Zum Hauptinhalt der Webseite
Rezension

Gute Beratung braucht gute Theorie(n)

  • Jens Kapitzky
  • Dienstag, 28. Februar 2023
Entscheidungen
© IR_Stone

Jens Kapitzky rezensiert: Klaus Eidenschink/Ulrich Merkes: „Entscheidungen ohne Grund. Organisationen verstehen und beraten. Eine Metatheorie der Veränderung“ Vandenhoeck & Ruprecht 2021.

Zusammenfassung der Argumente:

  • Die Expertise in der Systemtheorie ist unverkennbar.
  • Das Modell zur Analyse von Organisationsdynamiken wirkt komplex, aber stark.
  • Die Theorie wird sehr dicht vortragen – vielleicht zu dicht.
  • Dadurch sind Übersetzungen zwischen Praxis und Theorie voraussetzungsvoll.
  • Vor allem mit Blick auf Führungskräfte und ihre Rolle in der Organisationgestaltung bleiben dadurch Fragen offen.

Eine Kritik von theoretischen Nebensachen

Mitunter werde ich gebeten zu erläutern, was Metaplan von Wettbewerbern unterscheidet, die ebenfalls mit systemtheoretischen Ansätze arbeiten. Die Antwort lautet: „Wenn man wirklich ‚systemtheoretisch‘ meint und nicht nur irgendwie ‚systemisch‘: fast nichts.“ Der relevante Unterschied nämlich besteht zwischen systemtheoretisch fundierten Beratungsansätzen und jenen, die noch immer mit großem Übergewicht den Beratungsmarkt beherrschen. Hinter der Frage, ob man versucht, die Eigendynamiken konkreter Organisationen zu verstehen und zu gestalten oder mit eher mechanistischen Ansätzen Transformationsprozesse plant und begleitet, schrumpfen die Unterschiede zwischen Beratungen, die sich auf systemische und/oder systemtheoretischen Ansätze beziehen zu Nebensächlichkeiten.

Wenn hier im Folgenden also ein Metaplaner das Buch „Entscheidungen ohne Grund“ der beiden in München am HEPHAISTOS Coaching Institut wirkenden Autoren Klaus Eidenschink und Ulrich Merkes bespricht, dann wird in diesem Sinne von Nebensächlichkeiten die Rede sein: von kleinen Unterschieden und theoretischen Geschmacksfragen, die weit hinter einer großen Einigkeit über Ansätze, Theoriefundamente und Vorgehensweisen zurückstehen und der Deutlichkeit halber trotzdem besprochen werden sollen.

„Entscheidungen ohne Grund. Organisationen verstehen und beraten. Eine Metatheorie der Veränderung“ ist ein kleines großartiges Buch, frei vom „Informationsstaub der Trends“ (Arno Geiger) und ein Musterbeispiel für das „Denken in Funktionalitäten“ (13). Die beiden Autoren entfalten klug, differenziert und erkennbar vor dem Hintergrund langjähriger und tief reflektierter Erfahrung ihre Sicht auf Organisationen und ihre sinnvolle Gestaltung. Auf wenig mehr als 100 Druckseiten entfalten Sie ihre Metatheorie der Veränderung.

Ein Buch, frei vom Informationsstaub der Trend und ein Musterbeispiel für das Denken in Funktionalitäten

Das Modell strukturiert entlang der systemtheoretischen Sinndimensionen

Um diesen Anspruch systematisch einlösen zu können, entwickeln Eidenschink und Merkes ihr Modell der Organisationsdynamik, das zunächst aus der Systemtheorie die Differenzierung zwischen Zeit-, Sach- und Sozialdimension übernimmt, dann jeder dieser drei Dimensionen wieder drei Leitunterscheidungen zuordnet und diese dann jeweils anhand eines Spannungsverhältnisses zwischen zwei Polen diskutiert. So lassen sich mit Blick auf die Zeitdimension etwa die drei Leitunterscheidungen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden, wobei man dann in Bezug auf Vergangenheit fragen kann, ob in einer Organisation in Bezug auf ihre Vergangenheit eher „lernende“ oder „beibehaltende“ Aspekte im Vordergrund stehen.

Was in der Nacherzählung recht kompliziert klingt, stellt sich im Buch selbst als eindrucksvoll sortierter Blick auf die komplexe Welt der Organisationen heraus. Die grafische Gesamtdarstellung der „neun Leitunterscheidungen der Organisationsdynamik (23) hat dann nicht nur eine beeindruckend symmetrische Struktur, sondern ist auch geprägt vom Mut der Autoren, sich der Komplexität des Gegenstands Organisation mit Hilfe einer außergewöhnlich klaren Systematik und mit wohlsortierter Begrifflichkeit zu nähern.

