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Leadership

Wieso „dienend führen“ nicht funktionieren kann

  • Andreas Hermwille
  • Montag, 21. März 2022
Wieso dienend führen nicht funktionieren kann

„Führung kommt von oben“ ist ein veralteter Gedanke. Viele Organisationen versuchen deswegen durch neue Konzepte, wie „dienende“ oder „transformationale Führung“ andere Formen der Zusammenarbeit in Teams und Abteilungen zu etablieren. Das ist leider Veränderung an der völlig falschen Stelle. Für bessere gemeinsame Arbeit muss sich erst der Blick darauf ändern, wie über Führen und Geführt werden entschieden wird. Ein Beispiel aus der Praxis.

Harmoniebedarf im Profi-Sportclub

Der hier geschilderte Fall ist real. Entsprechend muss die Geschichte in einer anderen Organisation spielen. Die zugrunde liegenden Mechanismen bleiben aber die gleichen. Wir verlegen das Problem in einen Profi-Sportclub einer mittelgroßen deutschen Stadt. Die sportliche Situation und damit die Einnahmesicherheit ist seit Jahren stabil. Es könnte besser sein, aber man hat sich damit arrangiert, ein nicht besonders aufregender Club des Mittelfelds zu sein. (Auch wenn man das nach außen nie zugeben würde.)

Es gibt dennoch Auseinandersetzungen – und zwar innerhalb der Verwaltung des Clubs. Immer wieder kommt es zu Streitigkeiten und Kompetenzgerangel zwischen den Abteilungen. Nach Beobachtung der Geschäftsführung sind es vor allem die Abteilungsleitungen, die sich im Klein-Klein von Alltagsfragen verzetteln und zur Darstellung ihrer Egos andauernd Streit vom Zaun brechen.

Das Event-Team, welches Konzerte, zusätzliche Sport-Events und Fan-Feste organisiert, kommt demnach nicht mehr mit der Ticketing-Abteilung klar. Aber ebenso Akteur im Konflikt ist die PR-Abteilung, welche die Schnittstelle in die Wirtschaft und zu den großen Namen der Stadt pflegen soll und ganz eigene Ansprüche mitbringt. Jede Seite wirft den jeweils anderen vor, kompromisslos auf den eigenen Interessen zu beharren.

Die Geschäftsführung arbeitet nach einer Variante von „servant leadership“

Die Geschäftsführung ist einigermaßen stolz auf ihren modernen Führungsstil. Man ist mit allen Mitarbeitenden per Du, orientiert sich in den zu erledigenden Aufgaben an ihren Stärken, setzt sich für stärkende Teambindungen ein und zeigte Interesse, den Arbeitsalltag der Mitarbeitenden so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Es gibt den Anspruch, bei Problemen den Teams und den Mitgliedern zugewandt zu sein und geäußerte Bedürfnisse als Anliegen ernst zu nehmen. „Führen mit Verständnis“, nennt die Geschäftsführung ihren Ansatz.

Deswegen war auch das Bedauern umso größer, dass dieser Ansatz von den Abteilungsleitungen nicht als Vorbild betrachtet und übernommen wurde – sondern das Silodenken und die Verteidigung der eigenen Ansprüche gegen Andere wichtiger zu sein schien.

Die Abteilungsleitungen wünschen sich mehr Führung durch Anweisung

Die Abteilungsleitungen haben – wenig überraschend – eine andere Sicht auf die Dinge. Doch sehen sie als hauptsächliches Problem nicht ihre ‚Gegner‘ – sondern vielmehr: die Geschäftsführung. Vor allem der Führungsstil wird dabei kritisiert. Für alles Verständnis haben, das helfe keinem weiter. „Jedes Mal, wenn Du ein Problem in die Geschäftsführung gibst, ist die Rückfrage ‚wie würdest Du es denn lösen?‘ Aber für vieles bin ich gar nicht in der Position, es lösen zu können oder zu wollen!“, so eine übliche Klage aus der Abteilungsleitung.

Personal

Der Faktor Mensch

Mit einem Alltagsbegriff von Führung ist die Situation banal: Hier scheint einfach niemand führen zu wollen. Doch damit untergräbt man die Leistungen, die aus den Abteilungen gegenüber der Geschäftsleitung erbracht werden. Diese anzuerkennen wird leichter, wenn man Führung nicht mit normativer Erwartung überhöht und Begriffe wie „dienende Führung“ oder „verständnisvolle Führung“ verwendet – und wenn man zwischen Führung und Hierarchie differenziert.

