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Verwaltungsinnovation

Organization not found: Digitalisierung als Verwaltungsreform

  • Lene Baumgart
  • Judith Muster
  • Montag, 22. Mai 2023
organization not found

Verwaltungen gelten als träge und wenig reformfreudig. Und tatsächlich entscheiden sie häufig nicht selbst über Reformprogramme, sondern sie kommen als Anforderung aus der Politik, die Prozesse flexibler und agiler sehen wollen, oder von Bürger:innen, die z. B. digitale Serviceleistungen einfordern. Der Beitrag zeigt, dass es die typischen Organisationsstrukturen von Verwaltungen sind, die sowohl ihre Digitalisierung als auch andere Reformvorhaben erschweren, und wie sich Verwaltungsreformen trotzdem lohnen können.

Zusammenfassung der Argumente

  • Die Kommunikationswegeregelungen von Verwaltungen sorgen für klare Zuständigkeiten, verhindern aber dadurch das Entstehen von Netzwerken.
  • Verwaltungen verschaffen sich durch eine ausgeprägte Orientierung am Recht Autonomie und Legitimation, erschweren dadurch aber eine agile Entscheidungsfindung.
  • Analoge Prozesse sichern in Verwaltungen Objektivität und Verfahrens­sicherheit, stehen aber einer Digitalisierung entgegen.

Warum Verwaltungsreformen scheitern

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung nimmt Verwaltungsmodernisierung einen zentralen Stellenwert ein. Durch sie sollen die Verwaltungen agiler und digitaler werden, auf interdisziplinäre und kreative Problemlösungen setzen und das Silodenken überwinden. Auch die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) erfordert neue Arten und Weisen der Zusammenarbeit, sowie Kooperationen über Ressortgrenzen und Verwaltungsebenen hinweg. Schon diese Vorhaben zeigen, dass mit der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung weitreichende und tiefgreifende Hoffnungen verbunden werden und die Digitalisierung selbst als Reform des Verwaltungsapparats gerahmt wird.

Gleichzeitig sehen wir: das OZG ist in seiner jetzigen Form bislang gescheitert und die E-Akte, für die bereits 2013 das E-Government-Gesetz erlassen wurde, war bis 2020 in nur fünf Pilotbehörden eingeführt. Auch andere Reform­bemühungen scheinen auf eine Reformresistenz oder -müdigkeit von Verwaltungen zu stoßen. Hier lohnt es, den Blick auf Verwaltungen als Organisationen zu lenken, um zu verstehen, inwiefern es die für Verwaltungen typischen Organisationsdynamiken sind, die Verwaltungsreformen erschweren.

Wenn von Reformvorhaben in Verwaltungen gesprochen wird, wird damit immer auch die Veränderung ihrer formalen Struktur impliziert. Verwaltungen als Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie kollektiv bindende Ent­scheidungen für ihre Umwelt produzieren (Luhmann 2020, 31). Ihre Formal­strukturen sind somit darauf abgestimmt, Entscheidungen herzustellen, die als Prämissen eigenen Entscheidens und Handelns von der organisationalen Umwelt übernommen werden können.

Wir haben drei Thesen entwickelt, die aufzeigen, inwiefern die spezifischen Formalstrukturen von Verwaltungen deren Wandel erschweren, aber auch, wieso sie dennoch funktional für deren Bestehen sind.

These 1: Verwaltungsimmanente Hierarchien und Dienstwegeregelungen verhindern netzwerkartige Zusammenarbeit in Digitalisierungsprojekten, wenngleich Verantwortungsdiffusion dadurch verhindert wird.

Organisationen regeln über festgelegte Kommunikationswege, wer mit wem wozu kommuniziert oder wer wem Anweisungen geben darf. Verwaltungs­organisationen haben in der Regel steile Hierarchien mit exakt festgelegten Weisungsbefugnissen, Mitzeichnungspflichten und Dienstwegen. Kommunikationswege in Verwaltungen zeichnen sich zudem durch ein Ressortprinzip, Referate und eine Abteilungslogik aus, denen exakte Zuständigkeiten zugewiesen werden.

Insbesondere das Ressortprinzip und die Dienstwegeregelungen werden als Hemmnis für Digitalisierungsvorhaben gesehen, da sie den netzwerkartigen Strukturen der Informationstechnik diametral gegenüberstehen oder zu viele Gegenspieler berücksichtigten, die sich gegen die Digitalisierungsinitiativen stellen könnten. So werden durch die verwaltungsimmanenten Hierarchien Reformvorhaben erschwert, da sich ein Großteil der Verantwortung auf den oberen Führungsrängen konzentriert und diese überstrapaziert werden.

