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Grenzfälle im selbstverwalteten Gesundheitssystem

Wo endet der Kunde, wo beginnt der Partner?

  • Simon Weber
  • Sebastian Barnutz
  • Montag, 16. Mai 2022
Wo endet der Kunde, wo beginnt der Partner
© Arkadiusz Szwed

Kliniken sind für BioTech- und Pharma-Unternehmen nicht nur Kunden, die von ihnen Therapien und Medikamente einkaufen. Sie sind mittlerweile auch unverzichtbar für die internen Arbeitsabläufe der Unternehmen, da sie Aufgaben übernehmen und Informationen erheben, die Pharma zwingend benötigt. Was bisher auf dem Papier eine Kundenbeziehung war, ist heute eine Integration in die Wertschöpfungskette – die in der Arbeitslogik der Organisationen der Life Sciences Branche aber noch nicht vollständig beachtet wird.

Die besonderen Anforderungen bei der Arbeit mit dem Gesundheitssystem

Unternehmen sind vom reibungslosen Ablauf ihrer Versorgungsketten abhängig. Der Automobilhersteller kann nicht ohne seine Zulieferer, die Verlage nicht ohne Papier, der Anlagenbauer nicht ohne die Produktionsdaten der späteren Betreiber. Die Zusammenhänge zwischen den Herstellern, Zulieferern und Betrei­bern sind so eng, dass es sich manchmal falsch anfühlt, von verschie­denen Organisationen zu sprechen – da ihre Ziele und Wertschöpfungen so eng miteinander verbunden sind.

In gewisser Form trifft dies auch auf moderne Pharma- und BioTech-Organisa­tionen zu. Hier bestehen die Abhängigkeiten nicht in Form von Material – sondern in Form von Information. Moderne Medizin kennt zwar noch das Medikament für die Massen, doch werden die Therapiekonzepte immer integrativer und individueller. Patient:innenspezifische Marker werden erhoben, und maligne Erkrankungen im Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen behandelt. Für diese Therapiekonzepte sind Unternehmen auf die Zusammen­arbeit mit Kliniken angewiesen. Die Kliniken müssen Qualitätsstandards annehmen, Langzeitbeobachtungen durchführen, Daten erheben, neue (Arzt-)leistungen anbieten und Teile der Produktion übernehmen.

Wechselseitige Abhängigkeiten bestimmen die Zusammenarbeit

Daraus ergibt sich für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Kliniken eine komplizierte Gemengelage. Kliniken und Behandler:innen gehören zur Hauptkundschaft von Pharma- und BioTech-Organisationen. Dass sie gleichzeitig für die Weiterentwicklung von Therapien und die Anwendung von Produkten benötigt werden, macht sie außerdem zu einem wichtigen Teil der Wert­schöpfungskette. Die Pharma- und BioTech-Organisationen versuchen dem aus ihrer Binnenlogik heraus Rechnung zu tragen. Es gibt spezialisierte Stellen, die jeweils nur über eng definierte Ausschnitte mit Kliniken sprechen können und zum Beispiel Kliniken bei der Qualifizierung zum Einsatz neuer Therapien unterstützen.

Innerhalb der Organisation „Klinik“ ist die Arbeitsteilung anders organisiert. Für Mitarbeitende von Klinken gelten andere Rationalitäten und Erwartungen, die sie erfüllen müssen. Natürlich wollen Behandler:innen eine Therapie einsetzen, die effektiv wirkt und die Lebensqualität der Patient:innen verbessert. Der Einsatz von Medikamenten hängt aber nicht singulär an einer medizinischen Abwägung. Über das Für und Wider entscheiden auch organisationale und wirtschaftliche Rationalen. Wenn es um diese Rahmenbedingungen geht, können Pharma- und BioTech-Organisationen oft nur von außen zuschauen – und mit den Verhältnissen umgehen, die sie vorfinden.

Die wirtschaftlichen Rationalitäten der Kliniken sind nicht zu unterschätzen

Die wirtschaftlichen Rationalen haben Einfluss darauf, welche Therapie­möglichkeiten eine Klinik weiterverfolgt – und welche sie verwirft. Es wird Teil von unternehmerischer Risikokalkulation, den Aufbau einer Infrastruktur abzulehnen, wenn die Anzahl möglicher Patient:innen noch unbekannt ist oder nicht zu erkennen ist, wie hoch die Vergütung für die Gesundheitsleistung sein wird. „Wer erstattet die Arztleistungen“ ist eine Frage, die bei jedem Strukturaufbau mitgeführt wird.

