Es ist nicht einfach, der Kultur einer Organisation auf den Grund zu gehen. Kultur ist nicht entscheidbar, dadurch auch nicht gut besprechbar. Zum Glück liefert die Organisationssoziologie eine Heuristik, die hilft, den relevanten Phänomenen nachzugehen. Wir nennen sie die Suchscheinwerfer der Organisationskultur.
In dieser Reihe stellen wir diese Suchscheinwerfer vor. Dieser Artikel bespricht Brauchbare Illegalität.
Allein die Kombination der beiden Wörter brauchbar und Illegalität erweckt Unbehagen: Wie kann etwas brauchbar sein, wenn es nicht den Regeln entspricht? Genau in dieser Kombination liegt der Charme dieses Suchscheinwerfers. Es ist beides: Unter brauchbarer Illegalität werden Regelabweichungen verstanden, die zwar gegen die formalen Erwartungen verstoßen, dabei aber gleichzeitig eine Funktion für die Organisation erfüllen, der Verstoß also im Sinne der Organisation erfolgt (Kühl 2020)1.
Die Gründe dafür können sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organisation liegen. Die „interne Illegalität“ ist hausgemacht: Jede Organisation bildet eine Arbeitsteilung nach Funktionen oder einer anderen Ordnung aus und legt Regeln fest, nach denen die unterschiedlichen Einheiten (nicht) kooperieren sollen. Damit konformes und abweichendes Verhalten nicht gleichermaßen erlaubt ist, braucht es formal zunächst eine widerspruchsfreie Erwartungsordnung. Organisationen sind jedoch permanent mit Widersprüchen konfrontiert – sei es, weil interne Prozesse Zielkonflikte erzeugen, sei es, weil beispielsweise Anforderungen von Kundinnen und Kunden nicht zu den internen Routinen und Regeln der Vertriebsorganisation passen. Deshalb kann es im Einzelfall gute Gründe dafür geben, die Regeln zu brechen, um eine gute Lösung im Sinne der Organisation zu finden.
Brauchbare Illegalität: Verhalten, das nicht von der Formalstruktur gedeckt ist, aber Funktionen für die Organisation erfüllt.
In der Praxis herrscht daher ein pragmatischer Umgang mit den Regeln, obwohl die Formalität eigentlich ein eindeutiges Regelwerk verlangt. Sonst könnten die Mitglieder nicht zuverlässig gebunden werden. Das heißt: Offiziell müssen sich Organisationen zur Regelkonformität bekennen – und können doch gleichzeitig nicht auf Regelabweichungen verzichten.
Für die Mitglieder in der Organisation bedeutet das: Brauchbare Illegalität ist immer nur im geschützten Rahmen der Mitwissenden wirklich gut besprechbar. Und selbst wenn sie einem größeren Kreis oder gar Führungskräften bekannt ist, kann man sie offiziell nicht anerkennen, sondern nur stillschweigend dulden.
Welche Funktion erfüllt sie für die Organisation?
Würde in der Organisation Dienst nach Vorschrift (also streng nach dem formalen Regelwerk) geleistet werden, könnte ein Stillstand die Folge sein. Kommt es aber zu „brauchbar“ illegalen Handlungen (und deren Duldung), liegt im Verstoß eine positive Funktion – die Organisation bleibt anpassungsfähig an Erwartungen: Die Nachbarabteilung ist glücklicher, wenn man ihr das Dokument vor seiner Freizeichnung zur Verfügung stellt. Der Großkunde bleibt zufrieden, wenn man ihm zusichern kann, dass er in der Priorisierung entgegen der eigentlich geltenden Regeln natürlich weit oben steht.
Das Dulden der Regelabweichungen macht die Handlung erst möglich. So werden auch solche Probleme lösbar gemacht, die sich formal nicht lösen ließen. Man umgeht zeitaufwendige Abstimmungen und bleibt im eigentlich viel zu ambitionierten Zeitplan. Man füllt die Regelungslücken der jeweiligen Organisation und ist so auch ohne formale Vorgaben handlungsfähig.