Verwaltungen als Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie kollektiv bindende Entscheidungen für ihre Umwelt produzieren.

Ressortprinzip und Abteilungslogik sowie die je eigenen lokalen Rationalitäten erschweren eine Abkehr vom Silodenken, die gerade im Zuge der in den Digitalisierungsvorhaben verankerten agilen Arbeitsweisen gefordert wird. Dabei sehen Mitzeichnungspflichten diese abteilungsübergreifende Zusammenarbeit sogar formal vor, denn jeder Vorschlag muss allen beteiligten Stellen für deren Einverständnis zugeleitet werden, bevor eine finale Entscheidung gefällt werden kann. Gerade bei größeren Planungsvorhaben müssen alle „Träger öffentlicher Belange“ einbezogen werden, um Benachteiligungen und Willkür auszuschließen sowie Nachvollziehbarkeit und Legitimität zu gewährleisten. Dadurch wird sichergestellt, dass sich am Ende einer Entscheidung niemand seiner Verantwortung entledigen kann.

Hierarchiefreie digitale Projekte etwa, an denen sich alle betroffenen Akteure beteiligen können, sollen solch langwierige und bürokratische Verfahren ersetzen, denn netzwerkartig organisierte Zusammenarbeit in digitalen Projekten wird als vereinfachend und beschleunigend wahrgenommen. Und doch bleibt bisher ungeklärt, wie einerseits die oben genannten Funktionen erfüllt werden sollen und zugleich die positiven Effekte digitaler Technologien genutzt werden können. Bei den Digitalisierungsreformen wird übersehen, dass gerade Deregulierungen und Entbürokratisierungen nicht zu einer Reduktion von Regelungen geführt haben oder die Automatisierung von Verfahren in erster Linie eine Formalisierung hervorruft. Zudem wird bei den Forderungen nach hierarchiefreier Selbstorganisation oft vergessen, dass Hierarchien und Entscheidungsmandate einen beschleunigenden Effekt haben. Das wird gerade in Gegenüberstellung mit selbstorganisierten demokratischen Entscheidungs­prozessen deutlich, in denen so lange verhandelt wird, bis es keine Einwände mehr gibt.

These 2: Die Orientierung am Recht erschwert agile Entscheidungsfindung, sorgt dabei jedoch für Autonomie und Legitimation. 

Entscheidungen werden in Verwaltungen üblicherweise in konditionalen Wenn-Dann-Programmen getroffen, die sich an Gesetzen und rechtlichen Vorgaben orientieren (Luhmann 1966, S. 23). Die Umsetzung der Entscheidungen erfolgt in der Form des Verfahrens, das heißt am Recht orientiert, standardisiert, nachvollziehbar und wiederholbar (Richter 2012, S. 96).

Themen wie Datensicherheit und -schutz oder den Gesetzen enthaltene Ermessensspielräume oder unbestimmte Rechtsbegriffe machen die Digitalisierung und Automatisierung von Verwaltungsverfahren zu einer Herausforderung. Die Orientierung von Verwaltungen am Recht und an der legitimierenden Ausführung von Verfahren lässt Verwaltungen als verkrustet, träge und hyperbürokratisch erscheinen. Doch gerade dadurch gewinnt die öffentliche Verwaltung den Bürger:innen, der Politik und ihrem Personal gegenüber an Autonomie, da rechtlich korrekte Entscheidungen von ihren Umwelten nur schwerlich angezweifelt werden können.

Innovation und Verwaltung

Können Verwaltungen die Gesellschaft verändern?

Die für Verwaltungen typischen Wenn-Dann-Entscheidungslogiken zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf Einzelfälle nicht individuell reagieren können, was wiederum die Funktion hat, unpersönliche Entscheidungen zu gewährleisten. Verwaltungen wirken träge, da ihre Programmanwendungen und Verfahrens­ausführungen Zeit benötigen. Je komplexer die Anfragen, je mehr Personen und Abteilungen involviert sind, desto länger dauert in der Regel ein Entscheidungs­vorgang. Die Orientierung am Recht und an der Ausführung von legitimierenden Konditionalprogrammen erschwert die Implementierung von modernen Managementkonzepten oder Digitalisierungsvorhaben, die häufig nicht in einer Wenn-Dann-Logik bearbeitet werden können. Wenn Verwaltungs­mitglieder sich mithilfe von „Design Thinking“ selbstorganisiert überlegen sollen, wie das OZG umgesetzt wird, dabei alle Eventualitäten bedenken müssen, weil Vorhaben sonst vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden, treffen zwei konfligierende Programmstrukturen aufeinander.

