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New Work

Wie die moderne Bürokultur unfreiwillig das Homeoffice bewirbt

  • Christian Hilgert
  • Mittwoch, 1. März 2023
Post-industrielle Büroflächen
© Marc Osborne

Vor der Pandemie ging der Trend der Bürolandschaften von ‚geschlossenen‘ Raumkonzepten zum Open Office, wobei man sich die Entstehung einer neuen Arbeitskultur im Sinne des New Work erhoffte. Dann kam die Pandemie und mit ihr das Homeoffice. Gegenwärtig zeichnet sich ab: Viele wollen genau dort bleiben. Diskursiv wird diese Entwicklung oft als bruchlose Fortsetzung der New Work Agenda gerahmt. Ein genauerer Blick legt jedoch offen, dass sich die Begeiste­rung fürs Homeoffice gerade auch aus Erfahrungen mit den Folgeproblemen der offenen Büros speisen könnte.

Die Überwindung der Silos, der Abbau von Hierarchien und die Erhöhung der Autonomie von Mitarbeitenden und Teams sind maßgebliche Programmpunkte der New Work Agenda. Um diese Entwicklungen voranzutreiben, liegen offene Büros hoch im Kurs. Man möchte Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen und Hierachieebenen zusammenzubringen, um die Einseitigkeit ihrer Kommu­nikation aufzubrechen. Vor allem große Organisationen, die eine starke formale (und informale) Differenzierung in Abteilungen und ausgeprägte Hierarchien haben, erhoffen sich durch den Wechsel auf offene Büros durchlässigere Gren­zen zwischen den Abteilungen und innerhalb der Linien. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die entsprechenden offenen Arbeitsräume Folgeprobleme mit sich bringen, die diesen Zielen entgegenstehen – und die Arbeit im Homeoffice attraktiver werden lassen.

Die Wahrheit über offene Büros

Ethan Bernstein und Ben Waber haben in dem Artikel The Truth About Open Offices bereits 2019 gezeigt, dass offene Büros die auf sie projizierten Erwartungen oft nicht erfüllen. Basierend auf Studien und Experimenten mit verschiedenen Bürozuschnitten, Sitzanordnungen, Tischgrößen, usw. belegen die Autoren, dass die entsprechenden Formen mitunter genau das Gegenteil dessen bewirkten, was beabsichtigt war. Eine Erhebung etwa ergab, dass die Umstellung von Cubicles auf Open Offices die Gespräche von Angesicht zu Angesicht um rund 70 % reduzierte. Die Kommunikation verschob sich stattdes­sen vermehrt in Mails, Chats und andere Kanäle. Die Autoren verdichten solche Befunde zu der These, dass offene Büros nicht zu mehr, sondern zu weniger Interaktionen führen und vor allem: zu weniger bedeutungsvollen Interaktionen. Sie schlussfolgern: Entscheidend sei ohnehin nicht die Anzahl von Gesprächen, sondern ihre Qualität: „The goal should be to get the right people interacting with the right richness at the right times.”

Die Erfüllung dieses Ziels aber lasse sich nicht durch die Raumarchitektur programmieren, sondern die Mitarbeitenden entschieden selbst darüber, die richtigen Interaktionen zu initiieren. Diese Argumentation greift jedoch organisationssoziologisch etwas zu kurz. Denn Organisationsmitglieder, die in ihrer Organisation erfolgreich kommunizieren wollen, müssen ihre Entschei­dungen über Gesprächspartner, Inhalt und Zeitpunkt immer auch an den etablierten organisationsstrukturellen Erwartungen orientieren. Gerade dies wird aber im offenen Büro keineswegs leichter, sondern tendenziell schwerer – und zwar insbesondere auch dann, wenn man die formal (oder informal) vorgezeichneten Bahnen von Silos und Hierarchien verlassen möchte.

