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Holacracy

Warum Holacracy ein Glücksfall für die Organisationsforschung ist

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 24. März 2023
Holacracy als Glücksfall für die Organisationsforschung

Trends in der Arbeitswelt erweisen sich oft als leere Begriffe: “New Work” etwa kann von jeder Organisation anders interpretiert werden, ähnlich ist es bei Agilität. Anders ist es bei Holacracy: ein klares Konzept, das für alle Organisationen gleich ist. Ein Glücksfall für die Organisationsforschung.

Immer mal wieder kommt es vor, dass eine Variante des Organisierens den Sprung vom schlichten Konzept hin zur Managementmode schafft. Managementmoden sind breit geteilte Vorstellungen darüber, wie Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser, Hochschulen, Schulen, Armeen, Polizeien oder Verbände besser organisiert werden können. Sie setzen an dem in Organisationen verbreiteten Bedürfnis an, wahrgenommene Defizite zu beheben und bisher nicht genutzte Verbesserungsmöglichkeiten zu erschließen. Managementmoden suggerieren dabei, dass durch die Einführung neuer Gestaltungsprinzipien die Anpassungs-, Leistungs- und Innovationsfähigkeit erhöht werden können.

Der Begriff der Mode impliziert, dass Organisationen von dem aktuell favorisierten Konzept „angesteckt“ werden. Ähnlich wie bei Kleidermoden gibt es auch bei Organisationsmoden Vorreiter, an denen sich dann irgendwann viele andere orientieren. Wer dieser Vorreiter ist, kann man nicht wissen, aber sobald sich ein solcher herauskristallisiert, orientieren sich immer mehr an ihm. Es findet ein Prozess der „sozialen Ansteckung“ statt, dem man sich immer schwerer entziehen kann. Irgendwann ist der soziale Druck so stark, dass man sich rechtfertigen muss, weswegen man nicht – je nach aktueller Modewelle – gerade lean, digital oder agil ist.

Die neueste Managementmode zu tragen, sichert Legitimität

Wenn eine neue Managementmode in der Wirtschaftspresse, in Managementzeitschriften und auf Führungskräftekonferenzen hochschwappt, dann bleibt vielen Organisationen häufig nichts anderes übrig, als sich diesen Managementmoden in irgendeiner Form anzupassen. Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass das Überleben vieler Organisationen nicht allein durch ihre Fähigkeiten bei der Herstellung von Produkten, der Erbringung von Dienstleistungen oder Unterrichtung von Schülern oder Studierenden beeinflusst wird, sondern maßgeblich von der Legitimität in ihrer relevanten Umwelt abhängt. Insofern macht es für Organisationen Sinn, sich nicht nur zu allgemein akzeptierten Werten wie Umweltschutz, Menschenrechte, Diversität oder Geschlechtergleichstellung zu bekennen, sondern sich auch als innovative und flexible Organisation zu positionieren. Dabei spielt die zumindest verbale Anpassung an die jeweils aktuellen Managementmoden eine wichtige Rolle.

Vielfach lassen sich die Umweltanforderungen durch symbolische Maßnahmen auf der Schauseite von Organisationen befriedigen. Die Kommunikationsabteilung legt einen neuen Leitbildprozess auf, die Personalentwicklungsabteilung kauft neue Schulungen ein und die Qualitätssicherungsabteilung passt ihre Beobachtungsraster an. Sicherlich – solche Maßnahmen gehen in vielen Fällen nicht spurlos an der Organisation vorbei, aber in den seltensten Fällen finden sich dann unmittelbare Wirkungen in der Form von grundlegend veränderten formalen Erwartungen. Die zur Legitimationsproduktion dienende Schauseite der Organisation und die formale Seite bleiben weitgehend entkoppelt.

Holacracy bleibt nicht auf der Schauseite der Organisation stehen

Diese für Managementmoden übliche Form von Entkoppelung von Schau- und formaler Seite findet in holakratischen Organisationen faktisch nicht statt. Der Versuch, das Konzept der Holacracy patentieren zu lassen, zielt nicht nur darauf, das Konzept umfassend zu monetarisieren, sondern auch den formalen Rahmen für die anwendenden Organisationen zu fixieren.[1] Die durch die holakratische Verfassung angesetzten Prinzipien sind so stark fixiert, dass jede Änderung sofort als formale Erwartung festgeschrieben wird. Intensiviert wird dieser Prozess dadurch, dass die holakratische Steuerungssoftware kaum Spielräume für Abweichungen in der Formalstruktur lässt. Holakratische Organisationen ändern – anders als viele andere Organisationen, die sich Managementmoden anpassen – nicht vorrangig ihre Außendarstellung, sondern besonders ihre formale Struktur.