These 3: Verwaltungsmitglieder beharren auf analogen Prozessen, doch gewährleisten sie damit Objektivität und Verfahrensdurchführung. 

Die Unpersönlichkeit von Verwaltungsangestellten wird von Bürger:innen häufig als Überheblichkeit oder Desinteresse interpretiert, doch sie gewährleistet einerseits objektive Entscheidungen und entlastet die Angestellten anderer­seits von unangenehmen Entscheidungen, was etwa bei der Ablehnung von Sozialleistungen nicht zu unterschätzen ist. Oft werden Reformresistenzen und Digitalisierungsprobleme den persönlichen Eigenschaften oder Widerstands­kräften von Organisationsmitgliedern zugeschrieben. Sie seien zu faul, zu ehrgeizig, zu inkompetent oder hätten das falsche Mindset. Mit Sicherheit spielen die Beharrungskräfte oder fehlenden Kompetenzen der Mitglieder eine entscheidende Rolle bei der Verwaltungs­digitalisierung, doch in der Regel sind die Verhaltensweisen des Personals eine Reaktion auf die vorherrschenden Verhältnisse in den Organisationen. Das heißt, gerade in vollausgebauten und durchreglementierten Bürokratien werden die Organisationsmitglieder von persönlichen Zurech­nungen und Verantwortlichkeiten entlastet, da ihre Regeleinhaltung als höchstes Qualitätsmerkmal für korrektes Verwaltungshandeln gilt.

Agile Verwaltung

Warten, bis es passt

In der Digitalisierungsdebatte wird häufig vergessen, dass nur die Bereitstellung von digitalen Technologien in einer nutzbaren Form einen Einfluss auf die Arbeit von Verwaltungsmitgliedern hat. Wenn also digitale Prozesse kein Äquivalent zum zwar langwierigen, dafür aber funktionierenden analogen Prozess darstellen, weil sie nicht zuverlässig ausführbar sind, kann Verwaltungsangestellten nur schwerlich ein Vorwurf gemacht werden.

Hinzu kommt, dass es in Folge mehrerer Personalreformen und Finanzierungs­krisen einen starken Personalabbau gab, der nun im Zusammenspiel mit dem demografischen Wandel einerseits zu einem erheblichen Personalmangel an sich führt und andererseits zum Fehlen von Qualifikationen und Kompetenzen, die gerade im Zuge von Modernisierungs- und Digitalisierungsbemühungen zwingend gefragt sind. Insbesondere mangelt es an Informatiker:innen und an Personal, das die Angestellten in die Nutzung digitaler Technologien einführt und dabei unterstützt. Dieser Personalmangel, fehlende Anreizstrukturen sowie die strenge Fokussierung auf die alten Professionen und Funktionen erschweren den Wandel von Verwaltungsorganisationen.  

Wie sich Verwaltungsreformen trotzdem lohnen können

Es sollte deutlich geworden sein: Die formalen Strukturen von Verwaltungen bedeuten eine große Herausforderung für den Wandel von Verwaltungen. Zugleich sind sie funktional für deren Bestehen in sich stetig wandelnden Umwelten. Es bleibt die Frage danach offen, wie Digitalisierungsreformen in Verwaltungen stattdessen bewältigt werden können. Der Vorschlag der Systemtheorie ist es, die Funktion von Reformen nicht (nur) in der Optimierung oder Anpassung bestehender Strukturen zu sehen. Stattdessen können sie als Werkzeug genutzt werden, um verschiedene Interessen aus der Latenz zu holen und damit ein besseres Verständnis der Realität zu gewinnen (Luhmann 2000, S. 336–337).