Es wäre kleinlich, der Versuchung, die solche Symmetrie auslöst, nachzugeben, und an der einen oder anderen begrifflichen Setzung herumzukritteln; natürlich wären bei einem solchen Unternehmen immer auch andere Termini möglich gewesen; man muss die Sozialdimension nicht zwingend in „Personal“, „Entscheider“ und „Sozialkomplexität“ differenzieren. Aber man kann das tun und in der Art, wie die Autoren mit ihren Begriffen arbeiten, erscheint das Ganze vollständig schlüssig.

Die Struktur des Buches ist so klar wie das Modell, das es ausbuchstabiert: Nach der Einführung der neun Leitunterscheidungen werden in neun Kapiteln die daraus resultierenden neun Leitprozesse diskutiert. All das ist von größter Klarheit in der Gliederung und – dies sei, weil es so selten ist, eigens herausgestellt! – in einer Sprache geschrieben, die präzise und zugleich von für Wissenschaftsprosa ungewöhnlicher Eleganz ist.

Zwischen auf den Punkt und etwas zu knapp

Und doch ergeben sich mit fortschreitender Lektüre ambivalente Eindrücke. Man liest und bewundert, wie bruchlos und klar der Text die auch nach eigener Erfahrung richtig gegriffenen Phänomene und Probleme einzuordnen und zu analysieren weiß. Und zugleich erscheint das Gesamt-Modell der Metatheorie der Veränderung zunehmend zu groß und zu anspruchsvoll angesichts des arg begrenzten Platzes, der zu seiner Entfaltung zur Verfügung steht. Zwar sind die Autoren Meister der knappen und präzisen Beschreibung – und doch entkommen selbst sie nicht der Gefahr der unverantwortlichen Verknappung.

So löblich etwa die Idee ist, jedem der Leitprozesse einen „Praxisfall“ voranzustellen, so wenig vermögen diese Fall-Beschreibungen die ihnen aufgebürdete Last zu tragen. In den meisten der Fälle sind andere als die anschließend behandelten Aspekte mindestens mitangelegt. Darstellung und Diskussion der Fälle leisten dann mitunter einer Lesart Vorschub, bei der sich aus der Wahl der Leitunterscheidung das eigentliche Problem zu ergeben scheint – was, davon bin ich fest überzeugt, das Gegenteil des Vorgehens ist, das die Autoren in ihrer beraterischen Praxis wählen würden.

Die Leitprozesse erscheinen zwar ausgesprochen geeignet, in der Praxis aus der Komplexität des organisationalen Geschehens Muster und Reflexionsansätze herauszuarbeiten – genau dies aber kommt im Zusammenspiel von Praxisfällen und Theoriereflexion nicht recht heraus. Hier hätte man sich gewünscht, es wäre deutlich mehr Raum, auch die Suchbewegung, die sich aus der Arbeit mit den Leitunterscheidungen ergibt, darstellen und nachvollziehbar beschreiben zu können.

Ganz am Ende, im letzten Absatz des Buches, findet man dann den Satz „Jeder Textteil ist nur im Kon-Text wirklich verständlich. Dann fühlt man sich zwar bestätigt – fragt sich aber zugleich: Warum dann diese übermäßige Begrenzung auf so wenige Seiten?

Mehr Theorie wagen?

Zwar haben die Autoren den Anspruch postuliert, mithilfe ihrer Metatheorie unterschiedliche Theoriekonzepte integrieren zu wollen – in Bezug auf organisationale Phänomene tun sie das mit zum Teil irritierender Konsequenz eher nicht. Vielmehr diskutieren sie nahezu durchgängig an den Arbeiten Niklas Luhmanns entlang die unterschiedlichen Dynamiken der Organisation. Das tun sie mit großer Sachkenntnis und der Fähigkeit, Luhmanns komplexe Argumentationen bündig zusammenzufassen. Dass dabei mitunter Aspekte etwas in den Hintergrund geraten, die anderen besonders wichtig sind, ist unvermeidbar und möglicherweise auch nur Geschmackssache.

