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Die Humanisierung der Organisation Podcast

#3 Tut mir leid, es liegt halt an dir

  • Judith Muster
  • Andreas Hermwille
  • Mittwoch, 2. November 2022

In Organisationen sorgen verschiedene Mechanismen dafür, dass strukturelle Probleme den Menschen zugerechnet werden. In dieser Folge geht es darum, dass diese meistens nicht geplant eingesetzt werden, sondern einer Eigendynamik folgen. Außerdem stellt Judith Muster klar: Bei guter Organisationsgestaltung geht es nicht darum, eine Maximalgrenze für Belastung von Personen zu definieren und sich auf diese zuzuarbeiten, sondern im Gegenteil: Strukturen so zu schaffen, dass Personen möglichst unterstützt werden.

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Andreas Hermwille: Es gibt am Anfang eures Buches eine interessante Beschreibung, die da lautet: „Es ist für die Organisation schlicht bequemer, die Ursache für fehlerhaftes Handeln bei den beteiligten Personen zu suchen, als die Defizite in den Organisationsstrukturen zu identifizieren und sie entsprechend umzubauen.“ Ich las das und dachte. Heißt das, Organisationsgestalter*innen sind einfach alle faul?

Judith Muster (lacht): Nein, das sind sie nicht. Aber die Organisation ist halt der mächtigste Mechanismus der modernen Gesellschaft. Die schafft es, Dinge mit ihren Mitgliedern zu machen, die man gar nicht so stark auf der Platte hat. Und eines dieser Dinge ist, dass die formalen und informalen Strukturen unter „Strukturschutz“ stehen. Deswegen hat man die Tendenz, in Organisationen immer erst auf die Personen zu schauen, bevor man bemerkt, was der Mechanismus dahinter ist.

Das ist an sich auch logisch: Denn man sieht die Person handeln, nicht die Organisation. Man ärgert sich über die Person und nicht in erster Linie über die Organisation, dieses ominöse Wesen. Wir haben in der letzten Folge schon darüber diskutiert: Was ist eigentlich die Organisation? Das ist ganz schwer zu greifen. Und da man es kaum adressieren kann, liegt es nahe, auf die Person zuzurechnen.

Organisationen haben immer einen Strukturschutz – ob sie wollen, oder nicht

Andreas Hermwille: Ich mag diesen Begriff, „Strukturschutz“. Einerseits klingt er schützend, andererseits geht er auch nicht weg. Es ist ja auch ein Leiden der Organisation, dass sie diesen verdammten Strukturschutz mit sich rumträgt und nicht loswird, der die gesamten Kugeln der Veränderung abprallen lässt und sie ableitet auf Personen. Man wird ihn nicht los, oder?

Judith Muster: Ja, weil Organisationen Erwartungen möglichst auf Dauer stellen müssen, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben und damit erstmal ein Stück weit veränderungsresistent sind.

Andreas Hermwille: Auf Dauer gestellte Erwartungen widersprechen ja in gewisser Weise dem, was eine „moderne“ Beschreibung einer Organisation ausmacht. Da wird die Veränderung nach vorne gestellt. Oder es geht darum, dass Organisationen anpassbar sein sollen. Wie steht das im Verhältnis dazu, dass du gerade gesagt hast, sie müssen stabil bleiben?

Judith Muster: Was Du gerade genannt hast, sind normative Beschreibungen, wie Organisationen sein sollen. Die sollen veränderbar, agil und kundenorientiert sein. Das andere ist die empirische Beschreibung, die die Soziologie liefert. Zu sagen: Wie ist es denn wirklich? Und je lauter Management-Moden nach solchen Dingen wie Verhandlungsfähigkeit schreien, desto weniger veränderungsfähig ist vermutlich das soziale System, auf das Sie abzielen.

Warum werden Probleme Personen zugerechnet?

Andreas Hermwille: Wir haben nun diese Situation: Es gibt Probleme in der Organisation und sie werden abgeleitet auf Personen. In eurem Buch wird meistens bei den Fällen klar: Okay, dieses Verhalten kann an der Person doch gar nicht liegen. Es muss daran liegen, was sie als Aufgabe bekommen hat. Was ich mich dabei manchmal frage: Wieso werden wir in Organisationen für strukturelle Probleme so blind? Was macht so blind dafür, dass es die Person sein muss und nicht die Struktur?