Öffentlichkeit als Zensurmechanismus

Um das zu verstehen, muss man die Frage beantworten: Warum führt das Open Office zu weniger bedeutungsvoller Interaktion? Eine banale – nicht falsche – Erklärung dafür lautet, potentielle Gesprächspartner möchten anwesende Dritte nicht stören und schweigen deshalb. Bernstein und Waber führen die komple­mentäre Beobachtung an, dass sich Mitarbeitende in diesen Settings schnell Verhaltensweisen aneignen, um sich selbst als beschäftigt und nicht anspre­­ch­­bar darzustellen.

Interaktionssoziologisch sind das zwei Seiten derselben Medaille, für ein vollständigeres Bild fehlt jedoch noch eine stärkere Berück­sichtigung des Zusammenhanges von Raumausstattung und Organisations­struktur. Was das offene Büro herstellt, ist eine organisations­öffentliche Situation. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass potentiell Vertreterinnen unterschiedlicher Abteilungen, Hierarchieebenen und mikropolitischer Netzwerke anwesend sein können. Diese im New Work Diskurs erwünschte Eigenschaft macht solche Kommunikationssituationen jedoch für Mitarbeitende gefährlich, wie André Kieserling in Überlegungen zum Format des Workshops argumentiert. Denn unter diesen Bedingungen kann man nicht mehr ohne Weiteres mit Verständnis und Diskretion der Zuhörer rechnen,

Die Öffentlichkeit derartiger Situationen, so der Bielefelder Soziologe, wirkt wie ein Zensurmechanismus, der sensible Inhalte herausfiltert und nur Harmloses passieren lässt.  Diese Wirkung entsteht nicht durch Redeverbote, sondern überwiegend durch Selbstzensur – denn jeder der Beteiligten muss sich immer überlegen, ob er sich wohl damit fühlt, wenn das Gesagte Personen hören, die im Hinblick auf Hierarchie und Arbeitsteilung in sehr unterschiedlichen Verhältnissen zu ihm stehen.

Abteilungsübergreifende Kommunikation ist immer heikel

Der springende Punkt ist nun: Gerade die abteilungsübergreifende Kommu­nikation, die sich die New Work Protagonisten so dringend wünschen, ist potentiell immer heikel. Die Überwindung der etablierten Grenzen ist eine riskante Aufgabe – und eine riskante Aufgabe braucht Schutzräume, nicht eine Bühne, in der die erwartbaren Missgeschicke von allen beobachtbar sind.

Denn es besteht grundsätzlich das Risiko, dass diese Übersetzungsleistung misslingt und es zu Missverständnissen und Verstimmungen kommt. Letztendlich geht es dabei nie nur um wechselseitige Verständigung, sondern am Ende auch um die Verhandlung handfester Interessen, um die Ressourcen- und Machtver­teilung innerhalb der Organisation, um Einfluss auf Budgets, neue Produktlinien oder Restrukturierungen und immer auch: um persönliche Aufstiegschancen der Beteiligten.

Mobile Arbeit und Führung

Wie jetzt führen?

Silogrenzen zu sprengen kann konkret beispielsweise bedeuten, Kolleginnen aus einer anderen Abteilung die eigene Bereitschaft zu signalisieren, unter gewissen Bedingungen in einem aktuellen Projekt eine heilige Kuh des eigenen Teams für das Wohl der Firma zu schlachten. Derartige Kompromisse müssen vorsichtig in einer Atmosphäre wechselseitigen Vertrauens angebahnt werden. Man wird eher bereit sein, in diese Richtung auch nur laut zu denken, wenn man davon ausgehen kann, dass Hardliner aus der eigenen Abteilung nicht zuhören. Abteilungsübergreifende Fortschritte werden deshalb oft nicht in Workshops erreicht, sondern in der struktursensiblen diskursiven Vorbereitung derselben.   

Eine Arbeitsumgebung, in der eine entsprechende Vertraulichkeit nicht gewährleistet ist, fördert vermutlich weniger die erwünschte Kollaboration über Abteilungsgrenzen hinweg, sondern erzeugt in erheblichem Maße genau entgegengesetzt Selbstzensur auf Basis bestehender Grenzen und Loyalitäten. Die Kommunikation wird in diesen Settings einerseits einen starken Zug ins formal korrekte, nach allen Seiten hin unangreifbare Verhalten nehmen, und andererseits in Richtung einer unverfänglichen kollegialen Geselligkeit. Auch beliebt ist unter solchen Bedingungen ein „Gottesdienst an den Werten des Systems“ (Kieserling 2015), also Beschwörungen von Themen, auf die sich alle einigen können.

