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Fallbeispiel Schichtarbeit

Eine Zumutung zu viel

  • Sarah Schmid
  • Dienstag, 5. Dezember 2023
zumutung zu viel uhr

In Tätigkeiten, die bis in Detail verregelt sind, haben kleine Freiheiten besonderes Gewicht. Die Möglichkeit, wenn schon nicht das eigene Tempo, dann wenigstens die Schicht wählen zu können, kann eine solche Freiheit sein. Wenn auch die letzte Freiheit beschränkt wird, kann das unabsehbare Folgen haben für die Organisation. Ein Beispiel aus der Praxis.

Manche Berufe oder Rollen in Organisationen sehen vor, dass die jeweilige Persönlichkeit ganz in den Hintergrund tritt. Man darf sich nicht ärgern. Man darf sich nicht extravagant kleiden. Man muss eng am Prozesshandbuch bleiben.

Besonderer Bedarf nach den kleinen Freiheiten besteht in Organisationen, die Arbeit im Schicht- und Akkordbetrieb organisieren. Wenn nicht mehr viel Selbstbestimmung überbleibt, weil nicht nur die Handgriffe, sondern auch die Geschwindigkeit vorgegeben ist, etwa am Fließband, in Reinigungskolonnen, oder am Krankenbett, wächst die Bedeutung der kleinen Gestaltungs­möglichkeiten. Das ist mal die freie Wahl, neben wem man stehen darf am Fließband, mal etwas Variation im Tätigkeitsbereich, mal nur die Variation der Reihenfolge, in der Aufgaben abgearbeitet werden müssen. Doch wonach in Schicht- und Akkordarbeit besonders gesucht wird, ist Zeitautonomie.

Freie Zeiteinteilung wird begehrt

Zeitautonomie ist ein Privileg, das in Büroarbeiten oft bis zur Selbstverständlichkeit integriert ist. Formalisiert in Gleitzeitmodellen, teilformalisiert als Vertrauensarbeitszeiten und einer starken Ergebnisorientierung; („es ist egal wann es passiert, wichtig ist nur dass es passiert“) ist in manchen Organisationen nur noch wenig Luft nach oben, was Freiheiten angeht.

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Zugeständnisse zwischen Belohung und Selbstverständlichkeit


In Schichtsystemen ist Zeitautonomie dagegen eine der kostbarsten, raren Ressourcen. Denn da, wo Arbeit in Schichten erledigt werden muss, müssen Menschen erwartungssicher und fest verplant werden. Für das Problem haben Organisationen verschiedene Lösungen: Die einen setzen auf dynamische Systeme, die in der Regel von Personen gesteuert werden müssen. Deren Aufgabe ist es dann, die Schichtpläne vorzubereiten, individuelle Verfügbarkeiten und Wünsche von Mitarbeitenden zu berücksichtigen und angesichts der Abhängigkeiten zwischen den Verfügbarkeiten, der Mindestbesetzung für eine Schicht und den Lücken in der Personaldecke nicht die Nerven zu verlieren.

Oder: Es gibt ein Schichtsystem, dem sich dem Mitarbeitenden wie einem Naturereignis fügen müssen. Wann Früh- und wann Spätschicht, wann Arbeit am Wochenende und wann an Feiertagen ansteht, steht unverrückbar fest – mitunter nicht nur für Wochen, sondern auch für Monate. Das gibt der Organisation Erwartungssicherheit (und den Mitgliedern natürlich auch), aber individuelle Wünsche und andere kleine Freiheiten der Zeiteinteilungen sind hier nicht vorgesehen.

Umstellung des Schichtsystems sorgt für Konflikte

Wir waren jüngst in einer Organisation beratend tätig, die das Schichtvergabesystem umgestellt hat: Weg vom dynamischen System, das die Schichten intervallartig einteilt und Verhandlungen zulässt, hin zu einem immer gleichbleibenden Rhythmus an Schichten, in einem vorwärts rollierenden System. Die Schichtabfolge folgt immer dem gleichen Muster, ohne Rücksicht auf den Wochentag, ohne Raum für Wünsche der Belegschaft.