Judith Muster: Das ist eine spannende Frage. Es ist zum einen wirklich die Tatsache, dass man die handelnden Personen beobachtet und sich über die auch ärgert. Und ein anderer wichtiger Faktor sind die informalen Erwartungsstrukturen. Viel von dem, was wir soziologisch als Struktur verstehen, ist nicht nur das, was formal niedergelegt ist und was man entscheiden kann. Es sind auch die gelebten Praktiken, die kurzen Dienstwege und Workarounds. Alles, was man unter Informalität fassen würde, ist per se nicht gut besprechbar in der Organisation. Das heißt, man beobachtet, wie sich Personen eingebunden in eine Struktur verhalten. Aber an die informalen Gründe kommt man nicht so gut heran.

Es sind also zwei Verschleierungmechanismen. Erstens, dass man ständig auf Personen schaut, weil man sie beim Handeln beobachtet und zweitens, dass oft die wirklichen Gründe nicht nur auf der sichtbaren Struktur, sondern eine Ebene tiefer liegen. Und die ist man nicht gewohnt zu beobachten.

Informales Verhalten stellt immer eine Abweichung von der Formalität dar

Andreas Hermwille: Was macht es so schwierig, über Informalität zu sprechen? Am Ende ist es doch der Arbeitsalltag.

Judith Muster: Das ist eben nicht der Arbeitsalltag, sondern man kann auch im Arbeitsalltag formal handeln. Das ist auch möglich. Du darfst dich zum Beispiel auch mal an Regeln halten (lacht). Informalität ist immer eine Abweichung von der formalen Struktur. Es ist immer eine extra Leistung für das System. Kollegialität ist zum Beispiel eine informale Verhaltensweise, die von der formalen Struktur nicht vorgegeben ist und die auch dann schwer zu beschreiben und zu begreifen ist.

Andreas Hermwille: Ihr beschreibt drei Mechanismen, mit denen Organisationen ihre Probleme auf die Personen abstellen. Der erste davon ist Psychologisierung. Und im Grunde beschreibt ihr da, dass Organisationen Einfluss darauf nehmen, wie sich Mitglieder oder wie sich Personen verhalten. Wie sie in ihrem Verhalten denken und fühlen.

Und ich möchte jetzt mal kurz provokativ fragen: Was ist daran das Problem, wenn es zum Beispiel darum geht, für mehr Begeisterung bei einer Aufgabe zu sorgen? Das ist ja am Ende allen dienlich, wenn man sich bei der Arbeit besser fühlt.

Es ist kein Problem, wenn Organisationen sich um begeisterte Mitglieder bemühen

Judith Muster: Es geht nicht darum, dass wir Organisationen verbieten wollen, dass sie es ihren Mitgliedern bequem machen oder dass sie sich begeistern. Es geht eher darum, dass man erlebt, dass in Organisationen immer wieder Appelle an die Persönlichkeit der Menschen erfolgen.

Es wird gesagt: Ihr müsst ein anderes Mindset haben. Oder: „Ihr sollt unternehmerischer denken“. Oder: „Warum geht ihr nicht motivierter an die Sache heran“? Das sind typische Zuschreibungen, die man in Organisationen findet. Uns geht es nicht darum, dass man nicht andersherum dafür sorgen sollte, dass Leute motiviert arbeiten, sondern es geht darum zu sagen, dass sie nicht die Auffangvorrichtungen oder Lückenbüßer dafür sind, dass man die Strukturen noch nicht richtig in place gebracht hat.

Personal

Der Faktor Mensch

Uns geht es darum, die Frage zu stellen: Warum ist es hier nicht möglich, einfach mal zu machen? Was sind die Hindergründe in der Organisation? Das können Ressourcenkonflikte sein oder Sanktionsmechanismen, die immer wieder auftauchen, wenn man mit einer Initiative kommt. Zum Beispiel habe ich in einem Callcenter gesehen, dass man sich von einer Stelle gewünscht hat, sie soll mehr mit den Kunden interagieren. Dabei wurde diese von den Callcenter Agents gar nicht mit den Informationen über den Kunden versorgt. Wenn relevante Informationen fehlen, kann man lange sagen „einfach mal machen“. Man hat es aber verpasst, diese Brücke in der Organisation strukturell zu bauen.