Wenn es etwa eine neue Therapie gibt, die nach medizinischen Gesichtspunkten eine von passenden Spender:innen abhängige Stammzellentransplantation ersetzen könnte, muss es noch lange nicht aus der Gesamtlogik einer Klinik richtig sein, diese auch anzubieten. Anbieter von Stammzellentransplantationen sein zu können, ist aus der Sicht einer Klinik nicht nur Teil ihrer Qualifizierung als Spitzenzentrum, sie wirkt auch wirtschaftlich attraktiver als die neue Therapie – weil man das „Geschäftsmodell“ dahinter kennt und weil Abläufe und Ausstattungen auf dieses Therapiekonzept optimiert sind und die Routine gut läuft.

Neue medizinische Lösungen erhöhen die Anforderungen an die Organisationsstruktur

Kliniken müssen auch ihre Organisationsstrukturen an den Einsatz neuer medizinischen Lösungen anpassen. Dabei geht es nicht nur um Anforderungen an die Infrastruktur. Neue Therapien bringen neue Dokumentationspflichten mit sich – und zwar gegenüber den Pharma-Unternehmen und Behörden. Pharma-Unternehmen müssen nicht nur die Qualität ihrer Produkte sicherstellen. Behörden machen es ihnen zur Auflage, auch die Qualität in der Anwendung zu garantieren. Das Unternehmen muss einen Weg finden, wie es diese Auflage an die Kliniken weitergibt.

In anderen Zusammenhängen gibt es Kooperationen auf partnerschaftlicher Ebene zwischen Pharma-Unternehmen und Kliniken. So gibt es etwa neue Therapieformen, bei denen die Therapie mit Hilfe von Zellen der erkrankten Patient:innen produziert wird. Die benötigten Zellen können Patient:innen nur in einer Klinik entnommen werden. Die Klinik ist damit nicht nur Anbieterin der Gesundheitsleistung, sondern auch Teil der Supply Chain des Unternehmens und muss etwa Lieferzeiten und Übergaben organisieren.

Nur in Kliniken können die für die Industrie relevanten Daten erhoben werden.

Schließlich gibt es Arbeitszusammenhänge, in denen die Pharma- und BioTech-Unternehmen vom guten Willen der Kliniken abhängig sind. Das passiert etwa, wenn Unternehmen aufgefordert werden zu bestätigen, dass ihre Therapien und Produkte nicht nur in klinischen Studien, sondern auch im Alltag der Gesund­heitsversorgung erfolgreich sind. Die Unternehmen müssen sich dann an die Kliniken wenden. Hier werden die Patient:innen behandelt und nur hier können die für die Industrie relevanten Daten erhoben werden. Für die Kliniken sind solche Erhebungen oft ein Mehraufwand, der keinen unmittelbaren Nutzen erzeugt. Für die Pharma- und BioTech-Unternehmen hängt von den Daten allerdings die Zulassung ihres Produkts ab.

Grenzstellen erleichtern die Kommunikation zwischen Organisationen

Wo Organisationen auf derart komplexe Verhältnisse in ihrer Umwelt treffen, bilden sie besondere Rollen aus, die in der Soziologie „Grenzstellen“ genannt werden. Grenzstellen sind spezialisierte Positionen in Organisationen, die mit Nicht-Mitgliedern ihres organisationalen Feldes kommunizieren. Grenzstellen sollen die Fragen, Probleme und Inputs aus der Umwelt aufgreifen und für die eigene Organisation übersetzen. Die Leistung von Grenzstellen beginnt bei der Beobachtung alltäglicher Fragen. Sie gleichen ab, was ihre Organisation für die Realität hält – und was sich in ihrem bestimmten Beobachtungszuschnitt (eine Gruppe Behandler:innen, eine spezifische Klinik, oder eine Behörde) zuträgt. Grenzstellen nehmen die Information aus der Umwelt wahr, reduzieren sie auf die für die Organisation relevanten Aspekte, befreien sie von Unsicherheiten und reduzieren ihre Komplexität. Dadurch werden die Informationen organisa­tionsintern bearbeitbar.