Im Fall der des Kapitels zum „Leitprozess Vergangenheitsbehandlung“ hätte man sich allerdings einen konsequenteren Rückgriff auf zentrale Aspekte aus „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ gewünscht. Damit wäre dann die hier etwas verrutschte Darstellung der Unterscheidung zwischen formalen und informalen Erwartungsstrukturen, an denen sich Organisationsmitglieder ausrichten, klarer herauszuarbeiten gewesen. Denn Informalität ist weder Ausnahme (dann erschöpfte sie sich im Einzelfall) noch „genehmigte Ausnahme“ – durch die Genehmigung nämlich würde das eben noch abweichende Verhalten zur Befolgung einer formalen Vorgabe. Aber das sind Kleinigkeiten, die sich in einem Gespräch rasch und problemlos auflösen ließen.

Angemessen komplex oder unnötig umständlich?

Nicht ganz so leicht auflösbar, weil Grundsatzfragen der Konzeption betreffend, ist ein anderer Aspekt. Das von Eidenschink und Merkes entfaltete Modell der Organisationsdynamik ist von eindrucksvoller Dichte und Geschlossenheit – und letztere vermag mit Blick auf die praktische Anwendung auch als Problem zu erscheinen. Zum einen zwingt das Modell stellenweise zu unnötiger Umständlichkeit. Zum anderen wird nicht recht ersichtlich, wo das Modell Raum lässt für die Integration anderer Theorieschulen und Erklärungsmodelle.

Dies ist ein Einwand auf zwei Ebenen. Der eine meint den Sachverhalt, dass sich viele der im Buch diskutierten Phänomene auch mit Hilfe anderer, in vielen praktischen Situationen leichter zugänglichen Ansätzen fassen und bearbeiten lassen. Hierfür wären etwa Konzepte der Mikropolitik, wie sie etwa die auch von Luhmann geschätzten Crozier und Friedberg entwickelt haben, ein Beispiel. Mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Akteursinteressen, Machtkonstellationen und Vertrauensverhältnissen geraten zentrale Dynamiken der Organisation in den Blick – wobei solche Konzepte oft den Vorteil haben, besser anschlussfähig zu sein an Vorerfahrungen der Organisationsmitglieder, um deren Themen und Probleme es ja geht.

Gewiss, man muss an einer solchen Stelle bereit sein, den Preis theoretischer Inkonsistenz zu zahlen. Dass Eidenschink und Merkes dies nicht tun, ist ihnen nicht vorzuwerfen – allerdings wird es auf diese Weise nicht leichter, die Inhalte des Buches auf die Praxis von Berater:innen oder gar Manager:innen zu übertragen.

Theoretische Konsistenz vs. praktische Anwendbarkeit

Letztlich stellt sich an dieser Stelle die Frage nach dem Stellenwert theoretischer Konsistenz. Es stimmt ja, nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Will man das so verstehen, dass Theorie helfen soll praktische Probleme besser zu verstehen und lösen zu helfen, dann sollte die Entscheidung, welche Theorie(n) man dazu heranzieht, im Angesicht dieser Probleme getroffen werden. Und dort, wo diese Probleme differieren, dürften es auch unterschiedliche Theorien sein, nämlich jeweils solche, die helfen, auf möglichst direktem Weg ins praktische Tun, ins Handeln zu kommen. – Hat man „Entscheidungen ohne Grund“ zu Ende gelesen, bleibt man etwas unsicher mit der Frage zurück, wie es die Autoren in diesem Punkt bei ihrer praktischen Arbeit halten.

Der Punkt lässt sich noch zuspitzen mit dem Blick auf Themen, die in Management und Beratung regelmäßig behandelt werden – etwa die Thematik der Erschließung neuer Märkte oder die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Strategien. Hier stellt sich dann die Frage, ob die Metatheorie der Veränderung ausreichend Raum lässt zur Integration traditioneller Vorgehensweisen und Prozesse und wie gut sie in der Lage ist, diese Modelle (man denke etwa an die potenziell unendliche Fülle von Strategiemodellen) aufzunehmen und sinnvoll zu integrieren.  

Aber nochmal: Hier ist nicht die Rede von „Richtig“ oder „Falsch“, sondern es geht eher um die Frage, wofür man sich entscheidet: Theoriekonsistenz in Reinkultur – oder die Inkaufnahme theoretischer Brüche, um in der Praxis leichter ins Handeln zu kommen? Die Autoren haben ihre Entscheidung sehr klar getroffen und halten sie konsequent durch – der Rezensent bewundert sie dafür und würde sich in seiner eigenen Arbeit anders entscheiden.

Die Organisation, die Menschen, die Gefühle.