Die Einführung von holakratischen Strukturen soll, so jedenfalls die Vorstellung, dazu führen, dass alle Mitarbeiter die „gleiche Sprache“ sprechen. Weitergehend ist die Vision, dass große Unternehmen, innovative Start-ups und kleine Geschäfte durch die Einführung von Holacracy eine gemeinsame Verständigungsbasis haben, über die sie Ideen teilen, Talente austauschen und Innovationen entwickeln könnten. Man braucht eine gewisse Frustrationstoleranz, um die komplexen Prinzipien der Holacracy zu verstehen. Hat man sie verstanden, kann man aber problemlos von einer holakratischen Organisation zur nächsten wechseln.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Der Glücksfall einer stark standardisierten Managementmode

Für Organisationsforscher ist das hohe Maß an formaler Standardisierung holakratischer Organisationen ein Glücksfall. Untersuchungen über neue Organisationsformen leiden darunter, dass kaum eine Organisation der anderen gleicht. Manchmal handelt es sich bei der Umsetzung von revolutionär gehandelten Managementprinzipien lediglich um kleinere Bemühungen in einigen wenigen Abteilungen, die weitgehend isoliert vom Rest der Organisation ablaufen. Gelegentlich verstehen sich Organisationen allein schon dann als agile Vorreiter, wenn sie ein oder zwei Hierarchieebenen abschaffen und einige abteilungsübergreifende Projektteams einrichten, ohne an den Grundprinzipien der eigenen Organisation etwas zu ändern. Die gemeinsamen Merkmale von als Vorreiter gehandelten Organisationen zu identifizieren, ähnelt nicht selten dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.

Dieses Problem stellt sich bei holakratischen Organisationen nicht. Holakratische Organisationen funktionieren alle nach einer genau festgelegten Blaupause, sodass sich die Struktureffekte in den verschiedenen holakratischen Organisationen sehr stark ähneln. Innerhalb der holakratischen Prinzipien können Organisationen den Zuschnitt der Rollen oder Kreise permanent verändern, für die Abweichung von einzelnen holakratischen Prinzipien braucht es jedoch faktisch eine – dann für alle holakratische Organisationen gültige – Veränderung der Verfassung mit anschließender Anpassung der Steuerungssoftware. Überspitzt ausgedrückt: Wenn man eine holakratische Organisation kennt, kennt man alle.

Ideale Bedingungen für vergleichende Beobachtungen

Aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive kann man Holacracy als ein großes „Experiment“ verstehen, in dem durch die Einführung einer stark standardisierten Managementkonzeption in verschiedenen Organisationen generalisierende Aussagen möglich werden. Angesichts der hohen Standardisierung ähnelt das Setting klassischen sozialpsychologischen Experimenten wie dem Milgram-Experiment, mit dem die Folgebereitschaft von Organisationsmitgliedern getestet wurde, dem Stanford-Prison-Experiment, in dem die Wirkung der Rollenzuweisung auf gewalttätiges Verhalten nachgewiesen wurde, oder dem Robber-Cave-Experiment, in dem gezeigt wurde, wie leicht Konflikte zwischen Gruppen mobilisiert werden können. Zwar können sich Mitglieder holakratischer Organisationen die Teilnahme an dem Experiment nur bedingt aussuchen, aber für die Organisationswissenschaftler ist das eine einmalige Gelegenheit, weil sich in den sich stark ähnelnden Organisationen die Effekte der Hyperformalisierung sehr genau beobachten lassen.

[1] Siehe für den Patentantrag die United States Patent Application Publication US 2009/0006113 A1. Die Internetadresse findet sich im Literaturverzeichnis unter Robertson u. a. 2009. Ziel des Patentantrags scheint gewesen zu sein, die Entwicklung der Holacracy zu kontrollieren und darüber hinaus Gebühren für die Nutzung des holakratischen Organisationskonzeptes erheben zu können. Die Holakraten wurden dann aber vom US-amerikanischen Patentamt mit dem Hinweis gestoppt, dass sich Organisationskonzepte grundsätzlich nicht patentieren lassen (siehe zu den Schwierigkeiten bei der Patentierung des Konzeptes Groth 2018b: 113). Nach dem Scheitern des Patentantrags blieb den Holakraten letztlich nur die Möglichkeit, Holacracy markenrechtlich schützen zu lassen.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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