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Der ganz formale Wahnsinn

Macht - Wider der Ignorierung von Mikropolitik in Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Mittwoch, 23. November 2022
Macht

Macht in Organisationen hat ein schlechtes Image. Die mit Macht in Verbindung gebrachten Begriffe klingen abschreckend: Intrigen, Grabenkämpfe, Cliquen- und Koalitionsbildung, Radfahren, nach oben buckeln und nach unten treten, Informationsfilter, Mauscheleien, Regimekritiker, trojanische Pferde, Konkurrenten ausstechen. Macht wird assoziiert mit Egoismus, Machiavellismus und Missbrauch.[1]

Entkleidet man den Machtbegriff von negativen Konnotationen, dann drückt er die Fähigkeit aus, bei anderen ein Verhalten zu erzeugen, das sie spontan nicht angenommen hätten.[2] Mit Macht etwas durchsetzen zu wollen, ist ein Phänomen, das man in Organisationen tagtäglich antrifft. Dennoch wird es selten offen thematisiert. Stattdessen trägt man die Konflikte, die aus dem Anspruch oder der Erwartung entstehen, andere mögen sich anpassen, gehorchen und unterwerfen, versteckt aus.

Machtverhältnisse sind nicht statisch

In Machtbeziehungen werden Handlungsmöglichkeiten getauscht. Das sind die Fähigkeiten, für andere wichtige Probleme zu lösen oder Hilfe und Unterstützung zu verweigern.[3] Dabei hängt die Macht von der Relevanz der Handlungsmöglichkeiten für andere und von der Autonomie und Nichtersetzbarkeit der Akteure ab. Ein Vertriebsmitarbeiter, der einen privilegierten Zugang zu einem wichtigen Kunden hat, besitzt einen Trumpf, mit dem er wuchern kann. Je weniger ein EDV-Experte wegen seinen detaillierten Kenntnissen eines in der Firma selbstgestrickten Programms zu ersetzen ist, desto stärker ist seine Position gegenüber Personen, die von diesem Programm abhängig sind.

Dabei ist Macht eine Austauschbeziehung, die zwar asymmetrisch, aber stets wechselseitig ist. Eine Person oder Personengruppe kann die eigenen Auffassungen nur dann durchsetzen, wenn eine andere Person oder Personengruppe bereit ist, sich mit dieser in eine Beziehung einzulassen. Eine Abteilungsleiterin kann nur solange Weisungen erteilen, wie die Mitarbeiter sich diesen Weisungen unterwerfen. Ein Meister kann nur anordnen, solange der Arbeiter ihm folgt. Sobald sich eine Person der Beziehung zum Beispiel durch Kündigung entzieht, ist die Austauschbeziehung und damit auch das Machtverhältnis zu Ende. Schon gewisse Verweigerungen, wie die, Überstunden zu arbeiten, kann den Meister in Bedrängnis bringen. Der Meister wird seinen Leuten eine Kompensation, eine Gefälligkeit anbieten müssen.

Aus einer Machtbeziehungen ziehen also immer beide Seiten etwas. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es sich um einen fairen oder gerechten Austauschprozess handeln muss. Es verweist aber darauf, dass auch der vermeintlich Machtlose ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Machtbeziehung hat.

Die Rolle von Macht wird besonders in dramatischen Konfliktsituationen deutlich. Aber diese Konflikte sind in Machtbeziehungen eher die Ausnahme als die Regel. Machtbeziehungen basieren darauf, dass diese von den beteiligten Akteuren geteilt und mehr oder minder akzeptiert werden. Zwar lauert im Hintergrund immer die Drohung, dass man die Machtbeziehung eskalieren lassen kann und Sanktionen bis hin zur Gewaltanwendung wirksam werden, in der Regel ist die Machtbeziehung jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sich beide Seiten in diese fügen und Sanktionen und Drohungen latent gehalten und nur vorsichtig angedeutet werden.

Hierarchien benötigen häufig Kooperationen

Macht stützt sich auf die Kontrolle relevanter Unsicherheitszonen. Die können ganz unterschiedlicher Natur sein. Hierarchenstützen ihren Einfluss darauf, formale organisatorische Regeln erlassen zu können, die das Aktionsfeld der Untergebenen einengen oder erweitern können. Experten, beispielsweise IT-Fachleute oder Marketingspezialisten, gewinnen ihre einflussreiche Stellung aus der Beherrschung von in der Organisation relevantem Sachwissen. Personen, die Relaisstellen zur Umwelt darstellen, ziehen Machtmöglichkeiten daraus, dass sie einen privilegierten Zugang zu Kunden, zentralen Zulieferern, wichtigen Kooperationspartnern oder einflussreichen staatlichen Stellen haben. Gatekeeper, beispielsweise ein Sekretär oder eine persönliche Referentin,ziehen ihren Einfluss aus der Kontrolle wichtiger interner Kommunikationskanäle und Informationsquellen.[4]