Dargestellt wurde dieser Schritt als notwendig, um die Planungssicherheit zu erhöhen. Langfristig genau zu wissen, wie die Schichten aussehen würden, würde gleichermaßen administrative Vorteile haben und positiv für die Mitarbeitenden sein. Und es würde Arbeitszeit frei werden, weil nicht mehr stundenlang Personen hin- und her geschoben werden müssten.

Nicht laut ausgesprochen, aber ebenfalls ein zentrales Motiv für den Schritt war das Wiedererlangen von Kontrolle über die Schichteinteilung: In der Belegschaft hatte sich ein Tauschhandel über Einsatzorte und -zeiten etabliert. Der kam den Mitarbeitenden sehr zugute, denn sie kamen wahrscheinlicher zu ihren gewünschten Einsatzzeiten. Doch aus Sicht der Führungskräfte und des Managements wurde der Tauschhandel zu exzessiv: Sie hatten, ihrem Erleben nach, keinen Einfluss mehr über Gesamteinsatzzeiten und Zusammensetzungen von Mannschaften. Denn die von ihnen gestalteten Pläne wurden von den Mannschaften nur dankend zur Kenntnis genommen, um sie dann nach den eigenen Bedürfnissen zurecht zu tauschen.

Personal und Organisation

Der Faktor Mensch

Dem sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Doch in einem System, das den Schichtmannschaften von der Arbeitsgeschwindigkeit, über die Handgriffe und Laufwege, bis hin zu Kleidung und Schmuck exakte Vorgaben macht, war die Möglichkeit, die Schicht auszusuchen (oder zu ertauschen) das letzte Stück Autonomie, das ihnen so genommen wurde.

Dabei geht es um mehr als etwas Komfort, den man haben oder auch nicht haben kann. Zum Beispiel mussten Familien, in denen beide Eltern werktätig sind, neue Arrangements finden, etwa beim anderen Arbeitgeber um Zugeständnisse und mehr Flexibilität bitten. Denn das neue System hatte für sie keine Flexibilität mehr übrig. Entsprechend negativ wurde die Umstellung des Schichtsystems durch die Mitarbeitenden aufgenommen – unter anderem mit einer Reihe an Kündigungen als stärkster Ausdruck von Protest.

Ein alternativloser Schritt, sagt die Organisation

Der Fall zeigt, wie zwei unterschiedliche Perspektiven und vor allem: unterschiedliche Gewichtungen des gleichen Gegenstands in einer Organisation für Konflikt – oder noch schlimmer, für kündigende Mitarbeitende sorgen kann.

Für die Organisation kam die Heftigkeit, mit der das neue Schichtsystem abgelehnt wurde, überraschend. Aus Sicht des Managements war das Tauschen von Schichten und der Ermöglichung von Wunschschichten immer nur ein Bonus gewesen. Niemand hatte je formale Ansprüche zugestanden bekommen, nie am Wochenende, oder so oft es geht am Sonntag (für die Zulage) zu arbeiten. Natürlich sorgt es für Unmut, wenn ein Faktor, der die Arbeit entspannter gemacht hat (so die Sichtweise), verloren geht – aber da muss man keinen großen Aufstand veranstalten.

Informale Retentionprogramme

Mitarbeiterbindung im Graubereich

Außerdem stellte sich für das Management der Schritt ohnehin als alternativlos dar. In Organisationen ist Erwartungssicherheit das höchste Gut. Dass die Schichten irgendwie stattfinden, gab dabei aber nicht genug Sicherheit. Bei Erwartungssicherheit geht es für die Gestaltenden in der Organisation auch um Deutungshoheit. Wenn Schichteinteilungen nur noch das Papier wert sind, auf der sie ausgedruckt sind, weil alles getauscht wird, verliert die Organisation die Deutungshoheit über ihre eigenen Verhältnisse.

Und wer keine Deutungshoheit genießt, hat auch keine Ansätze zur Gestaltung.

Eine Zumutung zu viel, sagen die Mitglieder

Aus der Sicht der Mitglieder dagegen ist völlig unerheblich, ob Schichten tauschen und die Berücksichtigung ihrer Wünsche formal zugesichert oder nur ein Bonus ist. Sie hatten die Organisation so kennen gelernt. Es war für sie erlernte Normalität, eine Selbstverständlichkeit, dass sie nicht immer, aber oft genug, die Schichten bekamen, die sich gut in ihr Leben einfügten.

