Identifikation für die Ziele der Organisation gilt als eine selbstverständlich gute Eigenschaft der Mitglieder. In manchen Vereinen oder Unternehmen wird sie sogar gefordert. Was nutzt es, wenn Mitglieder stark identifiziert sind – und was die Nachteile?
Skript zum Gespräch
(Das Skript gibt den Gesprächsverlauf und Inhalt wieder, ist aber gekürzt und an einigen Stellen zum leichteren Verständnis vom Wortlaut abweichend überarbeitet.)
Andreas Hermwille: Ich bin persönlich kein besonders großer Fußballfan, kann mich aber einer gewissen Faszination für die Mechanismen in Profifußballclubs nicht erwehren. Hier versuchen Arbeiterorganisationen, in denen ungefähr die gleichen Regeln gelten wie bei einer Bank, einem Reinigungsdienst oder einem Restaurant, ihre Ziele und Aufgaben zu erfüllen. Doch der Unterschied ist, dass tausende Menschen genau verfolgen, wie hier entschieden wird.
Wer stellt das Personal? Welche Ziele werden ausgegeben? Was gilt als Erfolg? Was ist ein Problem und wer überhaupt trifft hier diese Entscheidung? Und für Fans, die sowas verfolgen ist noch die wichtigste Frage Sind auch alle, die dabei sind, auch motiviert bei dem was sie tun? Schließlich kriegen sie ja Geld dafür, um für diesen bestimmten Verein zu arbeiten. Und Geld wird dann schon zu einer Art von Problem. Denn klar ist auch: Es darf nicht zu viel Geld geben, man will ja keine Legionäre, sondern man will Typen mit Charakter für einen Verein mit Tradition. Ich stelle mir das so wahnsinnig anstrengend vor, an so einem Ort zu arbeiten. Wenn wildfremde Menschen von dir fordern, bitte identifiziert mit deiner Arbeit zu sein.
Herr Kühl – Kann man vonProfisportclubs etwas lernen, wenn es um die Identifikation in Organisationen geht?
Stefan Kühl: Das Interessante ist, dass die gleichen Spieler, die mit Begeisterung für ihren Verein einstehen, mit der gleichen Begeisterung vorher das Trikot eines anderen Vereins getragen haben. Die Vorstellung, dass ein Profisportler sein ganzes Leben lang mit einem Verein verbunden bleibt, ist inzwischen nicht mehr so verbreitet. Das haben mittlerweile auch die Fans verstanden, dass die Begeisterung, die sie für ihren Verein haben, nicht identisch damit ist, dass die Spieler ihr Leben lang dabei bleiben.
Andreas Hermwille: Da würde ich widersprechen. Dass eine leidenschaftliche Identifikation mit dem Verein und seinen Spieler*innen immer noch existiert stellt man doch daran fest, dass gebuht und gepfiffen wird, wenn Spieler vor Ende der Saison ihren Abschied verkünden.
Stefan Kühl: Die spannendere Frage ist, inwiefern Fußballprofis durch die Darstellung von Identifikation auch Erwartungen bei ihren Fans aufbauen, die sie nicht erfüllen können. Wenn Sie an Manuel Neuer denken, der von Schalke gekommen ist und auch persönlich ein starkes Commitment zu Schalke gezeigt hat und dann zu Bayern München gegangen ist. Der hat sicherlich ein oder zwei schwere Jahre gehabt.
In guten wie in schlechten Zeiten
Andreas Hermwille: Wenn wir an andere Organisationsformen denken – was gibt es überhaupt für mögliche Elemente, mit denen man sich in einer Organisation identifizieren kann? Ich habe fünf Vorschläge dabei: den Zweck, die Tätigkeit, das Team, die Tradition oder die Werte, für die eine Organisation steht, und schließlich Ruhm, also dass entweder die Organisation selbst Strahlkraft hat oder sie einem als Person helfen kann, bekannt zu werden. Was sagen sie dazu?
Stefan Kühl: Beim Fußballbeispiel würde man jedenfalls alle fünf finden. Die Identifikation mit dem Fußball, die Freude, ins Stadion zu gehen, der eigene Fanblock, die Tradition des Vereins – und natürlich erinnert man sich auch gern an die Meisterschaften, die man gewonnen hat. Wobei ein richtiger Fan auch leidensfähig sein muss. Vielleicht ist sogar das Festhalten an einer Organisation, auch wenn sie gerade keinen Erfolg hat, der deutlichste Ausdruck von Identifikation.
Der Clou moderner Organisationen besteht darin, dass sie ihren Mitgliedern ihre Motive abkaufen können.
Andreas Hermwille: Man muss vielleicht zwischen Identifikation und Motivation trennen. Das fällt häufig zusammen – also wer identifiziert ist, ist motiviert, etwas zu tun – muss es aber nicht. Motivation heißt ja nicht unbedingt, dass Mitglieder interessiert sind, etwas zu tun, sondern nur, dass man sie dazu bringt, es zu tun. Wenn man daran denkt, was eine Mitgliedschaft in einer Organisation motivieren kann, müsste man vielleicht noch Geld und Zwang bei der Liste ergänzen. Damit kann man sich aber nicht so gut identifizieren.
