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Podcast Die Humanisierung der Organisation

#6 Streitet Euch!

  • Judith Muster
  • Kai Matthiesen
  • Andreas Hermwille
  • Dienstag, 22. November 2022

Jede Organisation hat Zweckwidersprüche, die sie bearbeiten muss. Wo soll Zeit und Aufmerksamkeit investiert werden? Wofür hält man Finanzen vor? Will man das beste Produkt oder das gut herzustellende Produkt? Um nicht im Stillstand zu verharren, brauchen Organisa­tionen eine Institution, die die unterschiedlichen lokalen Rationalitäten bündelt und über Konfliktfälle entscheidet.

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Andreas Hermwille: Ihr beschreibt es als unumgänglich, dass es in Organisa­tionen lokale Rationalitäten gibt und einem deshalb Zweckwider­sprüche begegnen. Warum ist das so unumgänglich?

Kai Matthiesen: Die Ursünde jedes Organisieren ist die Arbeitsteilung. Nicht alle können das Gleiche und es sollten auch nicht alle das Gleiche machen. Wenn man damit anfängt, Arbeit unter Menschen aufzuteilen, entwickeln sie eigene, „lokale Rationalitäten“, also Denkweise darüber, wie etwas zu sein hat. Es ent­stehen in den verschiedenen Abteilungen eigene Perspektiven darüber, was für die Organisation das Beste ist.

Wenn aber alle tun, was aus ihrer jeweiligen Sicht das beste ist, kommt nicht automatisch etwas Gutes dabei heraus, weil die Arbeit auch wieder zusam­mengefügt werden muss. Man muss es sich also leisten können, zu organisieren, weil durch das Organisieren Ineffizienz in die Organisation kommt, weshalb der Effizienzzugewinn durchs Organisieren größer muss als die Ineffi­zienz, die durch Arbeitsteilung entsteht.

Andreas Hermwille: Was ist mit kleinen Organisationen mit 15 Mitgliedern, bei der alle alles können?

Judith Muster: Solange in einer Organisation mit 15 Mitgliedern nicht immer alle 15 gleichzeitig zum gleichen Kunden gehen, werden sich lokale Rationalitäten entwickeln.

Die Funktionalität von guter Arbeitsteilung

Andreas Hermwille: Im Buch wird eure Vorliebe für Arbeitsteilung in Silos besonders deutlich, wenn ihr schreibt „das schönste Geräusch im Silo ist das der ins Schloss fallenden Tür, die das Durcheinander der übrigen Organisation draußen hält“. Damit widersetzt ihr euch aktuellen Trends, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Silos abzubauen.

Judith Muster: Der Trick ist, Silos punktuell zu unterbrechen. Deswegen gibt es ja die Tür, die zwar ins Schloss fallen kann, die man aber auch wieder aufmachen kann. Neben der Arbeitsteilung durch das Zuschneiden der Kommunikations­wege, die regeln, wer welche Arbeit macht und sich mit wem darüber abstimmt, gibt es ja noch die Gestaltungshebel der Arbeits­programme und des Personals. Die Aufgabe ist, die funktionale Arbeitsteilung durch Strategien, Leitbilder und normatives Management aber auch über Prozesse, Meetingsstrukturen und Governancestrukturen punktuell aufzubrechen, so dass die Teile wieder zusammenfließen und Integration stattfindet.

Widersprüchliche Zwecke führen zu Diskursen, und Diskurse führen zu Lösungen, die miteinander ausgehandelt wurden und deshalb besser funktionieren, als Lösungen, die ohne dieses Ringen miteinander zustande kommen.

Kai Matthiesen: Man muss nicht auf Arbeitsteilung verzichten, um eine gute Organisation zu haben. Man muss aber vor allem bei Organisationsreformen aufpassen, dass man neue Kästchen, die man in der Organisation zuschneidet, auch wieder integriert, so dass sich die Teile zu einem Ganzen zusammenfügen. Man muss sich immer fragen: Was will ich eigentlich mit dieser Organisation?

Judith Muster: Nehmen wir zum Beispiel an, eine Organisation möchte eine neue Strategie entwickelt, um einen aktuellen Wettbewerbsvorteil zu halten. Dabei könnte es sinnvoll sein, zwar eine zentrale Strategie zu entwickeln, aber die einzelnen beteiligten Abteilungen für sich zu organisieren. Im Ergebnis gibt es dann zum Beispiel eine Abteilung, die darauf achtet, dass die Preise durch Branding und Qualität hochgehalten werden, und eine andere Abteilung, die darauf schaut, dass trotzdem die Herstellung einigermaßen effizient funk­tioniert und die Produkte logistisch kostengünstig zum Kunden kommen.