Selbstzensur im Namen etablierter Loyalitäten und Autoritäten

Im Gegensatz zur Überwindung der Silogrenzen muss man die Relativierung von Hierarchie nicht erst schaffen. Sie findet permanent statt, wenn die Führungs­kräfte außer Hörweite sind. Die Frage ist hier eher: Wie kann man die Ergebnisse derartiger Kommunikation in eine weitere Zirkulation zu Gunsten des Betriebes bringen? Eine Organisation, die sicherstellen will, dass die Hierarchie nicht die Verbreitung kritischer Informationen von unten nach oben unterdrückt, muss ihren Trägern nicht eine öffentliche Bühne bieten, sondern geschützte Räume und sichere Kanäle.

Ein beliebtes Mittel zur Verbesserung der ‚Fehlerkultur‘ liegt deshalb in der Einrichtung vertraulicher oder sogar anonymer Mitteilungsmöglichkeiten für brisantes Wissen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Weiterverarbeitung der Nachricht sich ganz auf ihren Inhalt konzentriert, anstatt sich auf die Person des Überbringers zu fokussieren. Dagegen steigern öffentliche Situationen das persönliche Risiko für Überbringer schlechter Nachrichten. Dadurch reduzieren sie eher die Kapazitäten für Verantwortungsübernahme und Führungsimpulse von unten. Unter Bedingungen formal weiterbestehender Hierarchie, wird diese im offenen Büro nicht abgebaut, sondern schreibt sich, insbesondere bei hierarchieübergreifenden Sitzordnungen, eher tiefer in die Interaktionen der Mitarbeitenden ein. Auch dieser Sachverhalt macht das persönliche, ‚abhörsichere‘ Homeoffice attraktiv.

Organize Podcast

#18 Der Hochofen fürs Homeoffice?

Vom persönlichen zum unpersönlichen Arbeitsplatz – und zurück

Das Folgeproblem des open office ist also eine Zunahme von Selbstzensur und damit eine höhere Last der Verhaltenskontrolle. Zur Wahrheit über offene Büros gehört deshalb der Befund, dass die persönliche Entfaltung in der Arbeit zugunsten einer Darstellung von Konformität mit der Rolle zurücktritt. Ein ganz handfestes physisches Indiz für den Verlust individueller Ausdrucksmöglich­keiten, liegt im Verlust des persönlichen und personalisierten Sitzplatzes in vielen derartigen Settings. Was oft mit den Labels Flexibilität, Wahlfreiheit und Durchmischung der Kommunikationspartner dem Einzelnen als Zugewinn verkauft wird, symbolisiert jedoch auf einer anderen Ebene die Reduktion des Einzelnen auf seine Rolle und damit auch: dessen prinzipielle Austauschbarkeit. Bei einer Kündigung müsste nicht mal ein Schreibtisch geräumt und ein Namensschild entfernt werden.

Zur Wahrheit über offene Büros gehört der Befund, dass die persönliche Entfaltung in der Arbeit tendeniell zugunsten einer Darstellung von Konformität mit der Rolle zurücktritt.

Hinsichtlich der Mitteilung sensibler Informationen und der Ausübung persönlicher Autonomie steht Homeoffice nicht für eine Fortsetzung des mit dem offenen Büro eingeschlagenen Weges, sondern für einen Gegensatz dazu. Hier haben die Mitarbeitenden nun einen maximal personalisierten Arbeitsplatz. Wie die aktuelle Studie „Wie jetzt führen?“ von Metaplan zeigt, sind damit korrespondierend in der Pandemie auch viele Arbeitsbeziehungen persönlicher geworden. Mitarbeitende erwarten von ihren Führungskräften ein höheres Maß an Verständnis für persönliche Bedürfnisse und Limitationen. Wenn etwa Angestellte, wie dort dokumentiert, gegen die Rückkehr ins Büro den neuen Hund ins Feld führen, deutet sich daran auch exemplarisch an, dass personale Entfaltung selbstverständlich nicht per se im Dienste organisationaler Ziele steht, sondern auch in Widerspruch zu diesen geraten kann.

