Im Management gibt es den „Traum“ von Organisationen als „Orte, in denen Menschen täglich Sinn stiften durch das, was sie miteinander tun“. „Individuen“, so dieser Traum, gehen „mit Freude“ zur Arbeit, begegnen sich dort „als echte Menschen“ und „entfalten ihr Potenzial“. Die Organisationen würden so jeden Tag lernen und kontinuierlich besser werden. Die Beteiligten kehrten, so die weitergehende Vorstellung, jeden Tag mindestens genauso „energiegeladen und erfüllt nach Hause zurück, wie sie am Arbeitsplatz erschienen sind“.
Die Vorstellung ist, dass die Organisationen, die diese Fantasie verwirklichen können, nicht „nur zu ihrem eigenen Leben und Wohlbefinden“ beitragen, sondern gleichermaßen zu dem ihrer Kunden, Geschäftspartner und Kapitalgeber. Es würden Prozesse angestoßen werden, die die Umwelt schonten, ihnen mitunter sogar halfen, ihre natürliche Grundlagen zu erhalten, um so eine „positive Entwicklung des gesellschaftlichen Umfelds“ zu unterstützen. [1]
Während solche Träume lange Zeit ein Vorrecht selbst verwalteter Betriebe, politischer Basisinitiativen und utopischer Lebensgemeinschaften waren, sind sie inzwischen im Mainstream des Managements angekommen. Das Schlagwort hierfür ist das der „purpose-driven organization“. Allen Problemen mit Abgasmanipulationen, Umweltverschmutzung oder Korruption zum Trotz glauben inzwischen auch Großunternehmen in der Automobil-, Pharma- und Energieindustrie, dass die Lösung für das Problem der Mitarbeitermotivation in der Suche nach einem höheren Sinn ihrer Unternehmungen liege.
Der „Purpose“ soll dabei „Treiber“, „Richtungsgeber“ und „Orientierungshilfe“ für die Organisation sein. In diesem Zusammenhang wird zwar mit Widersprüchlichkeiten zwischen Zwecken gerechnet und mögliche Veränderungen der sinnhaften Zwecke werden antizipiert, aber nichtsdestotrotz müsse – so die Vorstellung – eine Organisation immer von einem fest definierten, übergeordneten Zweck aus gedacht werden. Es liegt die Annahme zugrunde, dass das Streben nach einem „higher purpose“ eine Orientierung stiftende Überzeugung und Motivation bei den Mitarbeitern initiieren könne. Wenn der „higher purpose“ stimme, würden die Manager bereitwillig einen Beitrag leisten, der weit über die Orientierung an kurzfristigen Vorteilen hinausgehe, und die Mitarbeiter würden mit immer mehr Energie sowie Kreativität an ihren Job gehen und deswegen letztlich auch mehr für die Organisation leisten. [2]
Die Popularität der Orientierung an einem „Purpose“ hängt maßgeblich damit zusammen, dass sich die jetzt über mehrere Jahrzehnte anhaltende Suche von Organisationen nach ihrer „Mission“ erschöpft hat. [3] Die Suche nach einer „Mission“ über Leitbildprozesse würde sich, so die Vorstellung, auf die Beantwortung der Frage konzentrieren, „was“ erreicht werden solle, während die Suche nach dem „Purpose“ die Frage nach dem „Warum“ beantworten wolle. [4] Nach „Leitbild“ und „Mission“ brauchte es scheinbar einen neuen Begriff, um den Prozess der Suche nach attraktiven Werten zu reaktivieren.
Aber wie schon bei dem Leitbildprozess selbst herrscht auch hier die Vorstellung vor, dass der „Purpose“ als Anleitung für konkrete Handlungen dienen könne. [5] So möge der oberste „Purpose“ noch aus wohlklingenden, zumeist englischen Formulierungen wie „spreading ideas“, „evolve humanity’s relationship to power“, „provide hospitality“ oder „deliver happiness to the world“ bestehen. Allerdings müsse dieser, so die sich anschließende Forderung, noch in konkrete Kriterien für Entscheidungen übersetzt werden, also durch „ein Herunterbrechen auf Unterzwecke operationalisiert und damit handhabbar gemacht werden“.[6] Je genauer die Umsetzung eines „Purpose“ gelinge, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Mitarbeiter unter dem „Purpose“ einer Organisation Dasselbe verstünden wie das Management.
Genaue Bestimmungen sollen dabei die Fragen der Mitarbeiter beantworten: „Für wen leiste ich einen Beitrag?“, „Welchen Beitrag leiste ich?“ und „Wie mache ich das?“. [7] Je exakter mit Instrumenten wie dem „purpose statement builder“ oder dem „purpose quest“ die Antworten spezifiziert würden, desto besser würden, so das Versprechen, die Entscheidungsprobleme der Organisation gelöst werden. Durch den „Purpose“ könnten, so die Vorstellung, die Aktivitäten in der Organisation erfolgreich „orchestriert“ werden. Im selbstverständlich nie existierenden Extremfall würden durch einen genau definierten „Purpose“ Entscheidungen sogar überflüssig werden, weil sie sich fast zwangsläufig ergeben würden.
