Zum Hauptinhalt der Webseite
Holacracy

Der Aufstieg und Niedergang einer Managementmode

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 28. Juli 2023
Managementmoden

Managementmoden sind – wie Moden generell – zeitlich befristet (siehe dazu Abrahamson 1996, S. 255). Eine Managementmode wird schnell populär, bleibt aber nur eine vergleichsweise kurze Zeit im allgemeinen Fokus und verliert dann zunehmend an Attraktivität. In vielen Fällen verblassen Managementmoden langsam, manchmal verlieren sie aber sehr schnell an Popularität, wenn das Scheitern einer Vorreiterorganisationen bekannt wird und klar wird, dass sich die mit der Mode verbundenen Versprechen nicht erfüllen (Miller et al. 2004, S. 7).

Neu ist immer besser! Oder?

Der Erfolg des holakratischen Organisationsmodells im Managementdiskurs hängt damit zusammen, dass es sich prominent im Diskurs über neue agile Organisationsformen verankern konnte. Die Marktlücke war das Versprechen, die sehr vage Idee der Agilität mit einem detaillierten Organisationskonzept zu füllen.

Auf dem Papier sehen Managementmoden immer gut aus. Die Darstellungen der Prinzpien wirken überzeugend. Die Versprechungen in Bezug auf Effektivitäts­gewinne, Effizienzsteigerung und Innovationskraft sind groß. Die Konzepte werden dann mit hohen Erwartungen in Organisationen eingeführt. Aber je stärker die Konzepte in der Praxis erprobt werden, desto offensichtlicher werden deren Schwierigkeiten. Die ungewollten Nebenfolgen werden deutlicher und die Einschätzungen des Konzepts immer skeptischer.

Die Holacracy musste zwangsläufig das Schicksal anderer früher Management­moden erleiden, die nach einer Phase starker Euphorie und großem Interesse zunehmend in die Kritik gerieten und dann langsam an Einfluss verloren. Die Schwierigkeiten von Managementmoden im Praxistest müssen nicht bedeuten, dass die als Revolution propagierte Organisationsform schlechter geeignet ist als die vorherigen. Auch die alten Managementkonzepte hatten aufgrund ihrer Nebenfolgen Kritik auf sich gezogen. Sonst hätte die Organisation ja auch keinen Anlass gehabt, sich auf eine aktuelle Management­mode einzulassen. Aber mit der Zeit erodiert das Wissen über die Schwächen der alten Organisationsform und die negativen Erfahrungen mit dem neuen Konzept dringen in den Vordergrund.

An dieser Stelle fangen die Verfechter:innen der Managementmode an den Preis dafür zu bezahlen, dass sie ihr Konzept als organisatorisches Allheilmittel angepriesen haben. Der Überschuss an Euphorie in der Propagierung des Konzepts führt zwangsläufig dazu, dass die Erwartungen enttäuscht werden müssen. In den Massenmedien, in denen das Konzept anfangs gefeiert wurde, erscheinen zunehmend kritische Berichte. Organisationen fangen immer stärker an zu zögern, ob sie mit dem Konzept experimentieren sollen.

Vorreiterorganisationen machen Mut

Eine besondere Rolle beim Niedergang einer Managementmode spielen die Vorreiter­­organisationen, die maßgeblich zur Plausibilisierung eines Konzeptes beigetragen haben. Zu Beginn einer Managementmode ziehen die Vorreiter­organisationen große Aufmerksamkeit auf sich. Sie profitieren von ihrer Rolle als Vorreiterorganisation durch einen Legitimationsgewinn in der Öffentlichkeit, kostenlose Werbung für ihre Produkte und Vorteile bei der Mitarbeitergewinnung (siehe dazu Kühl 2015a, 153ff.) Wegen der öffentlichen Prominenz gibt es aber auch ein großes Interesse an Schwierigkeiten dieser Vorreiterorganisationen. Kritische Berichte ausgeschiedener Mitarbeiter:innen werden aufmerksam gelesen, Probleme der Organisation ausführlich kommentiert und über die Abschaffung des Managementkonzepts in den Vorreiterorganisationen umfangreich berichtet (siehe dazu Rosenzweig 2014, 33ff.).

In Bezug auf die Vorreiterorganisationen wirken die ganz normalen Mechanismen der Massenmedien. Wie bei Sportler:innen, Musiker:innen oder Politiker:innen werden sie bei den ersten Erfolgen hochgeschrieben und erlangen dadurch Prominenz. Aber bei den ersten deutlichen Anzeichen von Problemen wird für sie genau diese Prominenz zum Problem. Während die Schwierigkeiten von Unbekannten in der Regel keine massenmediale Aufmerksamkeit erzielen, sind diese aufgrund der Prominenz von Bekannten berichtenswert. Über Krisen wird dann nicht in den Massenmedien berichtet, weil diese Krisen per se interessant sind, sondern weil es sich um die Krise einer prominenten Sportlerin, Musikerin, Politikerin oder eben einer Organisation handelt. Genauso schnell wie man in den Massenmedien als Verkörperung eines neuen Trends gefeiert wird, wird man auch aus Sinnbild für diesen Niedergang gehandelt.