Verwaltungen müssen verstehen, nach welchen Prämissen entschieden wird, welche „eingefrorenen“ Lösungen für Probleme genutzt werden, um diese dann auf andere funktional äquivalente und digitale Möglichkeiten neu zu durch­denken. Dabei darf nicht unterschätzt werden, dass jede Struktur mit je eigenen Folgeproblemen einhergeht und sich die Komplexität dessen potenziert, was es bei einer Veränderung zu beachten gilt. Wir möchten hier dennoch ein paar Prüffragen an die Hand geben, mithilfe derer die Digitali­sierung von Verwaltungshandeln vorgedacht werden kann:

  • Wo ist es sinnvoll, Entscheidungen von den Stellen treffen zu lassen, die die meisten Informationen zu einem Thema besitzen und an welchen Stellen braucht es die Entscheidung der Hierarchie? Für welche Entscheidungs­prozesse empfehlen sich gleichberechtigte Teamstrukturen und wann ist eine arbeitsteilige und nach Kompetenzen und Phasen gegliederte Organisation effizienter? Welche Kommunikationswege (auch an den Grenzen von Verwaltungen) könnten gänzlich automatisiert und von Maschinen ersetzt werden?
  • Welcher Voraussetzungen bedarf es für die Durchführung eines Verfahrens und der finalen Entscheidungsfindung? Wo braucht es Lernfähigkeit oder die Berücksichtigung von Ermessensspielräumen oder unbestimmten Rechtsbegriffen? Ließen sich all diejenigen Verfahren automatisieren, die eben nicht zweideutig sondern eindeutig sind?
  • Welche (anderen) Ausbildungen, Weiterbildungen und Qualifikationen sind erforderlich für die aus der Digitalisierung resultierenden Anforderungen? Wie viel und welches Personal braucht es? Welche Anreizstrukturen und Motivationsmittel können genutzt und verbessert werden, um das für die Digitalisierung notwendige Personal zu gewinnen und zu halten?

Für Reformen gelten dann zwei Voraussetzungen: Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müssen Formalstrukturen immer in Beziehung zueinander sowie zur Umwelt des Systems gesetzt werden. Die zweite Voraussetzung ist die Entscheidungsautonomie von Verwaltungsorganisationen über ihre Strukturen. Doch gerade diese Bedingung würde die ganz grundlegende Reform voraussetzen, die öffentliche Verwaltung in ihrer politischen wie gesellschaft­lichen Umwelt zu stärken und ihnen Entscheidungsmacht über ihre Entscheidungsprämissen zuzugestehen. Eine nicht ganz unumstrittene Forderung, wo gerade im Zuge der Digitalisierungsdebatte eine stärkere Zentralisierung und Standardisierung propagiert wird.  

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Überarbeitung eines Textes, der zuerst in der „Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie“ vom 21.04.2023 erschienen ist.

Zum Weiterlesen

Apelt, M. & Männle, P. (2023). Organisation(en) der öffentlichen Verwaltung. Zur Veröffentlichung akzeptiertes Manuskript. In M. Apelt & V. Tacke (Hrsg.), Handbuch Organisationstypen. Wiesbaden: Springer VS. 

Boos, P., Geckil, C. & Muster, J. (2023). Schneller, weiter, besser? Legitimationssicherung der digitalisierten Verwaltung. Zur Veröffentlichung akzeptiertes Manuskript. In A. Wagener & C. Stark (Hrsg.), Die Digitalisierung des Politischen. Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie. Wiesbaden: Springer VS. 

Eckstein, B. & Muster, J. (2021). Postbürokratie und die agile Unsicherheitsabsorption in Interaktionen. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie, 52(3), 649–657. https://doi.org/10.1007/s11612-021-00599-1

Heuberger, M. (2020). Digitaler Organisationswandel. In T. Klenk, F. Nullmeier & G. Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung (S. 587–598). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23669-454-1

Luhmann, N. (1966). Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung. Berlin: Duncker & Humblot.

Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97093-0

Luhmann, N. (2021). Die Grenzen der Verwaltung. Berlin: Suhrkamp. 

Mergel, I. (2019). Digitale Transformation als Reformvorhaben der deutschen öffentlichen Verwaltung. der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 12(1-2019), 162–171. https://doi.org/10.3224/dms.v12i1.09

Richter, P. (2012). Die Organisation öffentlicher Verwaltung. In M. Apelt & V. Tacke (Hrsg.), Handbuch Organisationstypen (S. 91–112). Wiesbaden: Springer VS. 

Autorinnen

Lene Baumgart

interessiert sich in ihrer Forschung vor allem für die Herausforderungen der Digitalisierung – und ihre Potenziale.

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Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

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