Wer sich für die Arbeit in einer dieser Schichtmannschaften entschied, zeigte schon Bereitschaft, einige Zumutungen hinzunehmen: Repetitive Tätigkeiten, wenig Chancen zum Austausch, Arbeit zu ungewöhnlichen Zeiten, ein leidender Schlafrhythmus, um nur einige zu nennen. Aber der Verlust der Zeitautonomie stellte sich als eine Zumutung zu viel heraus.

Deswegen ist auch der vermeintliche Gewinn von Planungssicherheit für die Mitarbeitenden irrelevant: Sie hatten nie ein Bedürfnis nach Planungssicherheit – wohl aber nach Flexibilität, und mochte die noch so klein sein.

Gestaltungshoheit gewonnen – aber Flexibilität verloren

Vor dem Hintergrund ist es eine durchaus ironische Entwicklung, wie die Maßnahmen der Organisation zur Lösung des diffusen Problems der Durchsetzungsfähigkeit, ihr ein handfestes neues Problem beschert hat: Im alten System haben die Mannschaften selbst dabei mitgeholfen, dass Schichten mit ausreichend Mitarbeitenden besetzt sind. Ein Großteil des Tauschens hatte nicht das Realisieren von Präferenzen als Ausgangspunkt, sondern war schlicht ein Einspringen bei Ausfällen.

Diese Bereitschaft, den Kolleg:innen und damit der Organisation zu helfen, wurde durch das neue Schichtsystem zunichte gemacht. Wer zuvor gerne und flexibel eingesprungen war, blieb jetzt dem ausgegebenen Plan treu, mit Verweis darauf, dass Tauschen auch nicht mehr möglich sei, und es jetzt doch Planungssicherheit gebe. Die gelte entsprechend in zwei Richtungen.

So hatte sich die Organisation von weichen, vielleicht tatsächlich zu wenig geführten Strukturen, ins andere Extrem befördert: Zu unbeweglichen Strukturen, die den Umgang mit Überraschungen zu einer unlösbaren Herausforderung erhoben.

Wo braucht es feste Strukturen? Wo ist dynamisches Führen hilfreicher?

Man kann also Organisation tatsächlich zu umfassend strukturieren. Vermeintlich scheint ein durchorganisiertes System die Deutungshoheit in die Hände der Hierarchie zu legen und die mächtigsten Steuerungshebel anzubieten. Aber gleichzeitig wird situatives Führen unwahrscheinlich.

Wenn alles verregelt ist, bleiben keine kleinen Freiheiten mehr über: Keine Arbeitserleichterungen und keine Chance, durch Feiertagsschichten mehr Zuschläge zu sammeln. Dann haben Mitglieder keinen Grund mehr, sich auf mehr als Dienst nach Vorschrift einzulassen. Sie erhalten von der Organisation nicht mehr als das Minimum – also geben sie auch nur das Minimum.

Was für unsere Arbeit mit den Schichtmannschaften unser Rat war, lässt sich leicht für andere Situation adaptieren: Es ist auch kluge Organisations­gestaltung, bewusst Lücken in den formalen Regeln zu lassen. Es ist seltener ein Problem, und meistens zum Vorteil der Organisation, wenn sich informale Mittel und Wege ergeben.

Denn die stehen auch den Führungskräften bereit. Ein Regelsystem, das für alle gilt, kann keine individuellen Wünsche berücksichtigen. Das ist die Chance für kluge Führungskräfte, um die Lücken zu nutzen und mit ihren Mitarbeitenden zu folgenden Themen in den Austausch zu treten:

  • Was sind individuell erlebte Zumutungen – wie könnte man die abbauen?
  • Was ist ein Privileg, oder eine kleine Freiheit, die die Arbeit erleichtert oder lohnenswerter macht?

Wo Führungskräfte Antworten auf diese Fragen haben, können sie Angebote machen – und über Führung auf eine Weise für Erwartungssicherheit sorgen, wie es lückenlose Strukturen nie könnten.

Sarah Schmid

interessiert sich besonders für die Aushandlungen des Alltags, zwischen „So steht es geschrieben“ und „so wird es gemacht“.

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