Angesichts dieser Schwierigkeiten steht das Management der Vorreiter­organisationen vor einem Dilemma. Auf der einen Seite mehren sich Hinweise in der Organisation, dass die Einführung der Managementkonzeption zu erheblichen Schwierigkeiten führt. Das Verblassen der Managementmode könnte es ermöglichen, die Organisation neu auszurichten und sich von dem Managementkonzept zu lösen. Auf der anderen Seite ist die Organisation in der öffentlichen Wahrnehmung so stark mit einer Managementkonzeption verbunden, dass es einen erheblichen Reputationsschaden bedeuten könnte, wenn das Konzept zurückgenommen würde.

Identifikation mit Moden

Wenn sich das Management nicht zu stark mit Holacracy identifiziert, kann es das Konzept zurücknehmen und die Gründe dafür öffentlich machen (siehe zur Abschaffung bei Medium Doyle 2016; zur Abschaffung bei Github Oane 2016). Hat sich das Management stark an ein Managementkonzept gebunden, braucht es häufig erst ein neues Management, das dieses Konzept wieder ändern kann. Aber selbst dann ist es häufig nicht möglich, dass Konzept öffentlich aufzugeben. Stattdessen werden zentrale Prinzipien zurückgenommen, aber gleichzeitig so getan, als wenn das Managementkonzept noch die Leitlinie des Handelns ist. In holakratischen Organisationen werden dann die stark standardisierten Interaktionsformate aufgegeben, die Kreise durch Profitcenter ersetzt und die Leistung der Mitarbeiter:innen am Erfolg dieser Profitcenter gemessen, aber gleichzeitig wird sich noch als holakratische Organisation präsentiert (so in Bezug auf Zappos Groth 2020). [1]

Gerade die Berichte von den Schwierigkeiten bei Vorreiterorganisationen führen zu einem zunehmenden Reputationsverlust einer Managementmode. Das Scheitern von Vorreiterorganisationen plausibilisiert die Kritik an dem Konzept und lässt Entscheidungsträger in Organisationen zunehmend zweifeln, ob sie das Risiko eingehen sollten, das eine Zeit lang als Allheilmittel gehandelte Konzept einzuführen.

Spezialisierte Berater

Problem beim Niedergang einer Managementmode entstehen besonders für Berater:innen, die ihre Reputation stark mit dieser verknüpft haben. In der Beraterszene setzt sich immer mehr ein Trend durch, Kund:innen nicht mehr je nach Situation sowohl bei der Einführung dezentraler oder zentraler, hierarchischer oder enthierarchisierter, formalisierter oder entformalisierter Organisations­formen zu unterstützen, sondern sich als Expert:innen eines genau definierten Organisationskonzepts zu präsentieren. Das führt auf dem Höhepunkt einer Managementmode zu hoher Akzeptanz, bringt aber spätestens beim Niedergang einer Managementmode Probleme mit sich.

Gerade die Berater:innen, die sich auf die Einführung eines Organisations­modells spezialisiert und ihre Reputation damit verbunden haben, reagieren deshalb auf die wachsende Kritik mit einer Eskalation des „Commitments“ (so Caddell 2016 in Bezug auf Zappos). Während in der Hochphase einer Managementmode bei den Verfechter:innen große Lernbereitschaft vorhanden ist, setzen mit deren zunehmendem Niedergang steigende Immunisierungs­tendenzen ein. Die Ablehnung einer Management­mode wird dann damit erklärt, dass Führungs­kräfte mit dem „neuen Rollenverständnis“ nicht klar kommen, weil sie noch zu sehr in einem durch die traditionelle konformistische moderne leistungs­orientierte Organisation geprägtem Führungsverständnis verhaftet seien (Kuhlmann und Horn 2020, S. 218). Kritikern dieses Konzepts wird vorgehalten, dass sie das voraussetzungsvolle Konzept selbst nicht in der Anwendung erlebt haben und deswegen anders als die „reifen Praktizierenden“ die Vorteile des Konzeptes nicht erkennen könnten (Wittrock 2021).

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Diffuse Begriffe

Managementkonzepte, bei denen die Prinzipien nicht im Detail beschrieben wurden, können sich eine zeitlang noch dadurch halten, dass sie neue Inhalte in das Konzept integrieren. Managementmoden wie die „lernende Organisation“, die „wissensbasierte Firma“, die „selbstorganisierte Unternehmung“ sind so allgemein, dass problemlos verschiedene, auch sich widersprechende Organisations­prinzipien darunter gefasst werden können. Diese sehr vage bestimmten Managementmoden verschwinden dann nicht deswegen, weil sich im Detail bestimmte Prinzipien in der Organisation als ungeeignet herausgestellt haben, sondern weil sie sich als Label für Reformen in einer Organisation abgenutzt haben.

