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Agile Verwaltung

Warten, bis es passt

  • Martin Vogel
  • Donnerstag, 23. Februar 2023
Agilität in der Verwaltung
© gemenacom

Pläne leben so lange, bis sie der Realität begegnen – das gilt auch für die Umsetzung agiler Projekte. Besonders Verwaltungen sind aktuell an einer agilen Transformation interessiert. Was genau „agil“ bedeutet, unterscheidet sich dabei von Fall zu Fall. Aber einige Probleme findet man immer wieder. Am Beispiel einer kommunalen Stadt­verwaltung illustrieren wir einige der Herausforderungen.

Agile Verwaltung: Die Lösung für welche Probleme?

Wir lernten das agile Vorhaben dieser Verwaltung im Rahmen einer mehrmonatigen Forschung an der Leibniz Universität Hannover kennen, in dessen Zuge wir die Stadtverwaltung in teilnehmender Beobachtung begleitet hatten. Den Start des Projekts macht Anfang 2019 ein Mitarbeiter der Organisationsentwicklungsabteilung, der weitere Kolleg:innen aus dem HR-Bereich und ein Mitglied des Personalrats einlädt, gemeinsam über die „agile Stadtverwaltung“ nachzudenken. Am Anfang ist man dabei nur ein informaler „selbstorganisierter“ Kreis, der formal nicht existiert. Man nennt sich aber bereits „Projektgruppe Agilität“ und verfolgt lose das Ziel, die eigene Organisation „agiler“ werden zu lassen.

Das Konzept der Agilität wird zu dem Zeitpunkt längst auch in Verwaltungs­kontexten diskutiert, und man ahnt in der Gruppe, dass auch das eigene Haus sich früher oder später dazu verhalten muss. „Agilität ist die Lösung – aber für welche Probleme eigentlich?“ ist die Frage, entlang derer sich das kleine, informale Projektteam auf die Suche begibt.

Weit kommt man zuerst nicht, denn eine globale Entwicklung platziert sich machtvoll mit Antworten: Die Corona-Pandemie unterbricht jäh die Arbeit der Projektgruppe. Die Krise lässt bezeichnenderweise keine Zeit für geplante, agile Initiativen. Stattdessen ist „einfach mal machen“ angesagt: Man testet Homeoffice-Varianten, und orientiert sich an den „Hier-und-Jetzt“- Problemen. Die Beschäftigung mit „agiler Verwaltung“ als Transformationsthema muss warten – fast 1,5 Jahre.

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Aus informaler Selbstorganisation wird eine formale Projektgruppe

Erst im Juni 2021 nimmt das Projekt wieder Fahrt auf. Die Verwaltung hat nach der Krise wieder zu stabilen Routinen zurückgefunden – erst das gibt die Luft, sich wieder mit Veränderung befassen zu können. Darüber hinaus ist es an der Spitze des Fachbereichs „Personal und Organisation“ zu einem Führungswechsel gekommen: Die neue Fachbereichsleiterin war lange selbst als Organisations­beraterin mit Schwerpunkt Agilität tätig. Ihre Einstellung wird intern auch als eindeutiges Statement der Hausspitze für eine Neuausrichtung auf mehr Agilität in Verwaltung gesehen.

Dementsprechend wird die ehemals informale Gruppe nun zur formalen „Projektgruppe (PG) Agilität“ unter Beteiligung von rund 20 weiteren Personen, auch der Fachbereichsleiterin. In der ersten Sitzung kritisiert sie – ganz im Sinne agilen Arbeitens – auf die eher langfristige Termingestaltung der Projektgruppe. Man einigt sich auf regelmäßige Termine alle 14 Tage, an denen von den Fortschritten agiler Projekte berichtet und die „agile Transformation“ der Verwaltung begleitet werden soll.

In den Folgemonaten finden fast 20 solcher Projektgruppensitzungen statt. Zu faktischen Veränderungen von Arbeitsprozessen innerhalb der Organisation kommt es aber noch nicht. Die Projektgruppe ist zuerst mit ihrer eigenen Situation in der Organisation beschäftigt, richtet den Intranet-Auftritt ein und erarbeitet, wie man das Thema „Agilität“ der Belegschaft inhaltlich näherbringen könnte. Ein Glossar wird erstellt und kleine Erklärvideos auf YouTube hochge­laden. „Einfach mal machen“ und das Prinzip der brauchbaren Lösung scheint zu fremd in Verwaltungen – also muss die Veränderung gut geplant sein, so der Eindruck.

