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Matthiesen meint

Zur Abwechselung mal diesseits vom Tellerrand bleiben

  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 5. Dezember 2025

Beim Blick zurück auf die Anfragen und Gespräche, die wir bei Metaplan und die ich im Speziellen über das Jahr bekommen habe, ist mir ein Muster besonders aufgefallen: Man sucht nach Antworten für die Probleme der eigenen Organisation – überall, nur nicht bei sich selbst.

Dass Unternehmen einander vergleichen, wenn es um Strategien, Kosten und abrufbare Preise geht, ist selbstverständlich. Doch was in diesem Jahr, wenigstens in der Zahl, neu für mich war, ist der Wunsch nach dem Kopieren von Strukturen. Es geht nicht mehr nur ums Angleichen der Kosten, um die Übernahme von Vertriebsformen, sondern darum, die ganze Aufbauorganisation zu kopieren.

Es ist im Grunde ein nachvollziehbarer Wunsch, mit drei mächtigen Motoren: Zuerst, das Erleben des eigenen Organisationsschmerzes. Wenn man sich an der Spitze eines Bereichs oder der ganzen Organisation täglich damit beschäftigen muss, wie viel Potential liegen bleibt, weil sich Mitarbeiter in den Prozessen verheddern, oder wie oft die gleichen Konflikte immer und immer wieder hochkochen, wird man sich irgendwann fragen: Wie macht das eigentlich die Konkurrenz? Schlimmer als bei uns kann es sicher nicht sein!

Zweitens leiden Organisationen (oder ihre Verantwortlichen an der Spitze) oft an FOMO: Fear of missing out. Was, wenn die Konkurrenz es wirklich geschafft hat, eine brauchbare KI-Schnittstelle aufzusetzen, die den Innendienst entlastet – oder gar ersetzt? Was, wenn die Konkurrenz viel besser die Kundenanliegen aufnehmen kann, als wir es können? Die sind da draußen, wir sitzen hier im Elfenbeinturm und betreiben Nabelschau!

Drittens geht es gerade in Organisationen in Krisen an der Spitze häufig um CYA: Cover Your Ass. Wenn Auftragslage oder Kostenentwicklung deutlich sagen; etwas muss sich ändern, geraten Organisationsverantwortliche unter Zugzwang. Gleichzeitig ist klar, wenn sie eine falsche Entscheidung treffen, ist das mindestens für sie schlecht, vermutlich aber auch für die ganze Organisation. Die Konkurrenz zu kopieren, fühlt sich vor diesem Hintergrund wie das Minimieren von Risiko an. Es wird nicht der ganz große Wurf, aber falsch kann es auch nicht sein. Und sollten die Dinge nicht besser werden, kann man sagen: Wir haben uns am Standard der Branche orientiert – es ist also ein Problem, das gerade alle erleben.

Trotz allem: Diesseits vom Tellerrand bleiben!

Allen drei Gründen zum Trotz halte ich es für essenziell, sich dann, wenn die eigenen Strukturen enttäuschen, nicht mit der Umwelt, sondern im Gegenteil mit sich selbst zu beschäftigen. Es lohnt sich, dafür auf die grundlegende Idee von Organisation zu schauen: Organisationen sind dafür gemacht, dass Menschen zusammenkommen, um etwas zu schaffen, was sie alleine nicht schaffen könnten. Sie teilen sich die Arbeit auf, leisten jeder ihren Teil, der beim (schmerzhaften, anstrengenden, leidigen) Zusammenführen ein großes Ganzes ergibt. Irgendetwas will man doch gemeinsam erreichen. Wir können also fragen: Welche Struktur ist am besten dafür geeignet, beim Erreichen dieses Ziels zu unterstützen? Welche Konflikte will man immer wieder austragen? Was soll bindend wegentschieden sein?

Für Organisationen im Wirtschaftssektor führt die Frage nach dem Ziel unweigerlich dazu entscheiden zu müssen, ob man auf Kunden oder auf Produkte orientiert. Wenn die grundlegende Idee ist, bestehende Probleme zu lösen, mit genau passenden Lösungen zu überzeugen, einen exzellenten Service zu bieten, dann muss die Organisationsstruktur auf den Kunden ausgerichtet sein. Dann sind Service und Vertrieb die wichtigsten Schnittstellen, Forschung und Produktion sind nachgereiht. Wenn man dagegen aber Angebote schaffen will, von denen der Markt noch gar nicht wusste, dass es sie geben kann, man also Lösungen anbieten will, die das Denken in Problemen und Bedürfnissen auf den Kopf stellen – dann muss man die Organisation nach ihren Produkten aufstellen. Dann informieren Kunden zwar die Forschung – aber man reagiert nicht mit maßgeschneiderten Lösungen auf einzelne Anfragen.

Die Variable Mensch wird nie eine Konstante sein

Das ist eine Strategie-Debatte. Es ist die fundamentale Frage „Was wollen wir hier eigentlich?“ Der Blick über den Tellerrand kann auf diese Frage keine Antwort geben. Selbst wenn man sich entschieden hat, eine kundenorientierte Organisation zu sein – dann ist es immer noch keine gute Idee, sich an der Struktur anderer kundenorientierter Organisationen zu bedienen.

Der Versuch, das doch zu tun, basiert auf der Illusion, man könne identifizieren, wo die Bedingungen in der Vorbild-Organisation denen der eigenen gleichen – und wo sie abweichen. Da geht man der Ceteris-Paribus-Klausel auf den Leim, der Annahme, dass der Effekt einer Veränderung beobachtbar (und kontrollierbar) wird, wenn man nur bestimmte Variablen ändert, während alle anderen Variablen im System konstant bleiben. Die BWLer unter uns kennen das Prinzip etwa aus der Untersuchung von Preisanpassungen.

Doch wenn es um Organisationen und das Verändern ihrer Variablen geht, kommt der Ceteris-Paribus-Klausel in die Quere, dass man mit sozialen Systemen arbeitet. Man kann sehr gerne annehmen, zwei Organisationen so gut zu kennen, dass ihre Variablen verstanden sind und sich deshalb kontrolliert Strukturen übernehmen lassen. Doch wird es durch die Annahme noch nicht richtig.

Das Wechselspiel zwischen Formalstruktur und Kultur, das nirgends verschriftlichte Wissen darüber, wann welche Vorgaben ernst zu nehmen sind und wann nicht, die im Arbeitsalltag weitergegebenen Interpretationen, wie man mit den Strukturen produktiv umgeht, die Geschichte der Organisation und die kollektiven Erfahrungen, wie man miteinander gut arbeitet – kurz, das Innenleben von Organisationen enthält unzählige voneinander abhängige Variablen, die sich nicht beobachten und schon gar nicht als konstant definieren lassen.

Und schließlich gibt es eine Variable, die unantastbar bleibt: Das sind die Menschen in der Organisation. Sie tragen die Erwartungsstrukturen, wie gute Zusammenarbeit funktioniert, worauf es in der Organisation ankommt, in ihren Köpfen. Sie haben ihre jeweils persönlichen Vorstellungen davon, worauf es in ihrer Rolle ankommt.

Man kann das gesamte Organigramm, das Prozesshandbuch, den Wertekatalog und selbst die Produkte anderer Organisationen kopieren. Aber all das muss dann auch zum Personal passen, mit dem man arbeitet. Und das lässt sich, zum Glück, nicht kopieren.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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