Die Mechanismen werden nicht intentional gebaut

Andreas Hermwille: Wo muss man typischerweise aufpassen, dass dann nicht psychologisiert wird? Wann will die Organisation Psyche in Anschlag bringen?

Judith Muster: Also ich glaube ehrlich gesagt gar nicht, dass das ein böswilliger Mechanismus ist. Ich glaube, dass das eher passiert, auch aus einer Hilflosigkeit heraus, andere Mechanismen überhaupt zu erkennen, also andere Lösungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Ich habe nicht das Gefühl, dass mit Absicht quasi auf die Person geschossen wird, sondern im Gegenteil. Man versucht eigentlich, einen Missstand damit zu beschreiben, zu sagen: „hier sind die Leute nicht frei genug im Denken“ oder: „hier geht man nicht in Führung“ oder: „hier fehlt unternehmerisches Mittun“. Man merkt dabei gar nicht so richtig, dass das eine Psychologisierung ist.

Wo auf Personen zugerechnet wird, werden eigentlich strukturelle Missstände beschrieben

Andreas Hermwille: Wir haben hier wieder den Fall, dass eure Beschreibung zu einer anderen Realität führt. Wenn man drinsteckt, hat man nur das Problem vor Augen und man hat ein Team, dass das lösen soll. Man sieht die Menschen, aber nicht die Strukturen.

Judith Muster: Genau, das ist das Problem

Wie viel Begeisterung darf man einfordern?

Andreas Hermwille: Ich versuche es noch einmal. Ist es nicht dennoch interessant, diese Grenze auszuloten: Wie viel darf man einfordern und ab wann ist man übergriffig gegenüber der Persönlichkeit? Denn zum Beispiel beschreibt Ihr ja an anderer Stelle im Buch, dass man sehr wohl die Möglichkeit hat, nämlich über Rollenbeschreibungen Erwartungen an Mitglieder zu setzen.

Und auch hier gibt es Grenzen. Ich kann fordern, dass Begeisterung dargestellt wird – nicht aber dass die Begeisterung authentisch ist wie zum Beispiel im Theater. Und ich kann Freundlichkeit gegenüber Kund*innen einfordern. Ich kann in eine Beschreibung reinschreiben, jemand soll begeistert sein, aber er kann höchstens Begeisterung darstellen und das ist nicht im Callcenter oder in der Buchhaltung legitim.

Wo kommt dann dieser Grenzbereich her? Wenn man zum Beispiel Kreativität einfordert, oder Leute in einen Innovations-Hub setzt, dann kann man von ihnen erwarten, dass sie auf neue Ideen kommen. Da wird doch auch etwas von den Persönlichkeiten gefordert. Man erwartet dann von den Persönlichkeiten etwas. Wo zieht man da die Grenze?

Die legitime Maximalbelastung zu suchen, ist der falsche Weg

Judith Muster: Ich weiß immer gar nicht, ob man so weiterkommt, wenn man das Problem so herum formuliert. Ich will gar keine formalen Regeln dafür aufstellen, wie man die Grenze baut. Wenn man Leute in einen Innovations-Hub setzt und von ihnen möchte, dass sie kreativ auf neue Ideen kommen, dann stelle ich Leute ein, von denen ich erwarte, dass sie das können. Und dann muss ich ihnen Räume und Ressourcen zur Verfügung stellen, die dafür notwendig sind. Organisationale Räume. Und wenn sie es dann nicht tun, aber ich sie sorgsam ausgewählt habe, dann bringt es nichts an die Psyche zu appellieren. Dann schaue ich, was fehlt. Und zwar auf die Organisationsstrukturen. Das ist die Suchrichtung.