Über die Zeit wird der Kreis der Teilnehmenden an der Projektgruppe deutlich kleiner. Von den ursprünglich fast 20 Personen reduziert sich der aktive Kern auf drei bis vier Personen aus der Personal- und Organisationsentwicklung. Gelegentlich sieht der Personalrat nach dem Rechten. Selbst die Fachbereichs­leiterin lässt sich in der Regel entschuldigen. Eine versprochene Videobotschaft an alle Beschäftigten, die über die Vorteile agilen Arbeitens für die Verwaltung aufklären sollte, bleibt bis zuletzt aus.

Ja zu Agilität! – Erst wenn sie zu allem anderen passt?

Die Projektgruppe einigt sich schließlich darauf, im Frühsommer 2022 eine „agile Woche“ auszurichten. Mitarbeitende sollen auf freiwilliger Basis agile Methoden ausprobieren und sich entlang praxisnaher Vorträge aus anderen Organisatio­nen informieren können. Im Anschluss sollen sich Teams aus der Verwaltung für agile Pilotprojekte bewerben. Sie würden in ihrer Arbeit durch externe Beratung und Moderation unterstützt, nach etwa neun Monaten soll der Erfolg des Projekts evaluiert werden.

Doch auch diese Veranstaltung lässt sich nicht in die Umsetzung bringen. Mehrfach wird sie verschoben. Die Verwaltungsleitung, die selbst die Transformation zur „agilen Verwaltung“ zur Chefsache erhoben hat, nimmt (aus Termingründen) gar nicht teil. Die aufwändig geplante Phase an unterstützten Pilotprojekten wird auf einen Appell an die gesamte Organisation reduziert, „wenn es passt“, mit agilen Arbeitsformen zu experimentieren. In einem Jahr werde man nachfragen, welche Erfahrungen an welche Stelle mit welcher Methode gemacht wurde. Für die Teilnehmenden der „agilen Woche“ handelt es sich um eine spannende Veranstaltung: Prima Stimmung, interessante Vorträge, kluge Ideen, angenehme Gesellschaft. Ob sie Gelegenheiten zum Ausprobieren der Methoden finden, wissen sie noch nicht – aber es wird sich sicher etwas ergeben, ist der Tenor. Für die ausrichtende Projektgruppe bleibt nur die Hoffnung, möglichst viel von dieser Stimmung „auf die Strecke“ mitnehmen zu können.

Von außen betrachtet scheint dies kurios zu sein: Über drei Jahre hat das Projekt Anlauf genommen – der Erfolg blieb aber überschaubar. Wie kann man sich diese Langsamkeit erklären? Hätte die Fachbereichsleiterin, selbst ja große Befürworterin des Konzepts und erfahrene Beraterin auf dem Gebiet, nicht einfach die Umsetzung anweisen können?

Wer ist schuld, wenn die agile Transformation auf sich warten lässt?

Auf den ersten Blick scheint man es hier mit dem Klischee zu tun zu haben, welches schon der Soziologe Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts als „Idealtypus der Bürokratie“ beschrieb. Mal wieder zeigt sich Verwaltung als insgesamt zu unflexibel und zu langsam, um in einer sich beständig ändernden Umwelt angemessen agieren zu können. Die Ursache für die generell gering ausgeprägte Veränderungsbereitschaft der Verwaltung scheint seit den Anfängen der Bürokratiekritik ausgemacht: „Der Amtsschimmel fühlt sich nicht wohl, wenn er zum Trab genötigt wird“, wusste schon der Verwaltungswissen­schaftler Fritz Morstein Marx Mitte der 1950er Jahre (Morstein Marx 1956: 361). Oder um es kurz zu fassen: In Verwaltungen scheint seit jeher das falsche Mindset präsent zu sein. Aber dass generations- und organisationsübergreifend stets die Leute und ihre Einstellung das Problem sein sollen, scheint nicht unbedingt wahrscheinlich.