Völlig zu Recht hat Klaus Eidenschink in seiner Kritik am Buch „Humanisierung der Organisation“ darauf hingewiesen, dass man mit der Feststellung, Organisationen haben die Tendenz, Organisationsprobleme auf ihre Mitglieder abzuwälzen, nur die eine Seite der Medaille ins Licht stellt. Denn auch das Gegenteil ist richtig: Menschen haben die Tendenz, von Organisationen Rücksicht auf und Lösungen für Probleme zu erwarten und zu fordern, für die Organisationen schlicht nicht zuständig sind und auch nicht zuständig sein können.

Diese Einseitigkeit kann man dem Buch von Eidenschink und Merkes gewiss nicht vorwerfen. Sie beleuchten durchgehend beide Seiten, die der Organisation und die der Menschen, die als Mitglieder diesen Organisationen angehören. Im Zusammenhang mit nahezu allen Leitprozessen wird auch die Frage mitreflektiert, welche Rolle individuelle Erwartungen, Befürchtungen und Ängste jeweils spielen. Das schärft den Blick für die Fragen jenseits der strukturellen Verhältnisse – und das ist gut so! Keine Frage, dabei kommt beiden Autoren die langjährige Erfahrung nicht nur in der Beratung von Organisationsprozessen, sondern auch von Führungskräften im Einzelcoaching zugute.

Führungskräfte sind nicht immer geeignet und selten legitimiert für sozialpsychologische Interventionen.

Wenn sie dann am Ende des Buches aber schreiben

 „… Beraterinnen und Berater [brauchen] zuallererst selbst einen umfassenden Zugang zu den eigenen Emotionen, damit sie dem Kunden oder der Kundin die differenzierte Resonanz zur Verfügung stellen können, die es braucht, um zu günstigen Interventionen zu kommen.“ (105)

dann ist das zwar nur folgerichtig – hat aber doch auch einen problematischen Aspekt. Dies gilt erst recht, wenn man postuliert, dass dies auch für Führungskräfte gelten soll. Nicht wenige von ihnen wären damit nämlich systematisch überfordert – ohne eigenes Verschulden: Noch immer ist Führungskraft zu werden häufig Ergebnis einer reinen Fachkarriere; die besten Ingenieure übernehmen die Leitung der Forschungsabteilung, die Verkäufer:innen die Leitung des Vertriebs etc.

Und meist geraten sie in diese Rolle ohne eine umfassende Ausbildung jenseits ihrer Fachqualifikation. Und dann ist es in vielen Fällen ein Glück – für die Führungskraft und ihre Mitarbeitenden – wenn die Führungskraft sich Wissen und Kompetenz in Sachen Organisation aneignet und sich auf das Schaffen von Verhältnissen konzentriert, in denen Mitarbeitende gute Arbeit machen können.

Führungskräfte haben nur indirekt Einfluss auf die Informalität

Der organisationssoziologisch geprägte Blick auf Organisationen, wie ihn Eidenschink und Merkes so präzise darstellen, kann ihnen helfen, die Herausforderung des guten Organisierens besser zu meistern. Strukturen entstehen als Konsequenz von Entscheidungen und können durch Entscheidungen verändert werden. Man kann über den Aufbau einer Organisation entscheiden und man kann diese Entscheidungen revidieren. Man kann über Prozesse entscheiden und auch diese Entscheidungen revidieren. Und auch die Frage, wer konkret eine Stelle in einer Organisation übernehmen und ausfüllen soll, kann entschieden werden; ebenso die Frage, welche Qualifikationen jemand für eine solche Stellenübernahme erfüllen muss. Darüber aber, wie Menschen sich dann in konkreten Situationen verhalten, wo sie den Regeln folgen und wo sie diesen ausweichen und sie unterlaufen – das eben entzieht sich der Entscheidung durch Führungskräfte.

Damit ist dann auch die Grenze zur individualpsychologischen Intervention markiert. Und vor dieser sollte Halt machen, wer dafür nicht zuvor eine eigenständige Qualifikation erworben, für umfassende Selbst-Klärung und für Klarheit der eigenen Rolle gesorgt hat.

Dass eine Ausbildung bei den Autoren des hier besprochenen Buches beides bietet – Organisationswissen und umfassende Selbst-Klärung – daran besteht nach der Lektüre nicht der geringste Zweifel.

Autor
Jens-Kapitzky

Jens Kapitzky

verhandelt gerne komplexe Fragen der Organisation, versteckt in der Erzählung eines spannenden Falldramas.

LinkedIn® Profil anzeigen