Stefan Kühl: Spannend bei Fußballvereinen ist, dass die Geldzahlung in dem Moment einsetzen, wo es um das professionelle Personal des Vereins geht. Also die Fans zahlen für ihre Mitgliedschaft – und der Verein nutzt die Mitgliedsbeiträge und alle anderen Einnahmen, um die Spieler zu bezahlen. Man weiß, dass die Ehre, für Arminia Bielefeld oder St. Pauli zu spielen, nicht alleine ausreichen würde, um die Spieler an diesen Club zu binden.
Allein das zeigt, dass die Identifikation der Spieler mit dem Verein gering ist, sonst könnte man ja auch auf die Geldzahlung verzichten. Der Clou moderner Organisationen besteht darin, dass sie ihren Mitgliedern ihre Motive abkaufen können, dass sie also nicht auf Identifikation angewiesen sind. Es ist ein evolutionärer Fortschritt, dass man nicht mit jeder Tätigkeit unbedingt identifiziert sein muss.
Gibt es unverkäufliche Motivation?
Andreas Hermwille: Aber man kann nicht alles kaufen. Eine wichtige These im Management Diskurs ist, dass man andere Ergebnisse bekommt, wenn Leute von ihrer Arbeit überzeugt sind.
Stefan Kühl: Mit Karl Marx könnte man sagen, es handelt sich um das klassische Transformationsproblem der Arbeitskraft, nämlich die Frage, wie kriege ich die abstrakt eingekaufte Arbeitskraft, also die Anwesenheit von 8:00 bis 18:00, umgesetzt in konkrete Arbeitskraft, also erbrachte Leistungen. An dieser Frage hat sich die Organisationsforschung schon 100 Jahre lang die Zähne ausgebissen. Vermutlich gibt es einfach verschiedene Alternativen. Eine Möglichkeit ist Kontrolle, eine andere wäre Kennzahlen, oder man sorgt dafür, dass die Organisation so attraktive Ziele hat, dass das Mitglied die Leistung freiwillig erbringt. Das sind funktionale Äquivalente für das Problem, Motivation sicherzustellen.
Andreas Hermwille: Sie haben es gerade bereits als Evolution der Organisation beschrieben, dass man zwischen den Interessen von Mitgliedern und ihrer Arbeitskraft trennen kann. Das deutet ja bereits darauf hin, dass es für die Organisation dienlich ist, wenn Identifikation nicht notwendig ist, insofern man sie bezahlen kann. Wann hat Identifikation Vorteile und wann wird sie zu einem Problem?
Die Nachteile starker Identifikation
Stefan Kühl: Die Identifikation hat Vorteile für Organisationen, die die Arbeitskraft ihrer Mitglieder kostenlos bekommen möchten, zum Beispiel im Fall von religiösen oder politischen Sekten. Ein Nachteil ist, dass es unflexibel macht. In dem Moment, wo ich nur für einen ganz bestimmten Zweck motivierte Mitarbeiter habe, können sie diese nicht ohne Weiteres woanders hin versetzen oder den Zwecke der Organisation ändern, ohne dass sie es sofort mit Motivationsverlusten zu tun bekommen. Die Organisationen sind weniger wandlungsfähig in dem Moment, wo sie es mit einer starken Identifikation der Mitarbeiter zu tun haben.
Andreas Hermwille: Aber wie oft ändern Organisationen ihre Zwecke? Wer als politische Gruppierung anfängt wird selten zur Schuhfabrik, würde ich mal behaupten.
Stefan Kühl: Wenn z. B. eine politische Partei an die Regierung kommt, dann ist es schon so, dass das ursprüngliche Programm aus der Opposition, was stark motivierend für die Organisation der Mitglieder gewirkt hat, häufig nicht mehr ohne Weiteres umzusetzen ist, was zu einer gewissen Desillusionierung führt. Oder denken Sie an viele Unternehmen, die einen Produkt- oder Arbeiterstolz haben. Das ist teilweise beeindruckend zu sehen, wie stark man sich mit z. B. einer bestimmten Motorentechnologie auch identifizieren kann, und was es dann bedeutet, wenn z. B. auf Elektromotoren umgestellt wird. Natürlich kann man sagen, es geht in der Automobilindustrie immer um Mobilität, aber darunter gibt es schon enorm viel Spiel, was die Attraktivität von bestimmten Zwecken angeht.
Wie weit wirkt Stolz aufs Produkt?
Andreas Hermwille: Bei Automobilhersteller vermute ich einfach Existenzängste der Mitglieder. Wenn man sein Leben lang auf Verbrennungsmotoren spezialisiert war und dann wechselt das Unternehmen in den E-Mobilitätbereich, dann hat man vielleicht auch einfach Angst um seinen Job.
