Zum Hauptinhalt der Webseite
Matthiesen meint

Organigramme sind nicht wärmeleitend

  • Kai Matthiesen
  • Montag, 28. August 2023
Organigramme sind nicht wärmeleitend

Im Quickborner Office von Metaplan steht ein Esstisch, dem aufgrund seiner Wucht und Größe der Begriff „Tisch“ schon fast nicht mehr gerecht wird. Tafel ist vielleicht angemessener. Diese Tafel war früher groß genug, um alle Metaplanerinnen und Metaplaner an ihr zu versammeln. Wenigstens in der Theorie. Denn irgendwer ist ja immer unterwegs. Als immer-emsiger Schwarm zu funktionieren, ist eine direkte Konsequenz eines Geschäftsmodells, bei dem es im Kern um das Verstehen der spezifischen Herausforderungen anderer Organisationen geht. Wir müssen raus, zu diesen anderen. Alleine, zu zweit, zu dritt, geht man auf im Kosmos des eigenen Projekts. Die Arbeitsteilung wird zur Sozialteilung.

Wer Mitglied einer Arbeitsorganisation ist, weiß: Der Effekt kann sich auch einstellen, wenn alle am gleichen Platz, im gleichen Gebäude bleiben. Denn ob man wirklich physisch raus fährt, oder sich psychisch raus „zieht“, macht für die soziale Situation keinen Unterschied: Sie entsteht nicht. Viele Lesende werden die kuriose Situation kennen, dass man die Kollegin oder den Kollegen abends auf dem Parkplatz trifft und nur verblüfft fragen kann: Waren wir beide heute hier?

Deswegen ist es gut, eine Mittagstafel zu haben. Sie gibt den Raum, um zur gleichen Zeit wie viele andere den Kopf aus der Arbeit zu ziehen und spontane Begegnungen zu haben. In ungerichteten Gesprächen überbrückt man die Lücken der Sozialteilung. Entlang der durchgewürfelten Sitzordnung und Warteschlange an der Mikrowelle holt man sich das Gemeinschaftsgefühl zurück.

An eben dieser Mittagstafel saß ich vor einigen Tagen und fragte die für die Planung zuständige Kollegin, wie viele Anmeldungen es für unser Jahrestreffen gäbe – das „Consultants Meeting“, bei dem alle Metaplaner:innen nach Quickborn kommen: Für knapp drei Tage sammelt sich der Schwarm am gleichen Platz.

Ihre Antwort war: 56. 56 Kolleginnen und Kollegen sind vor Ort. Dafür ist nicht nur die Mittagstafel ein Stück zu kurz. Sogar unsere Veranstaltungsräume kommen da ans Limit. Beides deutliche Hinweise darauf, dass sich Dinge verändert haben. Lange war Metaplan eine Organisation, die gleichzeitig eine Gruppe war: Es gab zwar formale Erwartungen, aber immer auch persönliche Beziehungen. Die bringen bekanntlich ihre ganz eigenen Erwartungen mit. Es gab vorgesehene Kommunikationswege, aber auch genug Chancen, um sich außerhalb derer zu verständigen. Es gab Stellen und Rollen – aber wie wir im Alltag zusammengearbeitet haben, konnte sich je nach Notwendigkeit auch ganz spontan anders gestalten.

Diese doppelten Strukturen gibt es immer noch. Aber es ist mittlerweile unverantwortlich, allein auf die Dynamik der Gruppe zu setzen, wenn es um die Orientierung des Einzelnen auf die Organisation und das Sicherstellen der erfolgreichen Zusammenarbeit für Mehrere geht. Sie entwickelt sich zum Bonus, während die formalen Strukturen langsam den Stellenwert der Grundorientierung einnehmen. Dafür sind formale Strukturen gut: Um allgemein zu orientieren. Um dafür zu sorgen, dass wir miteinander arbeiten und uns aufeinander verlassen können, auch wenn die gemeinsame persönliche Geschichte noch nicht allzu lang ist. Planlosigkeit wird unwahrscheinlicher.

Gleichzeitig bleiben gewisse Bereiche für die formalen Hebel unerreichbar. Formalität wird immer etwas Kaltes anhaften. Ein Organigramm oder eine Geschäftsordnung leiten wenig Wärme – sie geben keinen Halt für emotionale Identifikation. Auch dass sich Kolleginnen und Kollegen persönlich bekannt werden, liegt außerhalb des formalen Einflusses. Die einzige Chance, die Organisationsgestaltung hat, ist den Anlass zu schaffen. Für die Entfaltung der sozialen Situation muss sie sich anschließend höflich zurückziehen.

Über diese Anlässe wird im Management-Talk ständig gesprochen. Kaffeemaschinen, Watercooler, Pausenräume, manchmal die Schlange vor den Toiletten, sind mal gewollte, mal ungewollte Orte der spontanen Begegnung. Doch wenn es wenig Chancen für diese spontanen Begegnungen gibt, müssen diese Anlässe hergestellt werden: bei uns mittels des Consultants Meetings. Wer jetzt eine Teambuilding-Maßnahme und mich im Zeltlager in der holsteinischen Wildnis vor dem geistigen Auge sieht, könnte nicht weiter daneben liegen. Genau so verbaut man die Chance für soziale Eigendynamik: Indem die gemeinsame Erfahrung formal angewiesen wird.

Eine Organisation eint zuerst die gemeinsame Arbeit. Also sind gelingende soziale Situationen am wahrscheinlichsten, wenn man in den fachlichen Austausch geht: Wir diskutieren die Lage der Organisation, aktuell erlebte Beispiele, den klugen Einsatz unserer Werkzeuge. So bekommt der ungerichtete Austausch einen Ausgangspunkt. Es wird leichter, gemeinsam abzuschweifen, persönlich miteinander bekannt zu werden, informale Bande knüpfen und Möglichkeiten des einander Unterstützens zu entdecken, die formal nicht vorgesehen waren. Wenn schließlich völlig der Organisationsbezug verloren geht und Vorzüge verschiedener Laufschuhe, die Unterschiede zwischen Pariser und Berliner Fahrradfahrkultur oder die Kapriolen der Bundespolitik diskutiert werden, ist das ebenso wünschenswert.

Für diese drei Tage tritt die Arbeitsteilung in den Hintergrund und wir lassen uns nochmal gemeinsam auf die Idee ein, eine Gruppe zu sein, die um den gleichen Mittagstisch passt. Wir tauschen Geschichten, kreieren Ideen, starten Gesprächsfäden, die es eines Tages weiterzuführen gilt. Wir stellen die Personen über die Strukturen – bis dann der Alltag zurückkommt.

Bereits jetzt, wenn dieser Text veröffentlicht ist, sind wir wieder alleine, zu zweit, zu dritt unterwegs; die spontanen Begegnungen werden wieder rar. Jetzt sind es wieder die Strukturen, die orientieren. Doch hinzu kommen neue und weitergeknüpfte persönliche Bande, die uns die Zumutung Organisation wieder ein Stück weit leichter machen werden.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

LinkedIn® Profil anzeigen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.