So weit, so gut. Die Bestimmung genauer sinnhafter Zwecke bringt jedoch ein bekanntes Problem mit sich: Sie begrenzen den Spielraum für Veränderungen. Die Mitarbeiter können nur für das motiviert und begeistert werden, das in den eng definierten „Purpose“ passt. Die Ausrichtung auf den „Purpose“ reduziert erst einmal die Handlungsvielfalt in einer Organisation – sie macht die Menschen in ihrer Ausrichtung enger. [8]
Das Problem ist, dass die Ausrichtung auf einen „Purpose“ Veränderungen blockiert, die nicht zu diesem „Purpose“ passen. Während eindeutig festgelegte Zwecke unter dem Gesichtspunkt der Orchestrierung von Einzelhandlungen in stabilen Umwelten positiv wirken, erscheint diese Stärke unter der Bedingung häufiger Veränderungen im Umfeld der Organisation jedoch problematisch. Wenn sich die einmal definierten Zwecke als korrekturbedürftig erweisen, dann behindern alle vorherigen Festlegungen das Umsteuern der Organisation. Die Rigidität der Orientierung an einem Zweck erweist sich als Hindernis.
[1] Alle Formulierungen aus Franziska Fink, Michael Moeller: Purpose Driven Organizations. Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Stuttgart 2018, 1f.
[2] Robert E. Quinn, Anjan V. Thakor: Purpose-driven. How to Get Employee to Bring Their Smarts and Energy to Work. In: Harvard Business Review (2018), 4, S. 78–85, hier S. 81.
[3] Um die in den 1980er-Jahren aufkommende Suche nach Missionen zu verstehen, siehe besonders den im Management sehr einflussreichen Text von Thomas J. Peters, Robert H. Waterman: In Search of Excellence. New York 1982.
[4] So die monoton wiederholte Message von Simon Sinek: Start with Why. How Great Leaders Inspire Everyone to Take Action. New York 2011., und ders.: Find your Why. A Practical Guide to Discovering Purpose for You or Your Team. New York 2017.
[5] Siehe dazu S. Kühl: Leitbilder erarbeiten (wie Anm. 232).
[6] F. Fink, M. Moeller: Purpose Driven Organizations (wie Anm. 329), S. 90.
[7] Aaron Hurst: The Purpose Economy. How your Desire for Impact, Personal Growth and Community is Changing the World. Boise 2016, 100ff.
[8] Siehe ausführlich dazu S.Kühl: Das Regenmacher-Phänomen (wie Anm. 109), 100ff.
Kommentare (5)
Dem, was ich von dem Gelesenen verstanden habe, kann ich zustimmen. So einfach ist das Ganze ja nicht. Ich gehe davon aus: alle haben einen „Purpose“, Personen, Teams, Organisationen – unsere Ethnie? Geht es nicht schlicht um das Thema, wie die Passung zwischen Individuen und sozialen Systemen stimmt? Wie über diese Passung Werte abgeglichen werden können, Vertrauen aufgebaut werden kann, Bindung entstehen kann, Netzwerke entstehen können? Wenn man „Purpose“ wieder nur als Mittel zur Steigerung der Produktivität versteht, hat man den tiefen Sinn nicht verstanden. Ich meine „Purpose“ trägt auch zur Identität bei. Und in dieser Hinsicht erfüllt er auch den Zweck, Komplexität zu reduzieren. Wichtig scheint mir, nicht nur auf die Innenwirkung zu schauen. Er vermag Transparenz nicht nur nach innen, sondern auch in den Außenbeziehungen zu schaffen. Schließlich meine ich, dass „Purpose“ einen weiteren Zeithorizont erfassen sollte und über die Strategie hinausreicht. Sicherlich wird auch ein „Purpose“ mal sein Verfalldatum erreichen. Dann wird sich die Lebensfähigkeit des Organismus beweisen müssen.
Der Mensch ist ein sinnbegabtes Wesen. Er sucht und findet Sinn selbst in den unsinnigsten Lebenslagen. Doch ist das Gefühl der Sinnhaftigkeit eine emergente Eigenschaft. Sinn lässt sich genauso wenig verordnen wie Zuneigung oder Liebe. Jeder Mensch muss daher für sich selbst herausfinden, was aus seiner Sicht sinnvoll ist. Das jedenfalls sagte Viktor Frankl, der eine dem Sinn gewidmete Therapieform namens Logotherapie in die Welt gesetzt hat. Einen Sinn zu befehlen ist demnach Unsinn. It doesn’t make sense.
„Rigidität“ ist lediglich eine negative Ausdrucksform der Pols „Struktur“ der übergreifenden Polarität von „Struktur“ vs. „Flexibilität“. (vgl. Polarity Managment von Barry Johnson) Die negative Ausprägung des Pols Flexbilität ist „Chaos“. Es geht im Grunde darum, die Polarität gut zu managen. Im positiven Sinne kann einem der Purpose auf dem Pol „Struktur“ eine stützende Leitplanke und Ausrichtung bieten. Man kann es aber auch wie der Autor einseitig als „rigide“ dissen. Tja…, „true, but partial.“
„„Rigidität“ ist lediglich eine negative Ausdrucksform der Pols „Struktur“ der übergreifenden Polarität von „Struktur“ vs. „Flexibilität“. (vgl. Polarity Managment von Barry Johnson)“
Barry Johnson schreibt in dem referenzierten Buch: „from rigid structures to flexible arrangements“.
Soviel dazu 😉
„Wenn sich die einmal definierten Zwecke als korrekturbedürftig erweisen, dann behindern alle vorherigen Festlegungen das Umsteuern der Organisation. Die Rigidität der Orientierung an einem Zweck erweist sich als Hindernis.“
–> Deswegen gibt es z.b. in holakratisch geführten Unternehmen Mechanismen, um den Purpose der Organisation oder auch der Kreise und Rollen bei Bedarf anzupassen. Die Spannung, dass der Purpose nicht mehr passend oder zu eng ist, kann auf jeder Ebene der Organisation verarbeitet werden. So „rigide“ ist es also nicht überall, wie der Autor es in seinem Artikel darstellt.