Hierarchie begründet also nur eine Unsicherheitszone unter vielen und man begeht einen groben analytischen Fehler, wenn man Hierarchie mit Macht gleichsetzt. Sicherlich: Manager entscheiden nicht nur über Arbeitsprozesse oder Strategien mit, sondern als Vorgesetzte bestimmen sie auch maßgeblich über die Einstellung, Entlassung und Karriere ihrer Mitarbeiter. Sie beherrschen damit eine zentrale Unsicherheitszone ihrer Mitarbeiter – jedenfalls solange diese keine attraktiveren Alternativen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie können zugleich auch über andere Unsicherheitszonen wie den Kontakt zur Umwelt oder Fachkenntnisse verfügen, aber nicht automatisch, quasi qua Amt. Häufig haben die Untergebenen mehr Fachwissen als Vorgesetzte. Aufgrund des wachsenden Bedarfs an spezialisiertem Fachwissen können Führungskräfte nicht mehr alle Themenfelder in ihrem Bereich übersehen und müssen zulassen, dass ihre Mitarbeiter sachverständiger und kompetenter sind als sie.

Hierarchie begründet nur eine Unsicherheitszone unter vielen und man begeht einen groben analytischen Fehler, wenn man Hierarchie mit Macht gleichsetzt.

Auch die Kontakte zu Kunden, Zulieferern, Kooperationspartnern oder politischen Institutionen sind nicht an der Spitze monopolisiert. Gerade in größeren Unternehmen, Verwaltungen oder Verbänden ist es nötig, dass die Organisationsspitze die Pflege der Außenkontakte delegiert. Auch hat die Führungskraft nicht die Möglichkeit, alle Kommunikationen in der Organisation zu regulieren. Schon die häufige Klage von Führungskräften über vermeintlich falsche Gerüchte zeigt, dass Kommunikationen in Unternehmen ganz anders laufen, als es sich die Führungskräfte vorgestellt haben.[5]

Häufig findet man Situationen in Organisationen, in denen sich die Hierarchen nicht unbegrenzt durchsetzen können, weil ihre Untergebenen wichtige Unsicherheitszonen beherrschen. So können in Krankenhäusern die vermeintlichen „Götter in Weiß“ trotz ihrer formalen Befugnisse die Abläufe nicht eindeutig bestimmen. Pflegekräfte beherrschen für Ärzte wichtige Unsicherheitszonen und können diese als Tauschgut einsetzen. So sind die Ärzte von den Pflegekräften abhängig, weil sie jeweils nur häufig kurz in den Stationen verweilen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Pflegekräfte ihnen administrative und zuweilen auch kurative Arbeiten abnehmen. So können Aushandlungsverhältnisse entstehen, in denen die Pfleger die Bereitschaft zur Übernahme von stärkerer Verantwortung gegen stärkere Mitsprache bei der Patientenbetreuung eintauschen. Selbst in Gefängnissen sind die Gefangenen den Wärtern nicht hilflos ausgeliefert. Zwar können die Wärter Verfehlungen der Gefangenen melden und deren Bestrafung fordern, dies würde jedoch den Eindruck vermitteln, dass die Justizbeamten ihre Gefangenen nicht im Griff haben. Um dies zu vermeiden, entstehen Tauschbeziehungen, in denen die Wärter einige Regelverletzungen der Gefangenen durchgehen lassen, solange sie sich insgesamt kooperativ verhalten.[6]

Trotz Machtspiele wird eine Organisation in der Regel nicht zu einer Löwengrube, in denen sich die Machtspieler gegenseitig in einem darwinistischen Überlebenskampf bekriegen. Die Machtentfaltung stößt auf Grenzen, weil es in der Regel ein gemeinsames Interesse an der Fortdauer des Spiels gibt. Im Hintergrund lauert immer die Drohung eines Akteurs, das Machtspiel und damit auch die Austauschbeziehung zu beenden. Daran haben die Akteure jedoch kein Interesse oder keine Möglichkeit. Sie wollen etwas vom anderen, dass sie zu so günstigen Bedingungen von niemand anderem bekommen können, oder sie haben keine Möglichkeit, das Machtspiel zu beenden, weil sie die andere Person nicht durch Entlassung aus der Organisation entfernen können.

[1] Dieser Artikel basiert auf einer längeren Ausarbeitung, die ich zusammen mit Wolfgang Schnelle geschrieben habe; siehe Stefan Kühl, Wolfgang Schnelle: Macht gehört zur Organisation wie die Luft zum Leben. In: Herrnsteiner 2 (2001), 2000, S. 16–20. Zur Einordnung im Verhältnis zu Vertrauen und Verständigung siehe Stefan Kühl: Laterales Führen. Eine sehr kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Wiesbaden 2017, 23f.

[2] So die bekannte Bestimmung in M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 104), S. 28.

[3] So Erhard Friedberg: Le pouvoir et la règle. Paris 1993, 117f.

[4] Michel Crozier, Erhard Friedberg: Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Berlin 1979, S. 40.

[5] Siehe dazu Niklas Luhmann: Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers. In: ders. (Hrsg.): Politische Planung. Opladen 1971, S. 90–112, 99f.

[6] Siehe zu Gefängnissen David Mechanic: Sources of Power of Lower Participants in Complex Organizations. In: Administrative Science Quarterly 7 (1962), S. 349–364.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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