In der Digitalisierung sehen viele Organisationen ein neues Heilsversprechen.[1] Die Effizienz von Organisationen würde sich, so die Hoffnung, mit Hilfe der Digitalisierung enorm erhöhen. Es könnten ganz neue Formen der Kooperationen in und zwischen Organisationen entstehen, die zu beachtlichen Innovationsschüben führen würden. Die Rede ist von einer durch die Digitalisierung möglich gemachten „Mathematisierung“, die zu grundlegend neuen Formen der Organisation führen könnte.[2]
Aber wie realistisch sind diese Vorstellungen einer radikalen Veränderung durch Digitalisierung? Werden wir es in Zukunft mit Unternehmen zu tun haben, in denen sich Bots – Computerprogramme die routinisiert anfallenden Aufgaben abarbeiten – sich miteinander unterhalten und die Einmischung von menschlichen Wesen nur noch als störend begreifen? Werden Gehirn-Simulationen elektronische Kopien des menschlichen Gehirns – in der Lage sein, so miteinander zu kommunizieren, dass sie letztlich große Teile der politischen Steuerung übernehmen können?
Die Organisation kann sich einerseits durch die Digitalisierung Entlastung verschaffen, muss sich jedoch andererseits mit den damit einhergehenden neu geschaffenen Abstimmungsproblemen auseinandersetzen.
Auf den ersten Blick produziert die Digitalisierung die gleichen grundlegenden Effekte wie andere Techniken auch – die Entlastung bei Routinetätigkeiten und -abstimmungen. Die Einführung der Schreibmaschine beispielsweise machte die vorher existierenden Regeln über die Größe und Form von Buchstaben überflüssig. Die Einführung von Graphikcomputern führte dazu, dass Studierende der Ingenieurswissenschaften nicht mehr mühevoll die genau genormten Schriften lernen mussten, um die am Reißbrett entworfenen Maschinen zu beschriften, weil die ehemals durch die Normen genau definierten Rundungen und Abstände der Buchstaben nunmehr in den Computerprogrammen eingeschrieben waren. Computer haben es ermöglicht, vorher schriftlich niedergelegte formale Regeln und bürokratische Prozeduren in der Computersoftware abzubilden.[3] Digitalisierung ist – allen Hype über künstliche Intelligenz zum Trotz – zu allererst eine technische Perfektionierung von Wenn-Dann-Programmen – sogenannten Konditionalprogrammen – in Organisationen.[4]
Auf den zweiten Blick produzieren diese Techniken aber ebenso neue Abstimmungsnotwendigkeiten. Wer sich die Einrichtung eines hochautomatisierten Fertigungsprozesses genau ansieht, stellt fest, dass ein Großteil dieser Prozesse nur funktioniert, weil Mitarbeiter sehr viel Fantasie aufwenden, um mit den Tücken der Automatisierung umzugehen. Wer jemals die Einführung einer betriebswirtschaftlichen Standardsoftware in einem Unternehmen, einer Verwaltung oder einer Universität begleitet hat, sieht sich nicht unbedingt zuerst die Rationalisierungseffekte an, sondern schaut stattdessen, mit wieviel – häufig auch regelbrechender – Kreativität die Mitarbeiter die Software „austricksen“, um eine gewisse Flexibilität zu erhalten.[5] Diese Vereinfachung von Abläufen durch die Digitalisierung schafft, so paradox dies auch klingen mag, eine neue Komplexität auf höherer Ebene. Die Organisation kann sich einerseits durch die Digitalisierung Entlastung verschaffen, muss sich jedoch andererseits mit den damit einhergehenden neu geschaffenen Abstimmungsproblemen auseinandersetzen. Durch die Digitalisierung werden zwar elementare Abläufe vereinfacht, gleichzeitig aber von Menschen vorzunehmende Anpassungsnotwendigen auf einem höheren Niveau produziert. Schon vor Jahrzehnten hat die Soziologin Lucien Bainbridge diesen Effekt als „Ironie der Automation“ bezeichnet.[6]
[1] Meine Überlegungen sind in einen gemeinsamen Artikel mit Stefanie Büchner und Judith Muster eingeflossen; siehe Stefanie Büchner, Stefan Kühl, Judith Muster: Digitalisierung zähmt keinen Menschen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.7.2017).
[2] In dieses Horn blasen zum Beispiel Viktor Mayer-Schönberger, Thomas Ramge: Reinventing Capitalism in the Age of Big Data. New York 2018.
[3] Matthew G. Kirschenbaum: Track Changes. A Literary History of Word Processing. Cambridge 2016.
[4] So sehr früh – lange vor dem Hype – zu „algorithmic organization“ Wolf Heydebrand: New Organizational Forms. In: Work and Occupation 16 (1989), S. 323–357, hier S. 341.
[5] Siehe dazu Hannah Mormann: Das Projekt SAP. Zur Organisationssoziologie betriebswirtschaftlicher Standardsoftware. Bielefeld 2016.
[6] Lisanne Bainbridge: Ironies of Automation. In: Jens Rasmussen, Keith Duncan, Jacques Leplat (Hrsg.): New Technologies and Human Error. Chichester 1987, S. 271–283.