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Der ganz formale Wahnsinn

Coaching: Von wegen ganzheitlich

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 22. November 2022
Coaching

Wenn die Organisation selbst nicht mehr in der Lage ist, ihre Mitglieder in die gewünschte Richtung zu bewegen, werden Coachings verabreicht. Doch was macht Coaching in Organisationen besonders?

Das Wort Coaching weist eine so „hohe semantische Elastizität“ auf, dass inzwischen unter diesem Begriff fast jede Leistung gefasst wird, die in irgendeiner Form beratend an einer Person erbracht wird: „IT-Coaching“, „Astro-Coaching“ und „Coaching für Eltern“ gehören zu Standardangeboten im Internet. Inzwischen kann man für Leistungen im „Zen-Coaching“, „Entspannungs-Coaching“, „Flirt-Coaching“ oder – falls letzteres Erfolge gezeigt hat – auch für „Sex-Coaching“ oder gleich für „SM-Coaching“ problemlos einen Berater oder eine Beraterin finden.

Das Coaching-Begriff wird inflationär verwendet

Viele altbekannte, an Personen erbrachte Dienstleistungen kommen heutzutage im Gewand des Coachings oder der Supervision daher: Die altbewährte Nachhilfelehrerin wandelt sich zum „Abi-Coach“. Die Eheberatung wird semantisch zum „Paar-Coaching“ aufgepeppt. Und die Fahrstunden drohen wir inzwischen von einem „Driving-Coach“ zu bekommen. Selbst Tiere sind inzwischen als Zielgruppe für Coaching entdeckt worden, und sowohl Kampfhunde als auch Araberhengste werden zusammen mit ihrem Herrchen oder Frauchen durch spezielle Coaching-Angebote bedient.[1]

Die expansive Verwendung des Begriffs des Coachings darf nicht verdecken, worum es im engeren beim Coaching geht: die personenbezogene Beratung in Organisationen. Sicherlich – eine Form der Konsultation in Organisationen hat immer schon stattgefunden. So holte man sich Hilfestellung beim Vorgesetzten, wenn man mit einer Aufgabenstellung nicht zu Recht kam. Man lästerte beim Mittagessen mit Kollegen über den Vorgesetzten, wenn er nicht helfen konnte, und wandte sich an Personaler, wenn man Probleme mit Kollegen hatte. Nicht selten hatten diese Gespräche gewollt oder ungewollt den Charakter einer Beratungssituation.[2]

Angesichts dieser immer schon existierenden personenbezogenen Beratungen in Organisationen stellt sich zwangsläufig die Frage, was das Besondere an den Coachings ist, die mittlerweile an Popularität gewonnen haben. Kurz gesagt: Beim Coaching nehmen sowohl die Berater – der Coach oder die Coachin – als auch die Beratenen – die Coachee – ihre Rollen bewusst ein. Die Rolle wird nicht, wie etwa beim Vorgesetzten, kraft Erfahrung gebildet. Der Beratungsprozess entsteht dabei nicht, wie beim Gespräch mit Kollegen, rein zufällig. Vielmehr entsteht ein von beiden als „Beratung“ bezeichneter Prozess mit eindeutigen und vorher festgelegten Rollenverteilungen. Beratungsinteraktionen finden nicht zufällig in einer Kaffeepause oder in einem Mitarbeitergespräch statt, sondern in einer von Vornherein asymmetrisch angelegten Situation und  in einer genau benennbaren – weil notwendigerweise abrechenbaren – Zeitperiode statt.

Je stärker sich Coaching als Berufsrolle ausbildet, desto stärker „anti-ganzheitlich“ müsste diese Beratung werden

Durch die Ausbildung einer exklusiven Beratungsrolle werden teilweise Themen ansprechbar, die in den sich zufällig ergebenden Gesprächen nicht immer zugänglich sind. Schließlich sind die sich spontan auftuenden Besprechungen mit Vorgesetzten oder Kollegen immer dadurch gekennzeichnet, dass diese mit anderen Rollenanforderungen in der jeweiligen Beziehung kollidieren können. Von einer Vorgesetzten kann man sich beispielsweise schlecht beraten lassen, ob man eine Organisation verlassen soll, weil allein durch das Erwähnen dieses Themas sofort auch jenseits dieser Erörterung bestimmte Effekte entstehen. Ebenso kann es schwierig sein, mit Kollegen ein „Beratungsgespräch“ über Karriereoptionen zu führen, weil solche Ausbruchsversuche nach oben häufig von Gleichrangigen kritisch beäugt werden.

Coachings richten sich an die Berufsrolle

Gerade weil sich der Coach als eigene Berufsrolle ausbildet, ist Coaching alles andere als ein ganzheitlicher Ansatz. Es geht beim Coaching in Organisationen eben nicht um den Coachee als „ganzen Menschen“, sondern lediglich um seine Tätigkeiten in seiner Berufsrolle. Bei der Betrachtung eines Menschen in seiner Berufsrolle mögen andere Rollen – als Familienmitglied, als Liebhaber oder als politisch Engagierter – miteinbezogen werden, sie interessieren aber nur als Hintergrund der Berufsrolle.

In der „anti-ganzheitlichen“ Haltung liegt der zentrale Unterschied des Coachings zu der Beratung durch Freunde. Bei Freundschaften ist es kaum möglich, von anderen Rollen zu ab­strahieren: Man kann nur schwer Aussagen zu Problemen im Beruf, in der Liebe oder in der Nachbarschaft verweigern. Beim Coaching besteht aber gerade in dieser Abgrenzung die Profes­sionalität. Zugespitzt: Je stärker sich Coaching als Berufsrolle ausbildet, desto stärker „anti-ganzheitlich“ müsste diese Beratung werden.

[1] Siehe für diese Aufzählung Stefan Kühl: Coaching und Supervision. Zur personenorientierten Beratung in Organisationen. Wiesbaden 2008, S. 13.

[2] Diese Überlegungen basieren auf einem Thesenpapier, das für die Deutsche Gesellschaft für Supervision entwickelt wurde. Siehe Stefan Kühl.: Das Scharlatanerieproblem. Coaching zwischen Qualitätsproblem und Professionalisierungsbemühung . 90 kommentierte Thesen zur Entwicklung des Coachings. Köln 2005.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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