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Organisation und Gesundheit

Wenn die Gesundheit des Patienten von der Gesundheit der Organisation abhängt

  • Wiebke Gronemeyer
  • Anna von Bismarck
  • Mittwoch, 20. April 2022
Wenn Gesundheit von Patienten von Organisationen abhängt
© Arkadiusz Szwed

Die Anforderungen an Ärzt:innen – und Pflegepersonal – werden immer komplexer. Eine große Rolle spielen dabei die Strukturen, in denen sie sich bewegen. Wir benennen fünf Möglichkeiten, wie Gesundheitsorganisationen sich aufstellen können und so gleichzeitig medizinisch und wirtschaftlich sinnvoll handeln.

Seit mehr als 2.000 Jahren ist der hippokratische Eid die Grundlage für das ethische Verhalten eines jeden Arztes. Doch das Gelöbnis ist nicht statisch: Zuletzt schlug 2017 der Weltärztebund Änderungen an der modernen Version des Eids (der „Genfer Erklärung“) vor. Dazu gehörte vor allem die Forderung, dass Ärzt:innen für ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlergehen sorgen, ihre Kolleg:innen und Studierende respektieren und ihr medizinisches Wissen „zum Wohle des Patienten und zur Förderung des Gesundheitswesens“ teilen sollen.

Schaut man auf die wachsende Arbeitsbelastung von Krankenhauspersonal – nicht nur im Hinblick auf das Pandemiemanagement, sondern weit darüber hinaus im Laufe der letzten Jahrzehnte – ist diese neue Formulierung der Genfer Erklärung unabdingbar. Aber nicht nur der stetig wachsende Anteil an administrativen Tätigkeiten, mit denen sich die Ärzt:innen auseinandersetzen müssen, ist Grund für die Änderungen. Im Fokus stehen Organisationsschmerzen der Einrichtungen, in denen die sie tätig sind.

Medizinische Ausbildung bereitet nicht auf die Komplexität der Organisation vor

Die Arbeitsteilung in jeder komplexen Organisation erfordert, dass sich die Mitarbeitenden untereinander abstimmen, gemeinsam Entscheidungen treffen und als Team arbeiten. Gerade in klinischen Organisationen ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteur:innen wichtig. Jeder, der als Patient:in schon einmal in einem Krankenhaus war, kann das bestätigen.

In der medizinischen Ausbildung gibt es jedoch selten die Möglichkeit, systematisch Formen der Zusammenarbeit zu erlernen oder Führungsqualitäten zu trainieren. Stattdessen konzentriert man sich auf die Frage, wie man therapeutische Entscheidungen (ausschließlich) auf der Grundlage medizinischer Rationalität trifft. Sie bereitet Ärzt:innen nicht darauf vor, komplexe Managemententscheidungen im Kontext mikropolitischer Machtspiele innerhalb einer stark hierarchisch geprägten Organisation wie einer Klinik zu treffen. Diese Entscheidungen bleiben dadurch Akteur:innen überlassen, die nicht die medizinische, sondern wiederum ausschließlich die wirtschaftliche oder organisatorische Perspektive im Blick haben.

Wie sieht es mit der Gesundheit der Organisation aus, in der medizinisches Personal eingesetzt wird?

Diese Ausbildungsdefizite führen letztlich zu Funktionsstörungen in den Gesundheitsorganisationen und zu Stress, massiver Überbelastung und Unzufriedenheit bei den medizinischen Fachkräften. Doch welche Auswirkungen hat das auf die Patient:innen?

Der neue Eid suggeriert, dass die Rolle der Ärzt:innen in der Medizin so zentral ist, dass eine umfassende und kompetente Patientenversorgung nur dann möglich ist, wenn die Ärzt:innen ihre eigene Gesundheit und Zusammenarbeit sicherstellen. Wenn dies zutrifft (wovon auszugehen ist) – wie sieht es dann mit der Gesundheit der Organisation aus, in der das Personal eingesetzt wird?

Fünf Möglichkeiten, die Struktur von Gesundheits­organisationen klüger einzustellen

Wollen Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen ihre Strukturen überarbeiten, begegnen ihnen dabei in der Regel drei Problemfelder, die jeweils Priorität zu haben und einander zu blockieren scheinen. 1) Optimale Patient:innenversorgung trifft auf 2) Verbesserung der Arbeitsbedingungen fürs Personal trifft auf 3) eine starke und wettbewerbsfähige Position am Markt.

Doch was wie Gegensätze erscheint, ergänzt sich in der organisations­gestaltenden Praxis. Gesundheitsorganisationen müssen Zeit und Geld aufwenden, um den Markt zu verstehen, ihre Organisationsstrukturen auf diesen Markt einstellen und die Führungskompetenz der Mitarbeitenden stärken. Auch wenn es klingt als bliebe dabei die optimale Versorgung der Patient:innen außen vor, hilft gerade das Thematisieren der organisationalen Hebel, eine Klinik so aufzustellen, dass sie den Menschen noch mehr hilft.

