Zum Hauptinhalt der Webseite
Formale Strukturen

Über Stolz und Scham in Organisationen

  • Mittwoch, 17. August 2022
Über Stolz und Scham in Organisationen
© Fokusiert

Warum werden formale Regeln in Organisationen befolgt und woher wissen Organisationsmitglieder eigentlich, wie sie richtig ausgelegt werden? Wir behaupten: Es sind nicht die formalen, sondern die emotionalen Sanktionen, die Organisationsmitglieder fürchten. Über Stolz und Scham als Fundament für die Formalstruktur von Organisationen und Regelbefolgung als kollektive Praxis.

Formale Regeln spielen in Bezug auf das Verständnis von Organisationen eine herausragende Rolle. „Nur wer die Regeln einer Organisation anerkennt, kann überhaupt in die Organisation eintreten. Wer sie nicht mehr befolgen will, muss austreten“ schreibt Niklas Luhmann (2005, S. 50), einer der einflussreichsten Organisationstheoretiker. Indem Organisationen auf diese Weise in der Lage sind, Mitgliedschaft an von ihnen formulierte formale Regeln zu knüpfen, können sie sich die Folgebereitschaft ihrer Mitglieder sichern. Denn wer auch nur eine formale Anweisung oder Vorschrift nicht befolgt, rebelliert gegen „alle formalen Erwartungen“ (Luhmann 1964, S. 63).

Was auf diese Weise wie ein geradezu magisches und einfaches Mittel zur Herstellung von Konformität aussieht, ist bei näherer Betrachtung doch etwas vielschichtiger, jedenfalls dann, wenn man der Frage nachgeht, was es genau bedeutet, einer formalen Regel zu folgen. Denn woher wissen Organisations­mitglieder eigentlich, wie sie formale Regeln richtig auslegen?

Formale Regeln als mentale Strukturen?

Eine geläufige Antwort auf diese Frage lautet: Die formalen Regeln werden von den Organisationsmitgliedern im Zuge von Sozialisationsprozessen in Form von mentalen Strukturen internalisiert. Diese Auffassung impliziert zweierlei: Erstens müssen die Regeln in einer fixen, dauerhaften Weise in den Köpfen der Individuen implementiert werden. Und zweitens müssen die Regeln klare und eindeutige Implikationen für das Handeln haben: Sie müssen jedes einzelne Individuum derart beeinflussen, dass konkrete, spezifische Formen des Handelns in jeweils neuen Situationen problemlos möglich sind.

Beide Implikationen weisen auf den zweiten Blick nun aber Probleme auf. Gegen den ersten Punkt – die Annahme, dass Regeln dauerhaft in den Köpfen fixiert sind – lassen sich zahlreiche Untersuchungen aus der Sozialpsychologie anführen. Die berühmten Experimente des Psychologen Stanley Milgram (1974) zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten zeigen, mit welcher Leichtigkeit es Personen möglich ist, sich der jeweiligen Situation anzupassen und damit eine so basale rechtliche, moralische und religiöse Norm wie „Du sollst nicht töten“ außer Kraft zu setzen. Wie können nun aber Regeln auf der einen Seite das Handeln anleiten und auf der anderen Seite so oberflächlich internalisiert sein, dass sie jederzeit aufgegeben und/oder ersetzt werden können?

Der zweite problematische Punkt betrifft die Frage, wie eine Regel eigentlich das Handeln eines Individuums anleiten kann. Man nimmt an, dass Organisations­mitglieder wissen, wie die Regeln das Handeln bestimmen müssen. Das Problem mit dieser Auffassung ist, dass Regeln Handeln nicht spezifizieren können, wenn sie nur grobe Angaben bieten, weil sie dann stets unterschiedlich ausgelegt werden können. Wenn die Regel aber exakte Vorschriften enthält, wie man sich in jeder denkbaren neuen Situation zu verhalten hat, dann stellt sich die Frage: Kann diese Unmenge von Information in den Köpfen der Individuen installiert werden? Denn wenn eine Regel internalisiert wird, dann nur als endliche Informationsmenge. Dann kann sie jedoch zukünftig nicht eine unbegrenzte Menge von Situationen regeln. Der Versuch, die Regelbefolgung über mental repräsentierte Strukturen in den Köpfen der Individuen zu erklären, lässt somit offen, was eine Regel für das Handeln genau bedeutet.