Die Tragik von Managementkonzepten, deren formalstrukturelle Grundlagen bis ins Details ausdefiniert wird, besteht darin, dass sie nur sehr begrenzt auf die in der Praxis immer deutlich werdenden Nebenfolgen, das Scheitern ihrer Vorreiterorganisationen und die heftig werdende Kritik an dem Konzept reagieren können. Zwar kann man – wie im Fall der Holacracy – versuchen, immer neuen Versionen des Konzepts auf den Markt zu bringen, aber grundlegende Veränderungen am Modell sind nicht möglich. Übrig bleiben dann häufig nur noch die zur Geschichte gewordenen euphorischen Berichte über das Managementkonzept, die häufig nur mühsam zu verbergenden Ruinen gescheiterter Managementreformen in Organisationen und das ein oder andere interessante Instrument, mit dem unter neuen Namen weitergearbeitet werden kann.

Aber der Niedergang einer Managementmode bedeutet nicht, dass dessen Strukturprinzip endgültig verschwindet. Die Vergesslichkeit im Management­diskurs führt dazu, dass ein organisationales Strukturprinzip nach ein oder zwei Jahrzehnten eine Renaissance erleben kann. Organisationen, die gerade auch aufgrund der Probleme einer Hyperformalisierung von Organisationen, auf eine weitgehende Entformalisierung setzen, stellen dann fest, dass dies zu einer ganzen Reihe von problematischen Nebenfolgen wie einer Explosion interner Komplexität führt (siehe dazu Baecker 1992, S. 56; Kühl 2015b, 119ff.). Das lässt dann Managementkonzepte, die versuchen über eine starke Formalisierung diese Probleme in den Griff zu bekommen, wieder attraktiv erscheinen. Der Gedanke der Hyperformalisierung wird dann wieder en vogue – wenn auch unter einem neuen Namen.

[1] Fast alle ursprünglichen holakratischen Vorreiterorganisationen haben dieses Konzept wieder zurückgenommen. Zur Rücknahme des holakratischen Konzepts bei Vorreiterorganisationen wie GitHub und Medium siehe Carr 2016 oder Oane 2016; zur Aufgabe des Konzepts bei Blinkist siehe Uzun 2021; zur Erosion von Holacray bei Zappos siehe Groth 2020 und Grind und Sayre 2022, S. 251. Das Unternehmen ternary software corporation, das als erstes Holacracy eingeführt hat und immer wieder als Vorbild genannt wird (so z.B. bei Neal 2013, 173f.), hat nicht nur Holacracy wieder abgeschafft, sondern ganz aufgehört zu existieren (siehe dazu Groth 2018). Für die Vergänglichkeit von Management­konzepten siehe nur das Verschwinden des Harzburger Modells in der öffentlichen Wahrnehmung – einem Managementmodell, in dem in Deutschland Hundertausende von Führungskräften geschult wurden.

Literatur

Abrahamson, Eric (1996): Management Fashion. In: Academy of Management Review 21, S. 254–285.
Baecker, Dirk (1992): Fehldiagnose „Überkomplexität“. Komplexität ist die Lösung, nicht das Problem. In: gdi impuls 4, S. 55–62.
Caddell, Bud (2016): The Fatal Gap Between Organizational Theory and Organizational Practice.
Carr, Paul Bradley (2016): Medium Drops Holacracy, because Holacracy is „Time-consuming and Divisive“.
Doyle, Andy (2016): Management and Organization at Medium.
Grind, Kirsten; Sayre, Katherine (2022): Happy at Any Cost: The Revolutionary Vision and Fatal Quest of Zappos CEO Tony Hsieh. New York: Simon & Schuster.
Groth, Aimee (2018): Is Holacracy the Future of Work or a Management Cult?
Groth, Aimee (2020): Zappos has Quietly Backed Away from Holacracy. Quartz at Work.
Kühl, Stefan (2015a): Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. 2. Aufl. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Kühl, Stefan (2015b): Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien. 6. Aufl. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Kuhlmann, Heike; Horn, Sandra (2020): Integrale Führung. Wie Sie mit neuen Ansätzen sich selbst, Teams und Unternehmen entwickeln. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer Gabler.
Miller, Danny; Hartwick, Jon; Le Breton-Miller, Isabelle (2004): How to Detect a Management Fad—and Distinguish it from a Classic. In: Business Horizons 47 (4), S. 7–16. DOI: 10.1016/S0007-6813(04)00043-6.
Neal, Judi (2013): Creating Enlightened Organizations. Four Gateways to Spirit at Work. New York: Palgrave Macmillan.
Oane, Vlademir (2016): Holacracy and the Mirage of the Boss-less Workplace. Lessons from the Failures at Github, Medium & Buffer.
Rosenzweig, Phil (2014): The Halo Effect. … and the Eight Other Business Delusions That Deceive Managers. Riverside: Free Press.
Wittrock, Dennis (2021): Kommentar zu Adrian Strothottes Artikel “Mit Holacracy zur Purpose Driven Organization? Über die Grenzen eines Organisationsmodells“.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

LinkedIn® Profil anzeigen