Wenn man versucht, vom Menschen aus zu denken, „Was muss Organisation tun, um nicht übergriffig zu sein?“, dann ist die Antwort immer: „Man muss die Strukturen so bauen, dass das Individuum sich möglichst gut entfalten kann“. Für die Aufgaben, für die ich es eingestellt habe. Und das können Aufgaben sein, für die die Persönlichkeit eine Rolle spielt. Natürlich spielt die Persönlichkeit eine Rolle. Wenn ich Führungskraft bin, dann geht es auch darum, dass ich meine Leute abhole und sie begeistern kann. Aber wenn ich sehe, dass 20 Führungskräfte das nicht hinbekommen, obwohl ich sie sorgsam ausgewählt habe und das obwohl ich im Rekrutierungsprozess davon ausgegangen, dass sie es können müssten. Dann muss ich schauen, was ich mit anderen Hebeln der Organisation noch zur Verfügung stellen kann. So rum würde ich immer argumentieren wollen.

Darf man sich begeisternde Führungskräfte wünschen?

Andreas Hermwille: Das kann ich nachvollziehen. Führungskräfte sind aber ein interessantes Beispiel. Da macht die Persönlichkeit etwas aus und es geht darum, dass die in der Lage dazu sind, auch ein Team abzuholen. Und gleichzeitig benennt ihr es mit „Moralisierung“ als Problem, wenn Organisationen gerade speziell von Führungskräften einfordern, dass sie begeisternd führen.

Als ein problematisches Konzept beschreibt ihr die transformationale Führung, die einfordert, dass Vorgesetzte nicht nur dafür da sind, zu entscheiden, wer was tut. Sie sollen auch dafür sorgen, dass es einen höheren Sinn gibt und wofür sie gebraucht werden. Was ist nun der Unterschied? Warum ist die transformationale Führung problematisch und warum ist es das, was du davor beschrieben hast, im Rahmen des Möglichen.

Judith Muster: Es ist überhaupt nicht problematisch, dass Führungskräfte ihre Leute begeistern. Es ist auch nicht problematisch, Leute einzustellen, die das vermutlich können und tun. Es ist nur problematisch, wenn man diese Leute ausbrennen lässt.

New Work

Authentizität und Partizipa­tion in Organisationen

Ich habe einen Fall mit einer Führungskraft, die einfach unglaublich charismatisch ist und es wirklich schafft, in einer unfassbar absurden Führungsspanne Leute trotzdem hinter sich zu bekommen, jeden im Laden zu kennen, die Produktivität hoch zu halten, die Leute bei Laune zu halten. Ich begleite die schon seit Jahren. Doch diese Führungskraft hat von der Organisation so wenig Mittel in die Hand bekommen, dass sie über die Jahre einfach ausbrennt. Und die Organisation gibt ihr nicht mehr an die Hand. Das ist das Unfaire.

Beispiel: Eine charismatische Führungskraft erhält keine organisationalen Mittel

Jetzt brennt die Person irgendwann aus. Es ist nicht mehr so begeisternd, was sie da tut. Dann kann man sagen: „Okay, jetzt mal auf Transformationale Führung schulen!“ Das ist dann wirklich zynisch. In dem Konzept stecken bestimmt auch kluge Ideen. Aber das bringt nichts, wenn die Organisation die Gefolgschaft nicht auch strukturell abstützt. Man muss dafür sorgen, dass die Leute auch ihren Job machen können, ohne dass jemand die ganze Zeit sie begeistert und daneben steht.

Was wir hier kritisieren in dem Kapitel, sind nicht einzelne begeisternde Führungskräfte oder der Wunsch, in Organisationen gute Führung zu oder transformationale Führung zu sehen, sondern dass mit Management-Konzepten wie Transformationale Führung relativ schnell moralisch auf Personen eingewirkt wird. Die Lösung wird nicht von der Organisation zur Verfügung gestellt, sondern von der Person erwartet. Transformationale Führung ist nur das Beispiel dafür.

Kann man führungsrelevante Eigenschaften schulen?

Andreas Hermwille: Ich suche noch nach der Unterscheidung zwischen den Erwartungen, die an Führungskräfte stellen kann – und denen, die übergriffig sind. Sind diese besonderen Charaktereigenschaften etwas, was man sich einfach wünscht und erfolgreich zur Kenntnis nimmt, wenn sie vorhanden ist?

Oder hat die Organisation ein legitimes Interesse, dass man solche Vorgesetzten will? Was ist dann humaner? Die Personen auszutauschen, bis man die hat, die führen wie gewünscht – oder Leute darin zu schulen, dass sie so führen, wie sich die Organisation das vorstellt?