Regelbefolgung als kollektive Praxis

Eine alternative Antwort auf die Frage, warum und wie Organisationsmitglieder formalen Regeln folgen, bietet die interaktionistische Perspektive. Diese Perspektive versteht die Befolgung von Regeln als Vollzug einer kollektiven Praxis. Danach erlernen Personen die Regeln durch exemplarische Anwendung. Diese Anwendungsbeispiele verwenden sie in neuen Situationen analog. Ob diese analoge Verwendung richtig ist, zeigt sich dann an den Reaktionen – und Sanktionen – der anderen Organisationsmitglieder.

Ein neuer Kollege in der Papierproduktion beobachtet zum Beispiel seine Kolleg:innen dabei, wie sie zusammenarbeiten. Ist er selbst gefordert, probiert er aus, so mitzuarbeiten wie er es bei den anderen beobachtet hat. Ob er die Regeln richtig angewendet hat, merkt er daran, wie die Kolleg:innen reagieren. Läuft alles bruchlos weiter oder erntet er vielleicht sogar anerkennendes Kopfnicken, wird er die Regeln wohl richtig angewendet haben. Beim nächsten Mal wird er es vermutlich wieder so machen. Wirft man ihm verständnislose Blicke zu oder weist man ihn zurecht, ist klar, dass er falsch lag. Besonders spannend ist es, wenn einer glaubt es zu können und dann zu spüren bekommt, dass er falsch lag. Beim Wechsel von einem Unternehmen zum anderen, manchmal aber schon beim Wechsel der Abteilung merken z.B. Facharbei­ter:innen, dass die Regeln in Betrieben unterschiedlich gelebt werden.

Einer Regel folgen heißt hier also, sie anzuwenden wie vorher, als die Interaktionspartner:innen positiv reagiert haben. Weil man eine Regel beim letzten Mal erfolgreich angewendet hat, liegt es nahe, sie beim nächsten Mal analog anzuwenden. Allerdings heißt analog eben nicht identisch. Sachverhalte und Ereignisse sind ähnlich und doch unterschiedlich. Eine neue Situation kann zu einer Regelanwendung passen oder ihr auch widersprechen. Eben das belegen z.B. die unendlichen Diskussionen im Fußball, ob ein Foulspiel vorlag oder nicht – daran hat auch der Videobeweis im Prinzip nichts geändert.

Emotionale symbolische Sanktionierung als Fehlerbarometer

Ob eine formale Regel richtig angewendet wurde, merkt man somit an der Reaktion der anderen. Erntet man Anerkennung für richtiges Handeln oder wird die Handlung als fehlerhaft abgelehnt? Die Befolgung einer Regel ist also keine private Angelegenheit eines einzelnen Individuums, sondern sozial und öffentlich: Regelbefolgung ist eine kollektive Praxis auf der Basis emotionaler, symbolischer Sanktionierung.

Die symbolische Sanktionierung ist für die analoge Regelanwendung bedeutsam. Sie funktioniert, weil Individuen sich gegenüber anderen eben nicht rein instrumentell verhalten dürfen, sondern sie immer auch respektvoll zu behandeln haben. Personen dürfen nicht einfach zu Objekten gemacht werden. Der Soziologe Erving Goffman (1956: 13) bezeichnet den Status des Individuums in der modernen Gesellschaft daher als Heiligtum. Dieses Heiligtum, die Würde des Individuums, bildet die Basis für eine grundlegende soziale Beeinflussbarkeit der Individuen, denn Interaktionsteilnehmer:innen wollen diese Würde respektiert und anerkannt sehen. Sie leiden unter Verletzungen ihrer Würde. Sie vermeiden deshalb Verhaltensweisen, die deren Herabsetzung zur Folge haben (könnten) – auch und gerade in Organisationen.

Macht

Organisation ohne Moral?

Erving Goffman hat das Bestreben der Individuen, respektiert zu werden, mit Begriffen wie Gesichtswahrung („face-maintenance“) und Eindrucks­management („impression management“) beschrieben. Damit verweist er auf ein System impliziter sozialer Kontrollen in Interaktionen. Das anerkennende Kopfnicken der Papiermacher-Kolleg:innen, wenn man beim Bahnabriss richtig reagiert hat, manchmal nur der Blickkontakt, der einem sagt, dass man es richtig gemacht hat, sorgt dafür, dass eine Regel aufrechterhalten und befolgt wird. Umgekehrt können Kolleg:innen auch ohne Worte, z.B. durch bloße Fortsetzung ihrer aktuellen Handlung ihre Missbilligung ausdrücken, wenn man den falschen Knopf oder den richtigen Knopf zu spät gedrückt hat.