Statt das Laufband abzustellen und damit einen größeren Produktionsausfall zu riskieren, führt man etwa – offiziell nicht erlaubt – eine leichte Korrektur bei laufender Maschine durch. Oder aber man kompensiert unsinnige Regelungen und findet alternative Wege für das Lösen von Problemen. So ist die Regelabweichung eine Quelle für Neues: Innovationen für die Organisation.
Welche Folgeprobleme bringt brauchbare Illegalität mit sich?
Dass Regelabweichungen dysfunktionale Konsequenzen mit sich bringen, bedarf vermutlich keiner Erläuterung. Diese Konsequenzen sind in Organisationen jedoch besonders pikant, denn die brauchbare Illegalität bleibt in aller Regel latent und ist somit nicht offen besprechbar. Angesprochen auf routinierte Regelverstöße, die zum Beispiel zu Vorgesetzten durchgedrungen sind, reagieren Mitarbeitende nicht selten mit dem Verweis, dass es sich dabei um einen Irrtum handeln müsse: Es laufe schließlich alles nach Handbuch!
Es ist daher notwendig, das Schützen und Verstecken des Illegalen irgendwie ohne Störung in den normalen Betrieb zu integrieren. Wer von den formalen Erwartungen abweicht, braucht also nicht nur den Mut, eine Regel zu brechen. Man darf sich dabei auch nicht erwischen lassen oder tut gut daran, für eine Duldung des Verhaltens zu sorgen; sozusagen den persönlichen Kredit für die Abweichung abzusichern. Denn grundsätzlich gilt: Die Abweichung wird in jedem Fall als individuelles Verhalten gehandhabt – und das hat Folgen.
Dass Mitarbeitende im Sinne der Organisation die Regeln brechen, schützt sie nicht vor den Folgen, wenn das auffliegt, zum Beispiel, weil etwas sichtbar schiefgeht. Wenn man etwa auf dem Dienstgelände zu schnell fährt, um ein Schichtziel zu erreichen, und dann einen Unfall verursacht, wird einem das persönlich zugerechnet – und nicht der Organisation, die überzogene Schichtziele setzt. Die Abweichung haftet der Person an, nicht der Rolle. Mitarbeitende gehen also für die
Organisation ein hohes persönliches Risiko ein. Denn geht es darum, Schaden von der Organisation abzuwenden, wird im Zweifel ganz schnell mit dem Finger auf „die Schuldigen“ gezeigt. Ob die eigentlich im Sinne der Organisation handelten (oder das zumindest versuchten) oder nicht, spielt dann meist keine Rolle mehr. Und auch für den Fall, dass man Gründe dafür sucht, sich von bestimmten Mitarbeitenden zu trennen, wird man bei der Suche nach formalen Regelabweichungen gerne und leicht fündig.
Eine weitere Herausforderung rund um brauchbar illegale Arbeitsweisen ist, dass man sie von neuen Mitarbeitenden kaum verlangen – und sie ihnen auch nur sehr behutsam beibringen kann. Teil des formalen Onboardings können sie nicht sein und dürfen auch nicht in der formalen Dokumentation auftauchen, was sowohl das Lernen aus Fehlern als auch das Verbreiten guter neuer Ideen erschwert. Denn was nirgendwo steht, kann auch schlecht in einer größeren Öffentlichkeit geteilt werden.
Das Auseinanderfallen formaler Prozesse und faktischer, brauchbar illegaler Handlungen lässt Bemühungen, formale Prozesse zu optimieren, dadurch oft ins Leere laufen.
Diese Fragen sollte man sich stellen:
- Welche Regelbrüche kommen immer wieder vor?
- Welches Problem lösen sie für die Organisation?
- Ohne welche Workarounds käme man kaum voran?
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Whitepaper „Nagelt den Pudding an die Wand! Wie man die Kultur der eigenen Organisation analysiert, bespricht – und erfolgreich beeinflusst. Das ganze Whitepaper steht hier kostenlos zum Download bereit.
Literatur:
Kühl, Stefan (2020). Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt a. M.: Campus.