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Holacracy

Der wechselnde Fokus von Managementmoden

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 14. Juli 2023
Lob der Rolle

Zwischen Lob der Rolle oder Lob der Person

Mit ihrer Hervorhebung der formalen Rolle als zentrales Merkmal schließen die Holakraten an ein Grundprinzip von Organisationen an. Schon bei einem ersten Blick fällt in Organisationen die Prominenz der Rollen auf. Organisations­mitglieder werden auf Stellen gesetzt, die die Rollenanforderungen an sie beschreiben. Für jede Stelle wird das Über- und Unterordnungsverhältnis genau bestimmt, indem über das Organigramm festgelegt wird, wer in der Organisation wem gegenüber weisungsbefugt ist.

Dabei gibt es eine Besonderheit der Rolle in Organisationen gegenüber Kleinfamilien, Freundesgruppen oder Protestbewegungen. In dem Moment, in dem Personen in eine Organisation eintreten, nehmen sie nicht nur die abstrakte Rolle als Mitglied einer Organisation ein, sondern diese Rolle wird durch eine Vielzahl von „Sonderrollen“ konkretisiert (Luhmann 1964, 47f.). Man wird nicht nur Mitarbeiterin eines Energiekonzern, sondern übernimmt innerhalb der Mitgliedsrolle zugleich die Sonderrolle als Wartungsmitarbeiterin, Projektleiterin oder Geschäftsführerin.

Auf den ersten Blick könnte aus einer soziologischen Perspektive viel dafürsprechen, in das Loblied der Holakraten auf die Rolle einzustimmen. Es gibt in der Soziologie eine Tradition, die die Rolle als Zentralbegriff moderner Gesellschaft zu verstehen versuchen. Die Rollen seien, so besagte Vorstellung, für das soziale Verhalten in modernen Gesellschaften so zentral, dass sie das Handeln nur als Ausübung dieser Rollen verstehen kann (siehe dazu Parsons 1951, S. 25). Konsequent zu Ende gedacht ist die Person in diesem soziologischen Verständnis letztlich nichts anderes als die Summe aller ihrer Rollen (siehe Goffman 1963, 11ff.). Organisationen scheinen der Musterfall dafür zu sein.

Die Bedeutung von Rollen in Organisationen

Ein zentrales Merkmal von Organisationen in der modernen Gesellschaft ist, dass diese nicht die komplette Person inkludieren, sondern lediglich einen Teil des Verhaltensrepertoires abfragen (siehe dazu Luhmann 1964, S. 42). Man wäre jedenfalls überrascht, wenn eine Organisation verlangen würde, dass man dort, mit all seinen Ansprüchen und Hoffnungen an das Leben, eine Heimat finden sollte (siehe für den Sonderfall der gierigen Organisation Coser 1967; siehe auch Coser 1974).

Damit unterscheiden sich Organisationen in der modernen Gesellschaft in einem zentralen Punkt von ansonsten auffällig ähnlichen Gebilden wie Gilden oder Klöstern. In diesen Organisationsformen, die in der Schichtungs­gesellschaft dominierten, hatte und hat man es mit einer sehr weitgehenden, wenn nicht sogar vollständigen Inklusion der Mitglieder zu tun, nahmen diese Gebilde doch für sich in Anspruch, umfängliche Lebensgemeinschaften zu sein und dementsprechend auch alle Rollen eines Mitglieds zu bestimmen (siehe dazu Kieser 1987 und Kieser 1989).

Organisationen sind gegenüber ihren im Mittelalter und teilweise noch in der frühen Neuzeit dominierenden Vorläufern also durch eine doppelte Ignoranz gekennzeichnet: Auf der einen Seite kann eine Organisation außerorgani­satorische Anforderungen des Mitglieds zurückweisen. Die Frage nach einer Gehaltserhöhung, weil man ein neues Haus gebaut hat, erscheint genauso illegitim wie die Bitte, doch nicht entlassen zu werden, weil man eine Großfamilie zu versorgen hat. Das Innehaben eines Amtes in einer Organisation kann nicht mehr – so schon die Beobachtung von Max Weber (1976, S. 553) – wie im Mittelalter als „Besitz einer gegen Erfüllung bestimmter Leistungen ausbeutbaren Renten- oder Sportelquelle“ verstanden werden. Heute gilt in Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern oder Universitäten bei der Übernahme eines Amtes – in unserem Zeitalter würde man wohl „Job“ sagen – eine „spezifische Amtstreuepflicht gegen Gewährung einer gesicherten Existenz.