In Pharma- und BioTech-Unternehmen sind insbesondere Grenzstellen nötig, welche die lokalen Rationalitäten in Kliniken beobachten. Ein Pharma-Unternehmen, das klug vorgeht, kann seine Grenzstellen beauftragen, ihren Umweltausschnitt auf bestimmte Fragen abzuklopfen – und das immer in drei Richtungen – medizinisch, organisational und wirtschaftlich:

  • Welche Rahmen sind den Behandler:innen gesetzt?
  • Wie stellt sich die Marktsituation aus ihrer Sicht dar?
  • Nach welchen Prämissen treffen Behandler:innen ihre Abwägungen mit Blick auf neue Therapien?
  • Welchen Gestaltungsspielraum haben sie?

Beispiel: Wieso ein medizinisch besseres Produkt im Markt kaum Erfolg hat

Gelingt es Organisationen, diese Informationen aufzuspüren, ist der erste Schritt gemacht. Häufig ist es für Organisationen aber eine Herausforderung, diese Information produktiv aufzunehmen. Wenn neue Informationen von der bisherigen Sichtweise abweichen, muss die Grenzstelle die Informationen umsichtig in die Organisation tragen. Eine Stärke von Organisationen ist, Erwartungssicherheit herzustellen. Informationen, die diese Sicherheit erschüttern können, werden häufig verdrängt. Obwohl Grenzstellen nach neuen Informationen suchen sollen, kann es für Organisationen überraschend schwer sein, aus den Informationen der Umwelt Rückschlüsse für das eigene Handeln zu ziehen. Für Unternehmen wie Pharma- und BioTech-Organisationen kann das heißen, dass man sich eher auf die erprobten Routinen einer Markteinführung verlässt – auch wenn die Marktbeobachtung andere Signale sendet.

Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Ein Pharma-Unternehmen wollte in einer virologischen Indikation eine innovative Therapie einführen, die mit weniger Medikamenten besser Ergebnisse für den Patienten erreichen konnte – das wurde durch Studien bestätigt. Diese medizinischen Vorteile wollte das Unternehmen nach vorn stellen.

In Krisenzeiten bleiben Behandler:innen bei etablierten Therapien.

Die Einführung fiel in die Corona-Pandemie. Eine Vielzahl der Behandler:innen war durch Corona-Patient:innen derart in Beschlag genommen, dass sich deren Risikoeinschätzung indikationsübergreifend veränderte. Sie bevorzugten die etablierte Therapie. Ihnen war der Einsatz einer neuen Therapie trotz der medizinischen Verbesserungen zu risikoreich. Abläufe waren ungeübt, Reak­tionen von Patient:innen unklar und zudem nahmen Behandler:innen an, dass ihnen die nötige Aufmerksamkeit in dieser Veränderungsphase fehlte. Das Unternehmen wurde von dieser Absage kalt erwischt. Aus ihren Routinen und gewohnten Annahmen heraus gab es keinen Grund damit zu rechnen. Sie hatten die organisationale Rationalitäten der Behandler:innen aus dem Blick verloren.

Wie man Grenzstellen für ihre Aufgabe befähigt

Insbesondere für Pharma- und BioTech-Unternehmen, in denen die Verflech­tungen und wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Organisation und Umwelt, die in Form der Kliniken mal Kunde, mal Partner, mal wichtiger Informations­lieferant sind, müssen alle drei Rationalitäten, die in Kliniken wirken, bekannt sein. Und sie müssen in der Lage sein, ihr Vorgehen an die neuen Erkenntnisse anzupassen, bevor man durch sie überrascht wird. Damit dies gelingt, ist es elementar, die Informationen der Grenzstellen zu integrieren und Konsequenzen daraus zu ziehen – auch wenn es organisationale Veränderungen zur Folge hat:

  • Zu stark spezialisierte Grenzstellen erfassen nur ein sehr begrenztes Bild vom Markt!
  • Das Potential von Informationen über den Markt entfaltet sich nur durch die Integration in den internen Diskurs!
  • Wer auf seine Grenzstellen hört, muss keine Marktforschungen beauftragen!

Wer also mit dem Ziel an den Start geht, die Verhältnisse in der Gesundheits­vorsorge anzugehen, der stellt fest, dass man an der eigenen Organisation anfangen muss. So ist die intendierte Irritation der Umwelt eigentlich die Irritation der Binnenlogik. Dafür sind die Funktionen von Grenzstellen nicht zu unterschätzen.

Autoren
Simon Weber

Simon Weber

interessiert sich für erfolg­reiche Strategie­prozesse im Ökosystem Life Sciences.

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Dr. Sebastian Barnutz

ist besonders interessiert daran, wie Organisationen mit starken Compliance-Vorgaben zwischen Formalität und Informalität verhandeln.

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