Stefan Kühl: Gerade bei Automobilkonzernen scheint mir die Arbeitsplatzsicherheit nicht das zentrale Motiv. Die sind in der Regel sehr gut abgesichert. Ich glaube es gibt tatsächlich diesen Produktstolz, der dazu beiträgt, dass man lieber am Verbrennungsmotor festhält. Meine Beobachtung ist jedenfalls, dass hier das µ…Instrument der Entlohnung eingesetzt wird, um die Leute, trotz ihrer starken Identifikation mit dem Verbrennungsmotor dazu zu bringen, sich mit alternativen Antriebskonzepten auseinanderzusetzen.
Was geschieht, wenn es zu wenig Identifikation gibt?
Andreas Hermwille: Was passiert denn, wenn es zu wenig Identifikation gibt? Ich nehme mal an, das sind Organisationen mit hoher Fluktuation. Die verlieren ihre Mitglieder, sobald eine andere Organisation mehr zahlt. Wahrscheinlich, denn das ist das das eine, das eine Mittel, das Identifikations unabhängig funktionieren kann.
Stefan Kühl: Ja, man kann diese Organisationen als Söldner-Organisationen bezeichnen. Meine Vermutung ist, dass vermutlich 98 % normaler Arbeitsorganisationen Söldner-Organisationen sind. Ich kenne nur wenige Organisationen, wo Organisationsmitglieder so stark identifiziert sind, dass sie bleiben würden, auch wenn sie woanders das Doppelte bekommen. Manchmal gibt es Phasen von Hyper-Identifikation, gerade in den ersten ein, zwei Jahren von Startups oder ähnlichem. Aber in der Regel ist das nach ein paarJahren vorbei.
Andreas Hermwille: Könnte man sagen das eigentliche Dilemma von Arbeitsorganisationen liegt daran, dass sie nicht die Wahl haben zwischen Unflexibilität durch Identifikation und Flexibilität durch Nichtidentifikation, sondern dass sie Mitglieder immer zusätzlich durch Identifikation binden müssen, weil sie sonst im Zweifel gehen?
Stefan Kühl: Ich würde sagen, dass Organisationen, die über stark zweckidentifizierte Mitglieder verfügen, weniger bezahlen müssen und umgekehrt. Man kann auch beobachten, wie das dann austariert wird, wenn zum Beispiel politische Nichtregierungsorganisationen immer mehr zu einer Beratungsorganisation im politischen Feld wird. Dann stellt man fest, dass plötzlich die Zweckidentifikation unwichtiger wird, man aber dann gezwungen ist, die Mitglieder besser zu entlohnen.
Andreas Hermwille: Es sei denn, man ist wieder in der Autoindustrie, nicht wahr? Ich denke da an Kurzarbeit während verschiedener Krisen, wo die Mitarbeitenden Abstriche machen, damit ihre Organisation weiter existieren kann.
Stefan Kühl: Da habensie einen etwas verklärten Blicks auf Kurzarbeit. In der Regel wird 90 % des Gehalts weiter gezahlt. Da lohnt es nicht, sich einen neuen Job zu suchen. Eine Variante, an die man denken kann, sind Betriebe, die geschlossen werden und dann von den Arbeitnehmern selbst übernommen werden. Da gibt es prominent behandelte Fälle, , zum Beispiel eine Lebensmittelfabrik von Unilever, die Tee herstellt, ein Fabrikgelände in Frankreich geschlossen hat. Die Arbeiter haben das dann besetzt und am Ende ausgehandelt, dass sie das selbst übernehmen können und haben dann zu deutlich niedrigeren Löhnen weitergearbeitet. In solchen Fällen kann man beobachten, wie man – wenn plötzlich eine Zweckidentifikation geboren wird – plötzlich niedrigere Löhne in Kauf nimmt.
Wieso Profis leichter wechseln können als Fans
Andreas Hermwille: Wenn wir zum Abschluss wieder an unseren Anfang zurückdenken: Was bedeutet das für den stark traditionell orientierten, aber gut zahlenden Profifußballverein?
Stefan Kühl: Ich glaube, dass man sich um Fußballprofis wenig Sorgen machen muss. Spannender ist die Frage, ob Fußballfans überhaupt die Möglichkeit haben, ihren Fußballverein zu wechseln. Ich erinnere mich daran, dass ich vor zehn Jahren mal in einem Seminar erzählt habe, dass meine Sympathien irgendwann von Arminia Bielefeld zu St. Pauli rüber gewandert sind. Man merkte die Empörung eines Studenten, der konnte sich gar nicht mehr halten, und sagte, das würde überhaupt nicht gehen, was ich da gemacht habe. Was mir an der Stelle deutlich geworden ist, ist, dass jedenfalls eine gewisse Flexibilität auf der Fanseite dazu führt, dass man von anderen Fußballfans nicht mehr akzeptiert wird.
Andreas Hermwille: Von Arminia zu St. Pauli wechseln? Herr Kühl. Das kann man zwar machen. Aber dann waren Sie nie wirklich Fan.
Stefan Kühl: Das ist wenn ich mich richtig erinnere, exakt das, was auch der Student gesagt hat.