Auf der anderen Seite kann aber auch das Organisationsmitglied erwarten, dass seine anderen Rollen die Organisation nur insofern interessieren, als dass sie Rückwirkungen auf die Organisationsmitgliedschaft betreffen. Der Mitarbeiter eines Unternehmens oder eines Krankenhauses kann erwarten, dass die Mitgliedschaft in einer konservativen Partei, die Vorliebe für Urlaub auf Bali, die Herkunft aus einem alten Adelsgeschlecht oder die Leidenschaft für SM-Sex von der Organisation ignoriert wird. Diese Entwicklung ist auch für die Organisation hoch funktional, weil sie sich bei der Auswahl von Mitgliedern auf „relevante Kriterien“ beschränken kann. Bei der Selektion von in Frage kommendem Personal stehen universelle, an Leistung orientierte Faktoren im Mittelpunkt.

Die Konzentration auf die Organisationsrolle führt letztlich, so die überspitzte Formulierung, zu einer Entpsychiatrisierung der Organisation (siehe dazu Kühl 2008, S. 159). Die Ehestreitigkeiten eines Mitarbeiters, die Schwierigkeiten eines türkischstämmigen Managers, die Erwartungen seiner Familie mit denen der Organisation zu vereinbaren, oder die privaten Vorlieben eines Auszubildenden für die Gothic-Szene müssen von der Organisation nicht als Problem begriffen werden. Es müssen für so geartete Vorlieben oder Probleme keine Stellen in der Organisation vorgehalten werden, die sich damit auseinandersetzen (siehe dazu Luhmann 2010, 160f.).

Im Konzept der holakratischen Organisation wird die wichtige Funktion von Rollen in Organisationen verabsolutiert. Letztlich wird die Organisation in diesem Modell als eine Vielzahl von extrem ausführlich definierten Rollen verstanden.

Die Bedeutung von Personen in Organisationen

Die Kritik von Praktikern an der Holacracy setzt genau an dieser starken Fokussierung auf Rollen an (siehe dazu beispielhaft Oestereich und Schröder 2017, S. 166). Die Holacracy würde, so die Kritik, nicht Personen „empowern“, sondern Rollen – für Organisationen sei jedoch gerade das Vertrauen in Personen zentral. Man gäbe schließlich das Passwort für einen zentrales Betriebssystem nicht an eine beliebige Person, die sich für eine Rolle gemeldet hat, sondern an Lisette oder Andy, weil man weiß, dass sie verantwortungsvoll damit umgehen (Appelo 2016). Organisationen, so die Argumentation, beständen aus Personen, und auf diese sollte man sich verlassen können.

In ihrer Extremform läuft dies auf die Zelebrierung eines „neuen Mitarbeitertypus“ hinaus, der nicht mehr als desinteressiert und arbeitsscheu verstanden wird, sondern als intrinsisch motiviert und an sinnhafter Arbeit interessiert. Statt den Paragraphenreitern, Korinthenkackern und Formalisten werden Musterbrecher, Organisationsrebellen und Unternehmensrevolutionäre gepriesen, die zur formalen Struktur der Organisation ein entspanntes Verhältnis einnehmen. Geträumt wird von den Mitarbeitern, die nicht nur ihren „Job“ machen und penibel auf die Trennung ihrer Rolle als Arbeiterin von der Rolle der Privatperson achten, sondern als loyale Organisationsmenschen für die Organisation die Kastanien aus dem Feuer holen, auch wenn das Privatleben darunter leidet.

Ein zentraler Grund lässt die Euphorie für diese sogenannten „Ressource Menschen“ plausibel erscheinen: Ein komplexes Gebilde wie ein Unternehmen, eine Verwaltung oder ein Krankenhaus kann nur dadurch funktionieren, dass Menschen mit all ihrer Subjektivität flexibel auf Pannen, Pleiten und Planungsfehler des Systems reagieren. Schon die wissenschaftlich durchgeplante, strikt hierarchische und arbeitsteilige Organisationsform eines Frederick Taylor konnte nur deswegen am Laufen gehalten werden, weil die Mitarbeiter nicht Dienst nach Vorschrift machten, sondern flexibel auf Unvorhergesehenes reagierten. Je mehr Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten in den Organisationskern vordringen, desto wichtiger werden solch flexible Reaktionen von „selbstständigen Mitarbeitern“.