Hierbei würde ein klassischer Zweckwiderspruch zwischen den Abteilungen entstehen, weil die eine die Qualität hochhalten möchte und die andere die Kosten niedrig. Daraus folgt, dass die beiden Abteilungen miteinander in Kontakt gehen und sich auseinandersetzen müssen. Dieses Ringen um eine optimale Lösung für beide Interessen wäre ein gutes Beispiel für ein produktives Silo. Widersprüchliche Zwecke führen zu Diskursen, und Diskurse führen zu Lösungen, die miteinander ausgehandelt wurden und deshalb besser funktionieren, als Lösungen, die ohne dieses Ringen miteinander zustande kommen.

Zweckkonflikte dort verhandeln, wo sie lösbar sind: Auf der Führungsetage

Andreas Hermwille: Ihr beschreibt, dass es zum Problem werden kann, wenn sich Vorstände zu gut verstehen. Warum soll das nicht gut sein?

Judith Muster: Wir haben beobachtet, dass wenn Vorstände auf der oberen Managementebene zu harmonisch miteinander umgehen, die Zweckwider­sprüche der Organisation nicht dort verhandelt werden, wo sie verhandelt werden müssen. Wenn die Vorstände nicht um die Vereinbarkeit dieser eigentlich widersprüchlichen Ziele ringen, dann findet dieses Ringen irgendwo in der Organisation statt und führt zu enormem Effizienzverlusten. Dabei geht es oft um Konflikte um knappe Ressourcen, die ungelöst nach unten eskaliert werden. Die Geschäftsführung muss verstehen, dass sie strukturell unter Spannung gesetzt sind. Das tut vielleicht auch mal weh, weil man sich streiten muss. Aber wenn diese Spannungen nicht ausgehandelt werden, landen sie an Stellen, wo das Abwägen zwischen dem einen und dem anderen nicht mehr möglich ist.

Die Autonomie, nach der alle Teilbereiche einer Organisation streben, ist ein Abbild der Effizienz der Arbeitsteilung. Und am besten läuft es dort wieder zusammen, wo man den Überblick hat.

Kai Matthiesen: Auch Vorständehaben ihre eigenen lokalen Rationalitäten. Und um ihre eigene Rationalität voll entfalten zu können, ist es für sie auch oft einfacher, autonom zu arbeiten, um sich auf ihre einzelne Teilaufgabe voll konzentrieren zu können. Und dieses Ringen mit anderen Vorständen würde diese Mauern wieder einreißen, weil man dann plötzlich genau gucken muss, was brauchen eigentlich die anderen und wie setzen wir die Strategie am besten um? Die Autonomie, nach der alle Teilbereiche einer Organisation streben, ist ein Abbild der Effizienz der Arbeitsteilung. Aber irgendwo muss es halt wieder zusammenlaufen und das wird am besten dort geregelt, wo man den Überblick hat.

Judith Muster: Als Vorstand hat man nicht den Luxus, den die anderen Organisationsmitglieder haben, die ihre Scheuklappen aufbehalten dürfen. Softwareentwickler werden nicht dafür bezahlt, mitzudenken, was andere in der Organisation auch noch wollen könnten. Vorstände schon. Das Zusammenführen der einzelnen Silos, die ja gebaut wurden, um die Komplexität auf ein erträg­liches Maß zu reduzieren, das muss auf der Ebene geschehen, wo auch die Möglichkeiten sind, das Gesamtkunstwerk Organisation sinnvoll zu beeinflussen.

Das süße Gift der Zweckprogramme

Andreas Hermwille: Ihr stellt als weitere Möglichkeiten der Integration noch „Programme“ vor, genauer genommen Konditional- und Zweckprogramme. Zweckprogramme beschreibt ihr als „süßes Gift“, weil man ihn sie alles rein­geben und für alles Ziele ausgeben kann und dadurch verschleiern, dass es in der Organisation Widersprüche gibt. Dafür seht ihr in Kondition­alprogrammen eine notwendige und brauchbare Ernüchterung für die Organisation. Habe ich das richtig verstanden?

Kai Matthiesen: Überall da, wo man es schafft, Konditionalprogramme einzuführen und von Zweckprogrammen zu entlasten, lohnt es sich. Im Grunde sind das all die Automatisierungen und Routinen, die man teilweise auch auf Maschinen übertragen kann. Für alles andere braucht es Zweckprogamme – und je weiter sich unsere Arbeitsteilung entwickelt, desto mehr werden wir bei Zweckprogrammen landen.

Judith Muster: Im Moment werden häufig diese Spotify Modelle eingeführt in Workstreams jenseits der funktionalen Arbeitsteilung. Ich nenne das immer Schummelmatrix, weil man versucht, über die Silos der funktionalen Arbeits­teilung hinweg eine Matrixstruktur einzubauen und damit die Silos wieder zu heilen. Das ist eigentlich keine doofe Idee. Das Problem ist nur, dass die, die diesen Prozess dann führen sollen, nicht mit Führungsmitteln ausgestattet sind und eigentlich nichts zu sagen haben. Man etabliert damit einfach Situationen gescheiterter lateraler Führung, wo die beteiligten Process Owner nicht in Führung kommen, weil sie im Verhältnis zur Weisungsbefugnis, die die funktionalen Einheiten haben, wenig Einfluss haben.