Eine Alternative zu dieser Erklärung bietet die Organisationstheorie. Niklas Luhmann hat sich bereits Ende der 1960er Jahre mit einem bemerkenswerten Widerspruch bürokratischer Kontexte befasst: Wie kommt es eigentlich, dass die Verwaltung in der Außensicht als langsam und behäbig wahrgenommen wird, innerhalb der Organisation jedoch Zeitknappheit herrscht? Für die Antwort dieser Frage schlägt er eine Heuristik vor, entlang derer er das menschliche Sinnerleben auf drei Dimensionen beschreibt: Sinn lässt sich zeitlich beobachten (schnell – langsam; vorher – nachher), sachlich (dies – oder das, gut – oder schlecht) und sozial (die Perspektive der einen – die Perspektive der anderen).

dimensionen

Bereitschaft zu Kompromissen ermöglicht Geschwindigkeit

Die einzelnen Komplexitätsdimensionen bedingen einander. Sie können sich etwa gegenseitig entlasten. Indem man z.B. an bestimmter Stelle auf die Konsensbildung verzichtet und auf Befehl und Anweisung zurückgreift, lässt sich ein immenser Geschwindigkeitsgewinn erzielen. Gleiches gilt für die Bereit­schaft, sich mit „brauchbaren Lösungen“ zu begnügen, anstatt nach Perfektion zu streben. Und Kompromissbereitschaft, statt des Beharrens auf Maximal­forderungen, macht die soziale Verständigung leichter.

„Entsprechend kann man durch rationale Zeitplanung für kritische Fragen Überlegungs- oder Kommunikationszeit gewinnen, also Druck aus der Sachdimension oder der Sozialdimension abfangen. Oder man kann die umweltgegebene Reaktionszeit bis an ihre Grenzen ausschöpfen, um durch eine solche Strategie der letzten Minute Zeit für Konsensbildung oder für rationale Informationsverarbeitung zu erhalten.“ (Luhmann 2018: 360) Zusammen­genommen zeigt sich, dass sich Probleme in der einen Dimensionen in gewissem Umfang auf eine andere verlagern und damit in andere, aber möglicherweise leichter lösbare verwandeln lassen. Was aber auch deutlich wird und im Bezuge auf Agilität besonders wichtig ist: Man kann nicht die Ansprüche in allen drei Dimensionen zugleich maximieren.

Wendet man diese Heuristik auf Entscheidungen in Verwaltungen an, erkennt man im System eine Präferenz:

  1. Sachlichkeit hat Priorität: Entscheidungen sollen richtig sein – so richtig, dass sie vor Verwaltungsgerichten bestehen können.
  2. In der sozialen Dimension liegt in Verwaltungen die Präferenz weniger auf Konsens, als auf genauer Zuständigkeit: Nur wer Betroffenheit oder Verantwortung legitim darstellen (oder nicht ablehnen) kann, ist für eine Entscheidung relevant.
  3. In der Zeitdimension sind Entscheidungen verschiedenen Begrenzungen unterworfen: Fristen definieren Dringlichkeiten, Konditionalprogramme sorgen dafür, dass erst A erfüllt werden sein muss, bevor B begonnen werden kann.

Vergleicht man diese Prioritäten mit denen, die durch agile Konzepte verkündet werden, fällt etwas Interessantes auf. Agile Konzepte stellen Werteverkün­dungen dar und beschreiben, wie etwas sein soll. Damit treffen sie auf die Realität der Prioritäten der Verwaltungen – die aufgrund der Verhältnisse sind, wie sie sind. Zwar wird der Begriff Agilität vielfältig genutzt und ist auf verschiedene Weisen ausgedeutet worden. Mit Blick auf die drei Sinndimensionen kann man dennoch agiles Entscheiden als Modell folgendermaßen einordnen:

  1. Zeitlich sollen Entscheidungen schnell erfolgen.
  2. Sozial sollen Entscheidungen einen möglichst breiten Konsens finden – oder zumindest Widerspruch produktiv verarbeiten.
  3. Sachlich sollen Entscheidungen aber auch richtig sein – wobei die meisten agilen Konzepte die Brauchbarkeit einer Lösung vor Perfektion stellen.