Wir haben fünf Ansatzpunkte identifiziert, an denen Gesundheitsorganisationen ihre Strukturen besser einstellen – und damit sich und ihren Patient:innen helfen können.

Mit diversifiziertem Angebot die Patientenbeziehungen vervielfältigen

Eine Möglichkeit, wie Patient:innen von einer besseren Einstellung der Organisation profitieren können, ist die Diversifizierung der angebotenen Leistungen. Wie diese aussehen kann, zeigt eine gynäkologische Abteilung eines regionalen Krankenhauses in einem europäischen Ballungsgebiet. Für die Abteilung wurde als Ziel ausgegeben, ein interdisziplinäres Brustzentrum aufzubauen, das modernste Therapien für Krebspatientinnen anbieten kann. Doch statt der Reihe nach Spezialisten für die Krebsbehandlung einzustellen, machte der Leiter es zur Bedingung, dass sich die Ärzt:innen auf mindestens eine alternative Therapie der Komplementärmedizin spezialisierten (z.B. auf Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), um Nebenwirkungen der Chemotherapien zu lindern).

Dies geschah mit Blick auf eine strategische Überlegung: Das Zentrum sollte sich im Ballungsgebiet zu einem Anlaufpunkt der Bevölkerung entwickeln. Patient:innen, die bei der einen Behandlung eine gute Erfahrung gemacht hatten, sollten über die Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten und -ansätzen die Gelegenheit bekommen, sich wieder für das Zentrum zu entscheiden. Vor dem Hintergrund hat die Klinik ebenfalls entschieden, den vormals geschlos­senen Kreißsaal wieder zu eröffnen – obwohl der Betrieb nicht rentabel ist. Das Ziel war dabei, die Klinik zu einem integralen Bestandteil des Lebens der Familien in allen Phasen des Lebenszyklus zu machen, in Zeiten der Krankheit und der Gesundheit. Indem man zum gynäkologischen Maximalversorger wurde, war man auch Anlaufpunkt in Situationen, die eine hochspezialisierte Versorgung erforderten.

Das medizinische Personal wieder von administrativer Arbeit entlasten

Angebotserweiterungen, Neueinstellungen, also: Wachstum einer Organisation, führt unweigerlich zu einer höheren Arbeitsbelastung. In wachsenden Gesundheitszentren sind die Ärzt:innen oft in einem endlosen Kreislauf aus unzureichendem Angebot und steigender Nachfrage gefangen. Mit der Zahl der täglichen Patient:innenbesuche steigt auch die Arbeitsbelastung. Schließlich können wachsende Zentren zusätzliches medizinisches Personal einstellen, aber es gibt immer eine Verzögerung zwischen dem Bedarf an zusätzlicher Unterstützung und dem Eintreffen neuer Mitarbeitenden.

Aus Kostengründen ist es in vielen Einrichtungen üblich geworden, so wenig Personal wie möglich für ausschließlich administrative Aufgaben vorzuhalten. Der Effekt ist, dass insbesondere Assistenzärzt:innen mit sekundären Aufgaben überlastet sind – denn die Arbeit bleibt dennoch bestehen. Es wirkt kontra­intuitiv, aber die entgegengesetzte Bewegung ist effizienter: Strukturen zu schaffen, die die Ärzt:innen von der administrativen Arbeit befreien – und ihnen mehr Zeit für die Patient:innen lassen.

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Der Faktor Mensch

Durch Stationssekretär:innen auf den einzelnen Etagen oder dezidierten study nurses in der onkologischen Betreuung von Krebspatient:innen mit innovativen Therapiemodi werden Ärzt:innen von administrativen Aufgaben entlastet. Die Triage für die Notaufnahme sowie die Planung von OPs können ‚verregelt‘ werden; manche Aufgaben wie z.B. Reinigungsdienste können (wieder) internalisiert und damit leichter flexibilisiert werden – was wiederum eine ad hoc Aufnahme von Patient:innen ermöglicht. Dies wiederum ermöglicht weiteres Wachstum, da die Ärzt:innen mehr Zeit für neue Patient:innen aufwenden können.

Meetings durch Vorabsprachen und strikte Diskussionsführung verbessern

Eine verlässliche Meetingstruktur in einem Krankenhaus zu etablieren, kommt einer Quadratur des Kreises gleich. Operationen dauern länger, Patient:innen müssen dringend visitiert werden, die Notaufnahme läuft über – und gerade, weil die Dauerprobleme in Kliniken umso dringlicher sind, muss es gelingen, dass strategische Sitzungen stattfinden.