Judith Muster: Ich glaube nicht, dass man Leute schulen kann. Das sind erwachsene Personen, die eine gewisse Persönlichkeit haben. Die hat man sicherlich richtigerweise sorgfältig ausgesucht. Das sollte man immer tun. Und dann merkt man relativ schnell, dass Menschen in Organisationen, sich dann doch anders verhalten, als man es von ihnen erwartet hat, als man sie rekrutiert hat. Und wenn das ein Massenphänomen ist, also wenn das mehrere Menschen auf der gleichen Position nacheinander oder in der gleichen Situation, zum Beispiel im mittleren Management, ähnlich tickt, dann kann man davon ausgehen, dass es ein Strukturproblem ist.

Führungsprobleme lassen sich besser über Strukturfragen identifizieren

Andreas Hermwille: Ja, der Klassiker ist, das mittlere Management will nicht führen, das ist –

Judith Muster: – eine Lehmschicht. Genau. Eine Führungskraft im mittleren Management sagt, „ich würde ja führen, wenn die mich lassen würden, und ich die richtigen Führungsmittel am Start hätte.“ Das Topmanagement sagt, „Geh doch bitte einfach mal in Führung.“ Und beide haben wahrscheinlich einen Punkt. Das mittlere Management hat den Punkt zu sagen: „Ich brauche die richtigen Führungsmittel.“ Das Topmanagement sagt auch richtigerweise, „Ihr seid dafür eingestellt, dass ihr hier in Führung geht. Warum macht ihr das nicht?“

Die Suche nach dem „Wieso?“ ist dann sinnvoller. Was muss man denen an die Hand geben? Welchen Informationsvorsprung brauchen sie? Wie gehen sie an die Strategieumsetzung ran? Welche formalen Befugnisse sollten Sie bekommen? Wie schaffen Sie es, auf gemeinsame Ziele zu verfolgen? Man muss also viel eher Strukturfragen stellen, als eine Schulung zu transformationaler Führung zu initiieren.

Überdehnung formaler Pflichten: Der Ärger mit den Zweckprogrammen

Andreas Hermwille: Als letzten problematischen Mechanismus benennt ihr etwas, das eigentlich die meisten zu schätzen wissen, nämlich Freiheit in der Wahl der Mittel und Freiheit darin selbst einzuteilen, wann was erledigt sein soll. Man organisiert sich selbst und das, was zählt, ist am Ende das Ergebnis. Das andere Modell ist, dass der Weg zum Ergebnis richtig sein muss und man seine Checkboxen dafür alle abarbeitet. Das eine beschreibt man als prozessorientiert. Das andere ist Ergebnisorientierung.

Ihr sagt jetzt, Ergebnisorientierung führt dazu, dass Probleme personalisiert werden. Das, was sich alle wünschen, ist gleichzeitig das Gift der Menschen. Wie passt das zusammen?

Judith Muster: Es geht an der Stelle um die Unterscheidung zwischen Konditional- und Zweckprogrammen. Ein Konditionalprogramm ist eine Routine, die auf Auslöser programmiert ist. Wenn der Lagerbestand unter 50.000 fällt, löse man eine Bestellung aus. In dem Fall ist man für das Ergebnis nicht verantwortlich. Wenn ich die Bestellung ausgelöst habe, habe ich das Problem der Organisation gelöst. Wenn die Bestellung jetzt nicht richtig geliefert wird oder doch nicht verkauft wird, dann ist das nicht mehr mein Problem.

Das Gegenteil davon sind Zweckprogramme. Sie geben eine Beschreibung davon, wo man landen soll. Was wir sagen ist, dass Zweckprogramme in Organisationen sehr viel Freiheit geben, aber dass es manchmal zur Belastung der Mitglieder kommt, wenn die Organisation sich darum drückt, die Mittel auch zur Verfügung zu stellen. Wenn man nicht dafür sorgt, dass das, was erreicht werden soll, auch umgesetzt werden kann. Das beobachten wir häufig, dass statt einer genauen Beschreibung der Mittel wieder eine Zurechnung auf die Person stattfindet. Man sagt: „Wieso klappt das nicht, das Ziel haben wir doch gemeinsam beschlossen! Das musst du jetzt auch erreichen.“