Führung ist keine Stelle oder Eigenschaft, sondern ein Prozess

Aus einer soziologischen Perspektive ist Führung Einflussnahme in einer Interaktionssituation. Sie ist also nicht an Hierarchie gebunden – Führung gibt es auch ohne Vorgesetzte, sogar ganz ohne Organisation. Wer in einem „kritischen Moment“ – wenn offen ist, was passieren soll – ein Angebot macht, in welche Richtung es weiter gehen kann und für das Angebot Gefolgschaft findet – der oder die geht damit in Führung.

Allen in der Organisation ist klar: Die Abteilungsleitungen führen die Geschäftsführung

Auch wenn sich die Geschäftsführung als führend oder leitend versteht, ist allen in der Organisation klar: Die wirkliche Führung kommt von unten, aus den Abteilungsleitungen. Diese verfolgen ihre jeweiligen Ziele und geraten deswegen miteinander in Konflikt – schlicht, weil sie die Arbeitsteilung ernst nehmen und aus ihrer lokalen Rationalität heraus abwägen, was für sie gut wäre. Indem die Geschäftsführung den Vorschlägen der Abteilungsleitungen folgt, lässt sie sich führen. Dieses Prinzip geht so lange gut, bis die Logiken der Abteilungen unterschiedliche bis widersprechende Lösungen nahelegen. Dann wäre es die Aufgabe einer Geschäftsführung, die Konflikte zu entscheiden – und nicht, sie über Rhetoriken über gemeinsame Ziele und Verständigungsappelle weg zu harmonisieren.

Gerade auf Leitungsstellen muss man sich oft führen lassen

Dass Hierarch*innen in Organisationen geführt werden, ist tatsächlich völlig normal. Das Problem ist, dass mit dem Wachsen von Verantwortung die Menge an zu vergebender Aufmerksamkeit leider nicht mitwächst, genauso wenig wie die zur Verfügung stehende Zeit. Jede Zusammenfassung eines Ereignisses, jede Lageeinschätzung gefolgt von der Benennung der Handlungsoptionen, ist Führung.

Wenn Mitarbeitende sich an ihre Vorgesetzten wenden und sagen, „ich glaube, wir haben hier ein Problem, dass Sie sich anschauen sollten“, machen sie ein Führungsangebot, denn sie lenken die Aufmerksamkeit. Auch das Darstellen von Kompetenz und Expertise führt Vorgesetzte, nämlich am eigenen Schreibtisch vorbei zum nächsten. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich drum, das ist alles kein Problem“, sind Signale an die Hierarchie, dass sie für diese Angelegenheit nicht benötigt wird – die eine Leitung dankend annehmen, oder aus Gründen der Fürsorge oder des Misstrauens ignorieren kann.

Organisationen müssen planen, wo Führung stattfinden soll

Führungsbedarfe finden immer einen Weg, sich bemerkbar zu machen. Mal werden sie in Bahnen gebracht durch hierarchische Meldestrukturen, oder durch Interaktions- und Abstimmungsformate wie weeklys und stand-ups. Oft genug bleiben sie unsortiert und Mitglieder müssen selbst einen Weg finden, Orientierung herzustellen: Durch Nicht-Gespräche, lang geplante Zufallsbegegnungen oder kollegial vorbereite Anlässe und kritische Momente.

Für Organisationen kommt es darauf an zu entscheiden, wo und in welchen Formen Führung stattfinden soll und welche Strukturen den Mitgliedern beim Führen helfen können. Der erste Schritt ist dabei die normative Überhöhung aufzugeben und Modelle von „serving leadership“ oder „verstehender Führung“ hinter sich zu lassen. Diese sollen zwar im Führungsstil Orientierung geben, stattdessen überfrachten sie nur die Rolle der Hierarchie mit weiteren Aufgaben.

Keine Konflikte – aber auch kein Nachwuchs mehr

Für die Organisation dieser Geschichte war nochmal ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl nötig, dass es nicht an Personen liegt, wie gestritten wird – sondern an den Strukturen. Zwischenzeitlich gab es mehrere Abteilungsleitungsstellen, die durch Kündigung oder Rente bald vakant sein würden. Bewerbungen aus dem eigenen Haus auf die frei werdenden Stellen: Null.

Man hätte sich noch damit rausreden kann, dass die jungen Leute keine Verantwortung mehr übernehmen wollen. Glücklicherweise ist das nicht passiert.

Andreas Hermwille

freut sich, wenn er soziologische Theorien über eine gute Geschichte erzählen kann.

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