Welches Büro – und wozu?

Offene Büros führen, so wurde argumentiert, zu mehr Selbstzensur unter Anwesenden auf Basis formaler (und informaler) Grenzen und Machtverhält­nisse. Die Pandemie brachte mit dem Homeoffice eine unerwartete Entlastung von diesen Folgeproblemen des offenen Büros. Das oft gehörte Argument, man werde zu Hause weniger von den Kollegen von der Arbeit abgehalten, ist deshalb allenfalls die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist, dass einen das offene Büro auch davon abhält, sich auf die Diskussion ernsthafter Anliegen mit Kollegen einzulassen. Im Home Office konnte man nun oftmals wieder einfacher mit den richtigen Leuten zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Themen besprechen und hatte mit Videotelefonaten sogar schon fast interaktionsanaloge Formate. Der Effekt, um den es geht, greift dabei keineswegs erst bei wirklich brisanten Themen, sondern wirkt viel früher selektiv auf die Entstehung von Gesprächen. Kommunikation wird grundlegend sozial und kognitiv einfacher und leichter, wenn man sein Wording nur auf den unmittelbar gemeinten Adressaten abstimmen muss – unter diesen Bedingungen können Interaktionen gedeihen, die harmlos beginnen und am Ende zu einem Durchbruch bei einem schwierigen Thema führen.

Einsichten aus der Metaplan-Studie über Mobile Arbeit

Brauchen Organisationen noch das gemeinsame Büro?

Zum Schluss gilt es noch einen zwangsläufig entstandenen Eindruck zu zerstreuen: Offene Bürosettings sind keineswegs immer eine schlechte Lösung, wie etwa die Beliebtheit von Coworking-Spaces bei Freiberuflern beweist. Dabei ist aber zu bedenken, dass die dort versammelten Personen gerade nicht Mitglieder derselben Organisation sind, womit die ganzen oben aufgeführten Probleme entfallen oder zumindest erheblich entschärft werden. Umgekehrt stellt das Home Office nicht einfach eine nebenwirkungsfreie Lösung dieser Probleme dar, sondern bringt zahlreiche eigene Folgeprobleme hervor, wie die besagte Metaplan-Studie facettenreich an den sich ergebenden Herausforderungen für Führung zeigt.

Während Freiberufler autonom über ihren Arbeitsort entscheiden können, tun Organisationen gut daran, den internen Kommunikationsbedarf der Mitarbeiten­den diskursiv zu bestimmen, und den Zuschnitt von Räumen und sie betreffende Vereinbarungen an den ermittelten Anforderungen auszurichten. Dazu gehört auch, verbindliche Vereinbarungen über Arbeitsorte zu treffen. Diese sind daran auszurichten, inwiefern diese es den Mitarbeitenden ermöglichen, den strukturell vorgezeichneten Kommunikationsbedarf zu befriedigen – was einschließt, eigenverantwortlich die unvermeidbaren Folgeprobleme jeder Struktur besprechbar und therapierbar zu machen.

Literatur

Bernstein, Ethan., & Waber, Ben (2019). The truth about open offices. Harvard Business Review.

Kieserling, André (2015): Öffentlichkeit als Zensurmechanismus. Unveröffentlichtes Manuskript.

Muster, Judith u.a. (2022): Wie jetzt führen? Warum mobile Arbeit Führung neu formt. Quickborn/Metaplan.

Autor

Christian Hilgert

Christian Hilgert ist fasziniert davon, dass jede Lösung eigene Folge­probleme verursacht – weshalb erfolg­reiche Organisa­tionen sich in einem unabschließ­baren Prozess produktiver Problem­verschiebung befinden.

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