Die formale Vielfalt von Möglichkeiten kann informal eingegrenzt sein

Vielleicht gibt es formal sogar die Mittel, aber die sind informal bereits eingeschränkt. Zum Beispiel weiß man, dass man auf bestimmte Kolleg*innen gerade nicht zugehen kann, um Unterstützung zu bekommen, weil die völlig unter Deck sind. Aus Kollegialitätsgründen macht man das dann eben nicht – die haben schon das letzte Wochenende durchgearbeitet. Oder man weiß, dass die Marketingabteilung gerade extrem viel Druck hat und deswegen geht man auf die besser nicht zu. Dann wird es wieder zu einer persönlichen Angelegenheit, das Ziel zu erreichen. Auch das Misslingen wird persönlich zugerechnet.

Und auch hier gilt wieder: Wir wollen keine Zweckprogramme verbieten. Auch nicht, dass Organisationen ihren Mitgliedern Freiräume geben. Aber wir wollen darauf hinweisen, dass diese Freiräume auch zur Belastung werden. Vor allem dann, wenn am Ende persönlich die Schuld zugerechnet wird.

Freiräume können zur Belastung werden

Andreas Hermwille: Wäre das beschriebene Problem nicht mit dem Klassiker „mehr Kommunikation“ lösbar? Wenn Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, von denen vorher gesagt wurde, es gäbe sie. Wäre das nicht lösbar, indem man einfach wieder zurück signalisiert: Ich kann auf diese Ressourcen gerade nicht zugreifen“? Oder gehen wir gerade davon aus, dass das aus irgendwelchen Gründen nicht ansprechbar ist?

Kollegialitätsnormen erschweren Kommunikation über Ressourcen

Judith Muster: Genau! Es ist oft so, dass man das aufgrund von Kollegialitätsnormen nicht macht. Dann ist klar: Wenn ich das jetzt mache, dann machen die das nächstes Mal bei mir auch. In Organisationen, in denen Personalressourcen eng sind, entwickelt sich oft die Kollegialitätsnorm, dass man den anderen nicht noch mehr an die Wand spielt.

Und wenn ich jetzt melde: „iIch würde ja auf die Marketingabteilung zugehen, aber die signalisieren mir, die können nicht“ – dann würde ich das zu einer formalen Verweigerung der Marketingabteilung machen. Dabei war das zuvor noch eine Verhandlung auf der informalen Ebene.

Andreas Hermwille: Es würde als Eskalation gelesen.

Judith Muster: Genau.

Kann ich mich als Einzelner gegen die Mechanismen der Übergriffigkeit wehren?

Andreas Hermwille: Ich versuche mal, auf einer hoffnungsvollen Note zu enden: Kann man als einzelnes Mitglied, das in so eine Lage kommt, irgendetwas dagegen tun? Ist es möglich, sich als Person dagegen zu schützen, durch diese Mechanismen die Probleme der Organisation aufgedrückt zu bekommen?

Judith Muster: Nein, das ist ja ein grundsätzlicher Mechanismus von Organisationen, dass das erst mal passiert. Das ist dann auch kein persönliches Versagen, wenn man sich in dieser Situation wiederfindet.

Aber wenn man seinen Blick dafür schärft, was eigentlich passieren müsste und nicht selber persönlich wird, dann kann man präzise beschreiben, was für Strukturprobleme gelöst werden müssten, damit man sein eigenes Problem gelöst bekommt. Man kann also sagen, welche Unterstützung von der Organisation man braucht. Wenn wir in Organisationen Sondierungen führen und herausfinden, welche Probleme dort vorliegen, machen wir das über Interviews. Wir wissen, dass die Leute ihre Probleme relativ gut beschreiben können. Aber im Arbeitsalltag selber hat man die Zeit und oft auch die Begriffe dafür nicht.

Das ist auch etwas, was wir mit dem Buch ermöglichen wollen. Wir wollen Suchscheinwerfer an die Hand geben, die helfen zu entdecken, was gerade fehlt, und welche Strukturlösungen es braucht.

Tut mir leid, es liegt halt an dir

Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

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Andreas Hermwille

freut sich wenn er eine Frage findet, die Geschichten als Antwort haben.

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