Ein Beispiel dafür ist das interdisziplinäre Tumorboard. Gut vorbereitet wird aus dieser Sitzung ein einstündiges Meeting, in dem nicht im Eilzugverfahren über die Patient:innen informiert wird, sondern vollinformierte Entscheidungen der beteiligten Akteur:innen getroffen werden. Vorbereitung heißt, dass sich die Assistenzärzt:innen der relevanten Disziplinen und den bildgebenden Expert:­innen im kleinen Kreis auf die jeweiligen Fälle vorbereiten. Dies ermöglicht eine offene Kommunikation im Board und eine durchdachte Beratung. Die Sitzungen werden weniger durch Mikropolitik beeinträchtigt und verlaufen zielgerichteter.

Zusätzlich helfen klare, mitunter taktlos wirkende Gesprächsregeln: Es steht fest, wer wann gehört wird – und wer das letzte Wort hat. Dies mag wie ein Unterbinden von Diskussion wirken, hilft aber beim Sammeln von Erkenntnissen und erleichtert letztlich die Zusammenarbeit. Erfahrungsgemäß werden die Reibungen zwischen den Abteilungen geringer, was letztlich die Qualität der Versorgung verbessert.

Fehlerquellen abstellen – aber Verursachenden von Fehlern Anonymität zusichern

Fehler zu machen ist menschlich und oftmals unvermeidlich. Doch gerade in Organisationen, die auf höchste Zuverlässigkeit angewiesen sind, braucht es ein dezidiertes Fehlermanagement, um schnellstmöglich aus Fehlern zu lernen. Dabei geht es zunächst auch um die Frage, wie Fehler überhaupt offensichtlich werden. In Krankenhäusern haben sich IT-basierte Systeme bewährt, die alle Organisationsmitglieder (Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen, etc.) dazu ermutigen anonym zu melden, wenn ihnen ein Fehler unterlaufen ist oder unterlaufen sein könnte. Obwohl es gerade in kleineren Häusern relativ einfach wäre, die für diese Fehler verantwortlichen Personen zu ermitteln, muss sich Verwaltung und Management darüber im Klaren sein, dass dies nicht in ihrem Interesse liegt. Sie sollten den Fokus auf die Daten legen, um die Prozesse, die zu den Fehlern geführt haben könnten, zu untersuchen und zu verbessern. Amy Edmondson vom Harvard Leadership Institut bringt es auf den Punkt: für eine sichere Patient:innenversorgung kommt es darauf an, dass Fehler offen gelegt werden, um gemeinsam daraus zu lernen. Die Suche nach einem ‚Schuldigen‘ ist sinnfrei, verhindert Transparenz und fördert sogar eher Folgefehler.

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Auf den guten Willen der Akteur:innen vertrauen

Immer dann, wenn man nichts dem Zufall überlassen will, kommen Regeln ins Spiel. Je zuverlässiger die Abläufe funktionieren müssen, je mehr Regeln und Weisungen braucht es. Doch das ist ein Missverständnis. Denn das Handeln, was Zuverlässigkeit braucht, ist oftmals so situativ, dass es sich entweder gar nicht verregeln lässt, oder die Regeln in der Situation nicht zur Anwendung gebracht werden können: Der Notfallpatient kommt herein, wird direkt in den OP gefahren, die Chirurg:innen machen sich ans Werk. Das OP-Handbuch hingegen sagt: vor jeder Aktivität im OP sind strenge Desinfektionsmaßnahmen einzuhalten. Doch wenn es um Leben und Tod geht – was nützt ein steriler Toter?

Man braucht gar kein so plakatives Beispiel um zu verstehen, dass es Aus­nahmen von Regeln geben muss – auch solche, die nicht nur einmal auftreten, sondern einen gewissen Strukturwert gewinnen. Das heißt nicht, dass es keine Regeln geben sollte. Was die Organisation leisten muss, ist das Zusammenspiel zwischen Regeln und ihren Abweichungen zu beobachten und zu entscheiden, an welchen Stellen das Aufstellen von neuen Regeln Sinn macht, und wo Raum für situatives Handeln erforderlich ist. Denn es ist an dieser Stelle, wo die Menschlichkeit in der Organisation am sinnvollsten Einzug erhält. Denn sie ist es, die dank Erfahrung und dem Common Sense Konflikte lösen kann, die man aus Organisationsperspektive nicht wegorganisieren kann oder will.

Autorinnen

Dr. Wiebke Gronemeyer

ist Senior Consultant bei Metaplan. Ihre besondere Leidenschaft gilt der Gestaltung von Strategien in komplexen Umgebungen durch gut gewählte Diskurse.

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Anna von Bismarck

ist Senior Consultant bei Metaplan. Sie ist eine erfahrene Beraterin für Organisationsgestaltung und Führung in Gesundheits­wesen & LifeScience.

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