Aber auch mit der Konzentration auf die Erwartungsbildung über Personen käme man zu einer naiven Vorstellung von Organisationen. Man würde unterschätzen, dass das Verhalten in Organisationen nicht allein auf die persönliche Einstellung der Organisationsmitglieder zurückzuführen ist. Das Verhalten von Personen wird maßgeblich durch die Rollen geprägt, die sie in einer Organisation einnehmen.

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Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Das Dilemma von Organisationen

Gerade die Diskussion über neue Organisationsformen ist dadurch gekennzeichnet, dass zwischen einer starken Betonung der Rolle und einer starken Betonung der Person hin- und her gewechselt wird. Gerade Beratungsfirmen, die aus einer Tradition der Gruppendynamik kommen, in der die Erwartungsbildung über eine starke Öffnung von Personen stattfindet, zeigen sich empfänglich für Konzepte wie die Holacracy, die fast ausschließlich auf Rollen setzen. Politische Basisorganisationen, die mit zunehmendem Wachstum die Grenzen der Erwartungsbildung über Personenkenntnisse erkennen, erhoffen sich von hyperformalisierten Organisationsmodelle Erlösung. Dagegen führen Organisationen, die mit der Holacracy auf eine starke Betonung der Rolle setzen, in einer Gegenreaktion dann das Konzept der gewaltfreien Kommunikation ein, um das Verständnis zwischen den Personen in der Organisation zu verbessern. Manche holakratische Organisationen, die sich durch die Hyperformalisierung langsam erstickt fühlt, schafft in einer Gegenreaktion die vielfältigen formalen Regeln wieder ab und setzen weitgehend auf persönliche Erwartungsbildung.

Um Organisationen zu begreifen, muss man sehr genau verstehen, welche Bedeutung die beiden Formen der Erwartungsbildung in spezifischen Situationen besitzen. Wie stark gibt eine Organisation durch ihre formale Struktur ein Rollenverhalten vor und wieviel Platz lässt sie für Erwartungsbildung über Personenkenntnis? Welche formalen Programme verlangen ein Rollenverhalten unabhängig von Personen und welche Formalisierungslücken existieren, in denen gute Personenkenntnisse nötig sind, um Erwartungssicherheit gewinnen zu können? Wo wird organisationskulturell eher erwartet, dass sich Mitarbeiter strikt entsprechend ihrer formal vorgeschriebenen Rollen verhalten, und wo bilden sich stattdessen persönliche Stile aus?

Statt mit immer neuen Formulierungen, immer peppigeren Begriffen und immer bunteren Bildern eine Begeisterung für das Personal zu zelebrieren, nur um kurz darauf wieder ein durch die formale Rolle vorgegebenes Verhalten einzufordern, wäre es wichtiger, eine realistische Sicht auf das Verhältnis von Rolle und Person in der jeweiligen Organisation zu bekommen. Dabei kann es gut sein, dass in einem mit einem attraktiven Zweck ausgestatteten Start-up oder einem im Besitz der Mitarbeiter befindlichen selbstverwalteten Betrieb die Bedeutung der Person für die Erwartungsbildung eine ganze andere ist als in einem auf Prozesssicherheit ausgerichteten Krankenhaus oder einem auf Standardisierung angewiesenen Großunternehmen.

Literatur

Appelo, Jurgen (2016): Holacracy is Fundamentally Broken.
Coser, Lewis A. (1967): Greedy Organizations. In: Europäisches Archiv für Soziologie 8, S. 198–215.
Coser, Lewis A. (1974): Greedy Institutions. Patterns of Undivided Commitment. New York: Free Press.
Goffman, Erving (1963): Stigma. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.
Groth, Aimee (2019): Extinction Rebellion is Using Holacracy to Scale its International Movement.
Kieser, Alfred (1987): From Ascetism to Administration of Wealth: Medieval Monasteries and the Pitfalls of Rationalization. In: Organization Studies 8 (2), S. 103–123.
Kieser, Alfred (1989): Organizational, Institutional, and Societal Evolution. Medieval Craft Guilds and the Genesis of Formal Organizations. In: Administrative Science Quarterly 34, S. 540–564.
Kühl, Stefan (2008): Coaching und Supervision. Zur personenorientierten Beratung in Organisationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.
Luhmann, Niklas (2010): Politische Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Oestereich, Bernd; Schröder, Claudia (2017): Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen.
Parsons, Talcott (1951): The Social System. London: Routledge.
Weber, Max (1976): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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