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Matthiesen meint

Auf der gleichen Seite tritt man sich öfter auf die Füße

  • Kai Matthiesen
  • Donnerstag, 1. September 2022
Auf der gleichen Seite tritt man sich öfter auf die Füße
© Timo Müller, Die Illustratoren

Konflikte folgen oft einer eigenartigen Logik. Die beste Grundlage für die bösesten Auseinandersetzungen scheinen nicht gegensätzliche, sondern sehr ähnliche Positionen zu sein. Wenn Sichtweisen fast, aber nicht ganz überein­ander passen, schimpft es sich am schönsten.

Wir scheinen uns mehr über Menschen aufzuregen, die den letzten, aus unserer Sicht logischen Schritt verweigern, als über Jene, die ohnehin auf der ganz anderen Uferseite des Arguments stehen. Denen hat man ohnehin nichts mehr zu sagen (was schade genug ist, aber das kann Thema einer anderen Kolumne sein).

Historisch und politikwissenschaftlich ist das Phänomen gut beforscht. Verschiedenste Gruppen und Bewegungen sind nicht an der Ambition ihrer Ziele oder mächtigen Gegnern, sondern an der selbstzerstörerischen Lust an der internen, persönlichen Auseinandersetzung gescheitert. Der Evergreen der popkulturellen Referenz bleibt dafür die Auseinandersetzung zwischen der judäischen Volksfront und der Volksfront von Judäa in „Life of Brian“. Wenn sich die beiden Splittergruppen in den Abwasserkanälen von Jerusalem treffen, und Brian versucht, eine Auseinandersetzung mit den Worten „wir haben doch einen gemeinsamen Feind!“ abzuwenden, sind sich auch beide Seiten direkt sicher, wer dieser Feind ist: Die populäre Volksfront!

Und nicht, etwa: die Römer.

Die meisten Organisationen kennen zum Glück keine „Feinde“ – und ich möchte auch im Weiteren auf dieses Sprachbild verzichten. Und doch haben wir uns vermutlich alle das ein oder andere Mal in Situationen wiedergefunden, in denen man sich als Teil der judäischen Volksfront, der Volksfront von Judäa oder gar: der populären Volksfront erlebt hat: Man hebt die Unterschiede höher als die gemeinsamen Ziele.

Nach meinem Erleben ist besonders der Diskurs darum, was eine gute Organisation ausmacht, dafür geeignet, diesen Effekt auf Menschen zu haben. Und dabei gibt es so spannende wie reichhaltige Stimmen in der Diskussion, die sich zwar streiten, aber doch ein gemeinsames Ziel haben. Denn egal ob der Hintergrund einer Person organisationspsychologisch oder -soziologisch, systemisch oder systemtheoretisch, therapeutisch, wirtschaftswissen­schaftlich oder – wie meiner – kaufmännisch und ethisch geprägt ist, wir haben alle etwas verstanden: Wir wollen wenigstens, dass Organisationen für Menschen seltener zur Zumutung werden.

Das hat für die einen Gründe der Effizienz: Zufriedene Menschen arbeiten besser. Für andere ist die Verringerung der Zumutung nur der erste Schritt. Insgesamt geht es ihnen darum, Mitgliedern einer Organisation Selbstver­wirklichung über ihre Arbeit zu ermöglichen. Man kann nun darüber diskutieren, was im Rahmen von Organisationsgestaltung möglich ist und welche Ansatzpunkte in der Gestaltung es überhaupt gibt.

Und das meine ich nicht als Abmoderation, sondern wie geschrieben. Darüber kann und sollte man diskutieren. Da, wo wir als Gestalter:innen mit verschie­denen Perspektiven zusammentreffen, können wir einander bereichern. Dieser Austausch fällt leichter, wenn sich Anhängerinnen und Anhänger ganz verschiedener Denkschulen treffen. Wenn beide Seiten keine Erfahrung über die Welt der Anderen haben, führt Neugier und Interesse an der anderen Person zu besserer Verständigung. Man erklärt einander die eigene Welt und lernt dadurch, welche lokalen Rationalitäten die jeweiligen Prioritäten sortieren. Inhaltliche Nähe macht diesen Austausch dagegen schwieriger. Dann benutzen wir die gleichen Worte, aber verschiedene Begriffe. Dann findet man die eigenen Themen im Munde des anderen, doch werden sie dort „falsch“ besprochen. Man steht eigentlich auf der gleichen Seite – und tritt sich genau deswegen öfter auf die Füße.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen. Eine ist, aufzulisten, was alles falsch ist an der anderen Perspektive. Das mag für den Moment kathartisch wirken. Doch dafür wird es schwieriger, die inhaltliche Auseinandersetzung konstruktiv zu gestalten. Die andere Möglichkeit klingt vielleicht naiv: Aber wenn wir unter uns, den Gestalterinnen und Gestaltern von Organisationen, annehmen, dass wir gleiche Ziele haben – selbst, wenn dieses für einige nur das Minimalziel darstellen – dann können wir uns auch ein Interesse an Verständi­gung unterstellen. Aus meiner Sicht ist das eine fantastische Chance, um aus falschen Überzeugungen wieder anerkannte, verschiedene Entwürfe von Wirklichkeit werden zu lassen. Dann ist das Gegenüber plötzlich doch nicht bescheuert oder gar von niederen Beweggründen getrieben, sondern hat wahrscheinlich gute Gründe, auf bestimmte Weise zu denken und zu handeln.

Über diese Umdeutung kommt man wieder in den Austausch darüber, wie man am besten auf die gemeinsamen Ziele hinarbeitet – und lernt von der Denkschule der anderen Seite etwas über die eigene Welt- und Organisations­anschauung. Das belohnt uns alle in Form eines spannenderen, weil sachlicheren Diskurses. Und es ist weiter mein Wunsch, dass dies auch ganz ohne Feindbild möglich ist.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augenmerk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisationsmitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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