Organisationsgestaltung

Verhalten beobachten – aber Verhältnisse bearbeiten!

Kai Matthiesen: Dabei kann man häufig beobachten, wie von den Beteiligten versucht wird, das Zweckprogramm wieder in Konditionalprogramme umzu­wandeln. Die versuchen dann herauszufinden, wann genau sie mitreden dürfen und wann genau sie wen informieren sollen usw.  Das klappt aber nie, weil dieses Zweckprogramm genau dafür da ist, etwas relativ Unstrukturiertes trotzdem zu einem guten Ende zu führen.

Andreas Hermwille: Wie unterscheiden sich denn hier die Programme von der Hierarchie?

Judith Muster: Prozesse betreffen oft beides. In dem Beispiel ist die Idee, eine Programmierung über die Silos zu legen, wobei die Prozessbeschreibung die Silos miteinander verschränkt. Die Probleme entstehen, wenn man eine Prozes­skette aufsetzt, die die Kommunikationswege regelt, aber die Routine nicht verändert, weshalb die Hierarchie nicht berührt wird und man bei den fehlenden Führungsmitteln ein Problem bekommt. Es ist kompliziert.

Personen als Puffer zwischen den Zweckwidersprüchen

Andreas Hermwille: Als weitere Möglichkeit, um Widersprüche einer Organisation aufzulösen, nennt ihr Personen, die in der Lage sind, zwischen Konflikten und Zweckwidersprüchen zu vermitteln, weil sie die Organisation schon lange kennen.

Kai Matthiesen: Es geht uns da um Personen, die schon lange in der Organisation sind, die schon lange gute Arbeit leisten und vielen Leuten gegenüber ein Vertrauensverhältnis haben. Bei so einer Person ist es egal, ob sie Pförtner oder Vorstandsmitglied ist – man weiß, wenn man zu ihr hingeht, wird einem geholfen. Die Rolle, die solche Personen in Organisationen ausfüllen, könnte man gar nicht formal beschreiben. Solche Personen werden zu einem Integrationsmechanismus für die Organisa­tion, weil sie durch die personenbezogenen Erwartungen, die sich an sie entwickeln, eine Lösung für die Widersprüche bereitstellen. Diese Flexibilität, die Personen hier mitbringen, kann man nicht in die Organisation hineinprogrammieren.

Judith Muster: Personen können auch gezielt als ausgleichende Kraft für Konflikte eingestellt werden. Ein Beispiel wäre eine Organisation, in der der Support nicht so funktioniert, wie das Business das will, weil der Support seine Strukturen auf die eigenen Belange einstellt und nicht auf das Business. Eine Lösung für dieses Problem wäre, jemanden aus dem Business als Führungskraft im Support einzustellen. Diese Person wird sich – zumindest eine Zeit lang – relativ gut auf die lokale Rationalität beider Abteilungen einstellen können. Alternativ könnte man definieren, dass eine Person qua Rolle in beiden Bereichen anwesend ist, um zu vermitteln. Da nutzen Organisationen die Integrationskraft von Personen.

Gute Strukturen helfen gegen schlechte Führungskräfte

Andreas Hermwille: Wird diese Person dann nicht zwischen den Erwartungen zerrissen?

Kai Matthiesen: Es gibt oft Fälle, wo Personen in Organisationen persönlich attestiert wird, dass sie eine unfähige Führungskraft seien, bei genauerer Betrachtung jedoch deutlich wird, dass diese Person an der Schnittstelle in der Matrix sitzt, und von beiden Seiten mit Ansprüchen konfrontiert wird. Man kann sich dann fragen: Stelle ich eine andere Person ein, die das persönlich besser ausbalancieren kann, oder justiere ich die Verantwortungen in der Organisation besser, so dass egal, wer an dieser Stelle sitzt, die Spannungen nicht so hoch ausschlagen?

Judith Muster: Die Organisation muss die Person über Prozesse und Kommuni­kationswege und Programme so in die Struktur einbinden, dass es eben nicht nur zu Lasten der einzelnen Person geht. Alles andere ist unfair, weil sich die Person in der Vermittlung vollständig aufreiben wird. Eine Suchfrage, die sich durch das ganze Buch zieht, ist: Wann wird die Organisation in ihrer Unper­fektheit für die Personen zu einer unangemessenen Belastung? Und wann könnte man es durch bessere Strukturen so lösen, dass es der Person auf der Stelle einfacher fällt, ihre Arbeit gut zu machen? Ein positiver Nebeneffekt ist ja, dass Organisationen, die personenunabhängiger organisiert sind, auch robuster sind und weniger anfällig, weil das Personal wechseln kann ohne dass es die Organisation belastet.

Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

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Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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Andreas Hermwille

freut sich wenn er eine Frage findet, die Geschichten als Antwort haben.

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