwischen in den Nachhaltigkeitsdiskurs eingeflochtene Standardformulierung, nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben, sondern es müssen konkrete Maßnahmen ergriffen werden. In keinem Change Prozess zur Nachhaltigkeit der Organisation fehlt die Ankündigung, dass nach der Erstellung eines bewusst allgemein gefassten Leitbildes konkrete Nachhaltigkeitsmaßnahmen ergriffen werden sollen. Größere Organisationen richten Stellen – manchmal auch ganze Abteilungen – ein, die nicht nur den Wert der Nachhaltigkeit innerhalb der Organisation hochhalten sollen, sondern auch Programme auf dem Weg zu einer besseren Nachhaltigkeit entwickeln sollen.
Aber dabei stoßen Organisationen auf ein Problem, dass schon von Niklas Luhmann beschrieben wurde: Je höher die Chance ist, über abstrakte Wertformulierungen Akzeptanz in der Umwelt zu erzeugen, desto größer sind die Probleme, wenn diese Werte in konkrete Programme umgesetzt werden sollen.[6] Erst dann wird deutlich, dass die Konkretisierung eines Wertes anderen Werten in der Organisation widerspricht. Ob ein Wert in für die Organisation notwendigerweise schmerzhafte Programme umgesetzt werden kann, hängt dann häufig von der Frage ab, wie die Machtspiele in der Organisation verlaufen. Die Stabsstellen, die innerhalb einer Organisation einen Spezialwert wie Nachhaltigkeit vertreten, haben dabei in der Regel die geringsten Machtressourcen.
[1] Siehe dazu eine lesenswerte Kritik von Jürgen Mittelstraß: Die Universität und ihre Gesellschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2018), S. 6. Politisierung der Wissenschaft scheint immer in Ordnung zu sein, wenn es einer guten Sache dient.
[2] So das Bonmot von Manfred Moldaschl: Zynismus Controlling. Zur Messung von Nachhaltigkeit und Scheitern im Change. In: Organisationsentwicklung (2010), 4, S. 19–26, hier S. 19.
[3] Walter Moers: Das keine Arschloch kehrt zurück. Frankfurt a.M. 1991, 1ff.
[4] Siehe dazu ausführlich Stefan Kühl: Moden in der Entwicklungszusammenarbeit. Capacity Building und Capacity Development als neue Leitbilder von Entwicklungshilfeorganisationen. In: Soziale Welt 55 (2005), S. 231–262.
[5] So schon fast ermüdend die immer wiederholte, aber in der Abstraktheit korrekte Standardanalyse der Neoinstitutionalisten innerhalb der Organisationswissenschaft. Vgl. grundlegend John W. Meyer, Brian Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony. In: American Journal of Sociology 83 (1977), S. 340–363.; siehe vorher schon meines Erachtens aber präziser Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1964, 108ff.
[6] Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. Reinbek 1972, 88f. Auch hier wieder eine organisationssoziologische Standardanwendung – die Gegenüberstellung von Werten und Programmen. Siehe dazu ausführlich Stefan Kühl: Leitbilder erarbeiten. Eine kurze organisationstheoretisch orientierte Handreich. Wiesbaden 2017.