Bleibt Agilität ein Wert, muss sie sich neben anderen Werten behaupten

Nutzt man Agilität also nur als abstraktes Konzept, begegnet es einer Organisation (also auch einer Verwaltung) als Wertvorstellung, die Maximalforderungen transportiert. Agile Verwaltung heißt dann, dass man Entscheidungen schnell, richtig und gut abgestimmt treffen soll – was drei Wünsche auf einmal bedeutet. Wie beschrieben, sind diese aber nicht gleichzeitig erfüllbar. Geschwindigkeitsgewinne können nur erzielt werden, wenn man sachliche oder soziale Limits setzt, volle Beteiligung nur gegen längere Schleifen der Abstimmungen, etc. Es ist ein Wert, nach dem man streben, den man aber nie erreichen kann.

Entsprechend schwer ist die Umsetzung anzuordnen. Und entsprechend abstrakt steht die Umsetzung von Agilität neben dem Arbeitsalltag. Agilität muss warten, bis die Ablage etwas leerer ist.

Man umgeht dieses Problem, indem man zur Frage zurückkehrt, die sich die Projektgruppe noch zu ihrer Anfangszeit gestellt hatte: Für welche Probleme wird Agilität gebraucht? Mit dieser Frage wird aus einem Wert, der neben anderen Werten bestehen muss, ein Werkzeug, das zum kontrollierten Begrenzen der jeweiligen Sinndimensionen eingesetzt werden kann. Manche agilen Methoden begrenzen die Zeitdimension („Time-Boxing“). Andere legen genau fest, wer wie Widerspruch und Änderungswünsche an Entscheidungen äußern kann. Diese begrenzen damit die Sozialdimension. Am geläufigsten sind Methoden, die die Beschäftigung mit der Sachdimension begrenzen und statt dem perfekten Endergebnis Entscheidungen oder Produkte forcieren, die sich in der Praxis zwar bewähren aber auch im Anschluss angepasst werden können.

Man war bereits agil – während der Pandemie

Tatsächlich hatte die Verwaltung einige der Methoden auch bereits eingesetzt – nur allerdings, ohne sich dessen bewusst zu sein, geschweige unter Verwen­dung des Begriffs „Agilität“. Zumindest passen die Ideale vieler agiler Konzepte aufs Handeln der Verwaltung während der Pandemie. Als keine Zeit mehr zum Planen war, und „einfach machen“, zur Prämisse wurde. Es war wichtig, schnell auf Lösungen zu kommen, auf die sich alle einlassen können. Und gab es unvorhergesehene Folgeprobleme, musste man zu Anpassungen der Entscheidungen bereit sein.

Aus dieser Beobachtung lassen sich für agilitätsinteressierte Verwaltungen mehrere interessante Fragen ableiten:

  1. Warum ist das Handeln nach agilen Prinzipien nur im Krisenmodus möglich?
  2. Was müsste sich ändern, um auch in stabiler Umwelt agil handeln zu können?
  3. Wo finden sich in den Abläufen bereits erfolgreiche agile Methoden – nur werden sie bisher nicht so genannt?
  4. Wie kann man die bereits erfolgreichen Ansätze in andere Bereiche der Organisation weitertragen? – und letztlich:
  5. Welches Problem soll mit Agilität gelöst werden?

So wird aus einem Konzept, das der Belegschaft fremd ist und dass man ihr vorsichtig näherbringen muss, eine Reihe an Lösungsansätzen, die bereits in anderen Kontexten funktioniert haben. Diese funktionieren dann vielleicht sogar für die eigentliche Arbeit – nicht nur als zusätzliche Experimente, die nur passieren, „wenn es passt“.

Literatur

Luhmann, N., 2018: Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten. S. 355–384 in: N. Luhmann, V. Tacke & E. Lukas (Hrsg.), Schriften zur Organisation 1: Die Wirklichkeit der Organisation. Wiesbaden: Springer.

Morstein Marx, F.M., 1956: Freiheit und Bürokratie: Zur Natur des Amtsschimmels. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 42: 351–382.

Autor
Martin Vogel

Dr. Martin Vogel

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interdisziplinäre Arbeitswissenschaften an der Universität Hannover. Sein Schwerpunkt liegt auf New Work, Agilität und Digitalisierung.

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