Es ist nicht einfach, der Kultur einer Organisation auf den Grund zu gehen. Kultur ist nicht entscheidbar, dadurch auch nicht gut besprechbar. Zum Glück liefert die Organisationssoziologie eine Heuristik, die hilft, den relevanten Phänomenen nachzugehen. Wir nennen sie die Suchscheinwerfer der Organisationskultur.
In dieser Reihe stellen wir diese Suchscheinwerfer vor. Dieser Artikel bespricht Kollegialität.
Das Phänomen der Kollegialität umfasst die latenten Normen und Erwartungen, die zwischen Organisationsmitgliedern gelten. Es geht also im Kern um Umgangsweisen, die zwischen Mitgliedern (in der Regel allen!) erwartet werden, und zwar auch dann, wenn persönliche Bekanntschaft oder gar Sympathie keine Rolle spielt. Sie gelten für die neue Kollegin der Nachbarabteilung
genauso wie für die Mitarbeitenden in der regionalen Niederlassung – selbst wenn man mit ihnen im Arbeitsalltag kaum oder gar nichts zu tun hat.
Kollegialität ist dadurch ein prägender Faktor für den Umgang miteinander. Wer neu in eine Organisation kommt, merkt sehr schnell, was man von Kolleginnen und Kollegen erwarten darf und was nicht. Dazu gehört, welche Themen man untereinander klärt und welche in Anwesenheit der Hierarchie, aber auch: Welche gegenseitigen Unterstützungsleistungen bewegen sich noch im
Rahmen der kollegialen Normen – und gilt die Erwartung auch dann, wenn die eigenen Aufgaben darunter leiden?
Kollegialität: latente Normen des allgemeinen Umgangs
zwischen Organisationsmitgliedern, die über formale
Erwartungen hinausgehen.
Als informales Phänomen wird Kollegialität schnell gelernt (oder das Nicht-Gelernt-Haben wird im Arbeitsalltag schnell durch Friktionen bewusst), aber meist nicht explizit vermittelt. Doch sind sie einmal durch Beobachtung, persönliche Gespräche und das Durchschreiten von Fettnäpfchen
verinnerlicht, bilden Kollegialitätsnormen einen festen Orientierungspunkt für Organisationsmitglieder.
Dabei steht zunächst die Rolle der Beteiligten im Vordergrund. Selbstverständlich lassen sich persönliche Gefälligkeiten – etwa die Bereitschaft, Erfolge trotz eigener Beteiligung anderen zurechnen zu lassen oder auch das spontane Einspringen für andere – nahezu beliebig in ihrer Erwartbarkeit steigern, je mehr persönliche Sympathie vorhanden oder je größer die persönliche Bekanntheit (und damit häufig das Vertrauen) untereinander ist (siehe dafür Cliquenbildung).
Der Fundus kollegialer Normen einer Organisation ist im Grundsatz jedoch allen Mitgliedern zugänglich – zumindest mit Blick auf ähnliche Hierarchieebenen oder Arbeitszusammenhänge. Freundschaften bieten Chancen für exklusive Vorteile – Kollegialität hingegen ist Allgemeingut und verpflichtet daher auch nicht zu besonderer Dankbarkeit. Wer vor Kundinnen oder Vorgesetzten die Fehler von Kolleginnen und Kollegen deckt, wird am Folgetag in der Regel keinen Blumenstrauß auf dem eigenen Schreibtisch wiederfinden. Viel wichtiger noch: Man kann dafür nur begrenzt Gegenleistungen einfordern, ohne die persönliche
Beziehung zu irritieren.
Welche Funktion erfüllt es für die Organisation?
Wozu dient dieses Phänomen also, wenn es einerseits unterhalb der formalen Regelungsschwelle und andererseits unabhängig von vertieften persönlichen Beziehungen stattfindet?
Zunächst fungieren kollegiale Normen als eine Art Puffer, um problematische Idealvorstellungen der Organisation abzusichern. Man (also die Organisation) geht davon aus, dass Teamfähigkeit möglich ist. Und zwar auch dann, wenn geteilte Ressourcen knapp sind. Eine solche Erwartung lässt sich nicht sachlogisch begründen, schließlich führt Ressourcenknappheit in aller Regel eher zu verschärfter Konkurrenz. Wenn begehrte Einzelarbeitsplätze im Großraumbüro knapp sind oder wenn nur einige und nicht alle guten Projektideen des Teams finanziert werden können, ist es wenig verwunderlich, wenn die Strategien Einzelner, ihre Interessen durchzusetzen, eher nicht
einer ausgewogenen Teamchemie zuträglich sind. Kollegialität fungiert hier als Mechanismus, der potenzielle Konflikte durch geteilte Normen begrenzt.
