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Organisationsgestaltung

Verhalten beobachten – aber Verhältnisse bearbeiten!

  • Kai Matthiesen
  • Mittwoch, 13. April 2022
Verhalten Beobachten aber Verhältnisse bearbeiten

Im Umfeld von Organisationsgestaltungen und Transformationen ist es leider üblich geworden, auch „das Mindset“ der Mitarbeitenden als Faktor mit einzubeziehen, der bearbeitet werden muss. Wo neue Verhältnisse funktionieren sollen, muss man die Menschen erst zu neuem Verhalten befähigen – so oft die Idee. Dabei ist es in Organisationen meistens umgekehrt. Ein Fall aus der Praxis zeigt, wie stark die Verhältnisse das Verhalten bestimmen.

Wo Menschen seltsames, unverständliches oder scheinbar dummes Verhalten an den Tag legen, greifen wir im alltäglichen Miteinander schnell nach den einfachen Erklärungen: Wer sich seltsam verhält, ist ein seltsamer Mensch. Diese einfachen Kategorisierungen sind notwendig, will man mit den unzähligen Begegnungen, die man mit Fremden macht, überhaupt fertig werden. Sie helfen zu entscheiden, an welcher Supermarktkasse man sich anstellt, neben wen man sich in der Bahn setzt, und ob eine Gruppe Menschen mit gleichen T-Shirts und einem Bauchladen ein Grund ist, die Straßenseite zu wechseln (darauf ist die Antwort grundsätzlich: ja).

Beurteilt man das Verhalten von Menschen in Organisationen, wird es aber komplexer. Natürlich kann ich es mir gnadenlos einfach machen und weiterhin jedes Verhalten, das ich beobachte, der Person zurechnen. Der Busfahrer, der nicht bereit ist, mich abseits der Haltestelle aussteigen zu lassen, schikaniert dann gerne Menschen. Und die Kolleg:innen in der Rechtsabteilung werden zu unkreativen, destruktiven Pedant:innen, die nichts eigenes erschaffen, aber eine diebische Freude daran haben, gute Ideen mit Juristerei zu verhindern. Doch dabei unterschätzt man, wie sehr menschliches Verhalten von der Organisation geprägt wird.

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Der Faktor Mensch

In Organisationen verhalten sich Personen gemäß ihrer Mitgliedschaftsrollen – den formalen im Arbeitsvertrag und den informalen, die sich über Zeit ergeben. Meistens schadet es nicht davon auszugehen, dass sie ihre Rollen so gut wie möglich ausüben wollen. (Enttäuschen lassen kann man sich immer noch.) Wo man nun mit Verhalten konfrontiert wird, das aus der eigenen Perspektive unerklärlich, nutzlos, vielleicht sogar bösartig wirkt, hilft es, vom Blick auf den einzelnen Menschen Abstand zu nehmen. Stattdessen werden die Verhältnisse interessant, in denen das Verhalten gezeigt wird. Was kann hier als Auslöser gelten? Aufgrund welcher formalen oder informalen Erwartungen ergibt es Sinn, sich so zu verhalten? Wo man diese Fragen konsequent anwendet, wird häufig deutlich, dass das für problematisch gehaltene Verhalten als Lösung für problematische Verhältnisse dient.

Seltsames Verhalten in der Praxis: Schreiende Teamleitungen

Wir haben einen solchen Fall in der Beratung eines Industrieunternehmens erlebt, das nach der Einführung von Gruppenarbeit massive Schwierigkeiten mit der Arbeitskultur bekommen hatte. Vor Einführung der Gruppenarbeit lag die Führungsspanne bei 1 zu 400. Nach der Neuorganisation waren in der Produktion ein Gruppenleiter und ein Stellvertreter für eine Gruppe von 50 Mitarbeitenden verantwortlich. Die neu ernannten Führungskräfte hatte das Unternehmen aus der Mannschaft rekrutiert, mit einem aufwändigen Prozess und genauer Prüfung der Qualifikationen. Dennoch waren sie es, die jetzt negativ auffielen: Sie regelten Konflikte, indem sie ihre Untergebenen anbrüllten. Alltägliche Konflikte und Entscheidungssituationen reichten dafür, dass es sehr schnell sehr laut wurde. Untergebene anzuschreien, wurde vom peinlichen Ausraster, für den man sich entschuldigt, zur selbstverständlichen Routine.

Wenn mehrere unterschiedliche Menschen gleichzeitig ein neues Verhaltensmuster zeigen, liegt die Vermutung nahe, dass die Strukturen verantwortlich sind.