Das Abschneiden der Interaktion, die Verweigerung einer Geste, das Ignorieren des anderen greift die Würde an, ist eine emotionale, symbolische Sanktio­nierung und sorgt für Regelkonformität, ohne explizite Sanktion. Hier merkt der Papiermacher, dass die analoge Handlung wohl falsch war, z.B. weil die Chefin danebenstand und in diesem Fall die Regel anders angewendet werden muss. Erst wenn er beim nächsten Mal Anerkennung erntet, wird er wissen, dass es richtig war.

Stolz und Scham als emotionales Kontrollsystem

Thomas Scheff (2006) hat Goffmans verstreute Anmerkungen über dieses implizite soziale Kontrollsystem zusammengeführt und systematisiert. Er spricht davon, dass in Interaktionen ein System emotionaler Anerkennung und Ehrerbietung („emotion deference system“) operiert. Auf dieses System nehmen die Individuen nicht explizit Bezug. Gleichwohl kontrolliert es ihr Handeln fortwährend. Für Scheff arbeitet dieses Sanktionssystem mit der Emotion des Stolzes auf der einen und der Emotion der Scham auf der anderen Seite. Stolz ist ein positives Selbstwertgefühl, das durch soziale Anerkennung und Ehrerbietung entsteht und daher mit sozialer Verbundenheit einhergeht. Scham bezeichnet im Gegensatz dazu das Erleben von Erniedrigung und Inkompetenz. Dieses Erleben wird durch Ablehnung ausgelöst, wenn soziale Beziehungen bedroht werden, wenn andere sich distanzieren und man aus Interaktionen ausgeschlossen wird – Mobbing ist hierfür ein exemplarisches Beispiel. Personen sind demnach in Interaktionen darauf bedacht, Anerkennung von anderen zu erhalten und Zurückweisungen zu vermeiden. Scheff macht so deutlich, wie die Interaktionsordnung emotional kontrolliert wird. Die Emotionen des Stolzes und der Scham wirken sowohl auf der Ebene des Individuums (intrapsychisch) wie auch auf der Ebene der sozialen Bindung. Aufgrund dieser Eigenschaft sind Stolz und Scham für Scheff die primären sozialen Emotionen.

Stolz ist ein positives Selbstwertgefühl, das durch soziale Anerkennung und Ehrerbie­tung entsteht und daher mit sozialer Verbun­denheit einhergeht. Scham bezeich­net im Gegensatz dazu das Erleben von Erniedri­gung und Inkompetenz.

Aus interaktionistischer Sicht wird die Regelbefolgung auch in Organisationen somit nicht wesentlich – und schon gar nicht vorrangig – durch formale Sanktionen sichergestellt. Vielmehr werden die Regeln zum einen auch dann befolgt, wenn keine Sanktionen offensichtlich sind. Zum anderen sind formale Sanktionen zu langsam, schwerfällig und teuer. Sie sind dementsprechend nicht in der Lage überall verbreitet regeladäquates Handeln zu sichern. Im Gegensatz zu formalen Belohnungen und Bestrafungen funktioniert das Emotion Deference System fortlaufend und kostenlos. Es funktioniert sogar dann, wenn wir allein sind, denn wir können uns die Wirkungen des Systems lebhaft vorstellen und antizipieren. Das System emotionaler Anerkennung und Ehrerbietung ist in der Organisationsoziologie kaum registriert worden, weil seine Funktionsweise oftmals nicht bewusst ist und weil es methodisch schwer zu erfassen ist: „Unlike the system of formal sanctions the deference emotion system is virtually instantancious and invisible“ (Scheff 1990:75).

Aus all dem ergibt sich somit, dass die formalen Organisationstrukturen einen emotionalen Unterbau haben, ohne den sie gar nicht existieren können. Wenn Organisationen durch formale Regeln gekennzeichnet sind, dann deswegen, weil das Personal mittels des Emotion Deference System fortwährend daran arbeitet, dass diese formalen Regelungen aufrechterhalten werden. So gesehen sind Emotionen nicht lediglich Störfaktoren in Organisationen, sondern ihr Fundament.

Goffmann, E. (1956). The Presentation of Self in Everyday Life. Edinburgh.
Luhmann, N. (2005). Allgemeine Theorie organisierter Sozialsysteme. In: Ders. (Hg.): Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 5. Auflage, Wiesbaden, S. 48-62.
Luhmann, N. (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin.
Milgram, S. (1974). Obedience and Authority. An Experiment View. New York.
Scheff, T. (1990). MicroSociology: Discourse, Emotion and Social Structure. Chicago.
Scheff, T. (2006). Goffman Unbound! A New Paradigm for Social Science. Boulder.

Autoren