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Der ganz formale Wahnsinn

Auskühlung: Über das Management von Erwartungen in Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Montag, 13. März 2023
Erwartungsmanagement

Die Aussicht auf Aufstieg ist ein zentrales Motiv dafür, dass sich Personen über das formal Erwartete hinaus engagieren. Der Ausblick auf eine studentische Hilfskraftstelle kann Studierende dazu motivieren, sich bei einzelnen Lehrenden besonders ins Zeug zu legen. Die Hoffnung auf eine Karriere in einem Unter­nehmen kann Mitarbeiter:innen dazu verleiten, Aufgaben zu übernehmen, die laut Stellenbeschreibung nicht vorgesehen sind.

Diese Motivationswirkung von in Aussicht gestellten Aufstiegen kann strategisch eingesetzt werden. Eine Dozentin lobt einen Studenten, der vielleicht noch gar nichts von seinen Fähigkeiten ahnt, und stellt die Unterstützung bei seiner wissenschaftlichen Karriere in Aussicht, um weitere Leistungssteigerungen zu motivieren. Die Vorgesetzte in einem Unternehmen weist ihre Mitarbeiterin, die vielleicht erst einmal nur auf der Suche nach einem gut bezahlten Job war, auf die verschiedenen Karrierestufen innerhalb der Organisation hin und erzeugt so einen zusätzlichen Ansporn. In der Soziologie wird dieses Phänomen der Weck­ung von Leistungsmotivation bei Personen, die sich ihres Potenzials selbst nicht bewusst waren, als „Aufwärmung“ bezeichnet.[1]

Das Problem ist jedoch, dass es nicht nur hilfreich sein kann, Erwartungen zu wecken, sondern es nicht selten auch nötig ist, diese zu enttäuschen.[2] Wir kennen das aus dem Alltag. Gewiefte Trickbetrüger:innen wissen, dass sie nach einem erfolgreichen Betrug ihre Opfer nicht allein lassen sollten. Sie lassen daher einen sogenannten „Cooler“ beim Opfer, der versucht, das Opfer an seinen Verlust zu gewöhnen und allzu heftige Reaktionen zu verhindern.[3] In Nacht­clubs und Singletreffs kann man beobachten, wie Frauen – und zunehmend auch Männer – Strategien entwickeln, um Verehrer:innen auszukühlen. Diese Auskühlungs­strategien können von Verweisen auf einen festen Freund, dem folgenlosen Hinterlassen von (meistens falschen) Telefonnummern bis hin zu der plötzlichen Entdeckung der eigenen Homosexualität reichen, weil gerade diese als ein akzeptiertes Ablehnungsmotiv für andersgeschlechtliche Wesen gilt.[4] Die „Henkersmahlzeit“ oder die „letzte Zigarette“, die einem zur Todesstrafe verurteilten Häftling vor der Exekution angeboten wird, hat eine ähnliche Funktion. Dadurch, dass der Todeskandidat die Mahlzeit oder Zigarette annimmt, wird der Delinquent an die Akzeptanz des Urteils herangeführt.[5] Techniken, um Personen an unangenehme Entscheidungen zu gewöhnen, hat der Soziologe Erving Goffman mit dem Begriff der „Auskühlung“ bezeichnet.[6]

In Organisationen werden Mechanismen der Auskühlung systematisch dafür genutzt, um eine Trennung von Mitgliedern vorzubereiten. Outplacement-Berater:innen sowie Organisations-Coaches haben die Aufgabe, über Beratungs­gespräche Halt zu bieten. Der zu Entlassende freundet sich in den Beratungs­gesprächen langsam mit der Trennung von der Organisation an und sein Widerstand und Widerwille gegen diese Entlassung wird so erfolgreich kleingearbeitet.

Durch die Einrichtung von speziellen Interaktionsformaten wird zu verhindern versucht, dass das Phänomen der Entlassung in Form von unerwünschten Besuchen des Entlassenen am Arbeitsplatz, des Überziehens der Organisation mit Arbeitsrechtsprozessen oder der besonders in den USA berühmt-berüch­tigten waffenunterstützten Amokläufe in die Organisation zurückgespielt wird.[7] Für den zu Entlassenden wird ein „Würdeasyl“ geschaffen und so verhindert, dass der Entlassene seine Wahrnehmungen, Eindrücke und Gefühle in allzu deutlicher Form mit seinen ehemaligen Kollegen teilt.[8]

[1] Zum Konzept des Warming-up in Kombination mit dem Cooling-out siehe für den Fall von Hochschulen OliverBerli: Warming up und Cooling out in der Wissenschaft. Zur Entwicklung von Möglichkeitshorizonten am Beispiel von Wissenschaftskarrieren in Deutschland. In: Berliner Journal für Soziologie 31 (2021), S. 327–352.
[2] Eine Ausarbeitung des Konzepts des Auskühlens in Bezug auf Coaching und Supervision findet sich in Stefan Kühl: Coaching und Supervision. Zur personenorientierten Beratung in Organisationen. Wiesbaden 2008, 58f.
[3] Erving Goffman: On Cooling the Mark Out. In: Psychiatry 15 (1952), S. 451–463, 451ff.
[4] David A. Snow, Cherylon Robinson, Patrica L. McXall: „Cooling Out“ Men in Singles Bars and Nightclubs. In: Journal of Contemporary Ethnography 19 (1991), S. 423–449, 423ff.
[5] Hans von Hentig: Über den Ursprung der Henkersmahlzeit. Tübingen 1958, 9ff.
[6] Die erste Erwähnung findet sich bei E. Goffman: On Cooling the Mark Out.
[7] Siehe zu den Amokläufen in Organisationen, die nicht systematisch genug ihre Mitglieder auskühlen, besonders interessant Andreas Braun: Campus Shootings. Amoktaten an Universitäten als nicht-intendierte Nebenfolgen der Restrukturierungs- und Hybridisierungseffekte der Hochschulreformen. Bielefeld 2015.
[8] Zu Würdeasylen siehe N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 324.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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