Für die Organisation war die Situation klar: Man hatte die Führungsqualitäten des gewählten Personals überschätzt. Man wandte sich an uns, damit wir dabei unterstützen würden, durch Workshops und Schulungen die Gruppenleiter:innen auf die neue Führungsaufgabe besser einzustellen und so für respektvollere Umgangsformen zu sorgen.

Für uns verhielt sich die Lage weniger eindeutig. Wenn mehrere unterschiedliche Menschen gleichzeitig in solche Verhaltensmuster verfallen, liegt die Vermutung nahe, dass das weniger an ihren individuellen Charakterschwächen, als an der Überforderung durch die Situation liegt. Bevor man also einen Workshop darüber macht, dass Führung auch ohne Schreien funktionieren kann, haben wir die Frage gestellt: Welche Verhältnisse könnten dieses Verhalten hervorbringen?

Für die Gruppen waren die Gruppenleitungen unwichtig

Wir betrachteten dafür zuerst die Situation der Angeschrienen – also der Gruppenmitglieder. Deren Wünsche und Interessen waren leicht zu ermitteln: Gewünscht waren Schichten mit hoher Zulage, die beliebteren Aufgaben und angenehmen Einsatzorte. Wir haben die Arbeiter:innen auch danach befragt, welche Ansprechpartner:innen in ihrer Schicht für sie wichtig waren: An wen wenden sie sich bei Problemen? Wie funktionieren Übergaben? Wir waren überrascht, dass die Gruppenleitungen in den Antworten nicht auftauchten. Sie waren nicht für Schichtzuteilungen, Einsatzorte, oder andere Vorteile verantwortlich. Ebenso wenig waren sie gefragt bei der Lösung von Problemen. In den Antworten der Arbeiter:innen kamen ihre direkten Vorgesetzten nicht vor. Sie waren schlicht irrelevant.

Auf der anderen Seite wurden die Gruppenleitungen von ihren Vorgesetzten für alles verantwortlich gemacht, was am Arbeitsplatz geschah: Die Produktivität, die Arbeitssicherheit, die Einhaltung des Rauchverbots oder die Bereitschaft der Belegschaft, bei Bedarf Überstunden zu leisten. So hatten die Gruppenleiter:innen zwar einen Packen Erwartungen, den sie zu tragen hatten – doch sie hatten selbst keine formalen Mittel erhalten, um auf ihre Untergebenen einzuwirken. Formalstruktur ging auf Kosten der Personen. Im Ergebnis wussten sich die Gruppenleiter:innen nicht anders zu helfen, als ihre Untergebenen anzuschreien – ein Versuch, fehlende formale Führungsmittel mit autoritärem Auftreten zu kompensieren und den eigenen Willen mit Aggressionsdemonstration irgendwie durchzusetzen. Die schwierigen Verhältnisse führten also zu einem schwierigen Verhalten.

Der einzige Vorteil dieser Lautstärke aus Not lag darin, dass sie ein eklatantes Problem anzeigte und dem Management Handlungsbedarf signalisierte. Im Fall dieses Industrieunternehmens wurde das Problem bearbeitet, indem man den Gruppenleiter:innen die Entscheidung über Schichteinteilung und Freischichten übertrug. Damit stand ihnen als Führungsinstrument ein Tauschmittel zur Verfügung: Statt zu brüllen, konnten sie ihren Untergebenen jetzt Vorteile gewähren oder entziehen.

Verhalten würdigen – aber die Verhältnisse bearbeiten

Der klare Blick auf die Verhältnisse der Organisation, und nicht zuerst auf das Verhalten der einzelnen Individuen, verhilft zu einer gewissen Gelassenheit in der Organisationsgestaltung. Der Abstand lässt den Blick auf das spezielle soziale System einer Organisation zu. Wie sehen die Eigenlogiken aus? Wie lassen sich Operationen beobachten und erfassen? Welche Kategorien und Begriffe sind dabei hilfreich? Und welche Gestaltungsmöglichkeiten stehen in der Ausrichtung der Strukturen zur Verfügung?

Der Mensch verhält sich entsprechend der Verhältnisse meist klug und tut sein Bestes. Will man das Verhalten ändern, setzt man daher am besten an den Verhältnissen an.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus „Die Humanisierung der Organisation – wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert“ (Vahlen, 2022).

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augenmerk auf die alltäglichen Aufgaben von  Organisationsmitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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