Das gilt im Übrigen nicht nur für knappe Projektbudgets. Auch die Konkurrenz um notorisch knappe Aufstiegsmöglichkeiten wird durch kollegiale Verhaltenserwartungen entschärft. Die Beförderung des unerfahreneren Kollegen mag für die Mitbewerberinnen persönlich ärgerlich sein, dem Ausdruck der Verärgerung sind durch Regeln der Kollegialität allerdings Grenzen gesetzt.
Der Unmut äußert sich deshalb in der Regel nicht durch offene Sabotage vor gemeinsamen Vorgesetzten oder Kunden. Ausnahmen mögen die Regel bestätigen, sie haben aber stets zur Folge, dass der Verstoß gegen die Kollegialitätsnormen auch von Dritten informal sanktioniert wird – selbst dann, wennman die persönliche Kränkung nachvollziehbar finden mag.
Die Normen der Kollegialität können zudem auch ohne jede formale Gültigkeit eine soziale Kontrollfunktion erfüllen. Man mag es der üblicherweise rein positiv beschriebenen Kollegialität kaum zutrauen, aber zu ihren Funktionen gehört es auch, die formale Kontrolle durch die Hierarchie zu ersetzen. Kollegialitäts-erwartungen können unter Stress setzen – zum Beispiel, weil klar ist, dass
man sich trotz dünner Personaldecke, unzureichender Arbeitsmittel oder völlig überzogener zeitlicher Anforderungen an die eigene Arbeit nicht gegenseitig hängen lässt. Stattdessen bügelt man gemeinsam die Defizite der Formalstruktur, die hanebüchenen Erwartungen des Kunden oder die
unfairen Deadlines der Vorstandsvorsitzenden aus, um Kolleginnen oder das eigene Team nicht schlecht dastehen zu lassen – über den formal erwartbaren und vielleicht sogar erlaubten Rahmen des persönlichen Einsatzes hinaus.
Für die Organisation ist das häufig funktional (siehe auch brauchbare Illegalität), weil strukturelle Mängel oder fehlender Realismus durch Überengagement kaschiert werden. Für Mitarbeitende können solche Formen der Kollegialität aber schnell auch zur persönlichen Belastungsprobe werden.
Welche Folgeprobleme bringt es mit sich?
Damit ist auch schon angedeutet, dass trotz aller Funktionen auch Kollegialität Folgeprobleme nach sich zieht, die es zu verstehen gilt, will man die eigene Organisationskultur ausleuchten. Welche es genau sind und wie sie sich konkret äußern, lässt sich nur am konkreten Fall beschreiben. Die grundlegenden Mechanismen aber zeigen sich über ganz unterschiedliche Organisationen hinweg.
Kollegiale Verhaltenserwartungen können leicht Loyalitätskonflikte erzeugen. Mitarbeitende kommen immer wieder in Situationen, in denen sie eine Entscheidung darüber treffen müssen, welche Verhaltenserwartung sie enttäuschen wollen: die formale, die durch die Organisation entschieden wurde, oder die kollegiale, die sich auf der informalen Seite ausgebildet hat.
Wann und unter welchen Umständen meldet man beispielsweise das Fehlverhalten des Kollegen, der ohne vorgeschriebene persönliche Schutzausrüstung an der Maschine steht? Wann weist man
in der Vorstandssitzung auf inhaltliche Fehler der Kollegin bei der Präsentation hin? Beteiligt man sich an der obligatorischen informal verlängerten Mittagspause in der Kantine – oder ist man die Spielverderberin, die den Projektbericht noch am frühen Nachmittag ans Steering Committee
senden will?
Auf solche Fragen gibt es keine allgemeingültigen Antworten, zumindest dann, wenn man von normativen Wertungen absieht. Denn die Welt der Organisationen ist eine Welt der Grauzonen, in der die Beteiligten immer wieder abwägen müssen, ob die formalen oder informalen Konsequenzen ihres Verhaltens schwerwiegender sind.
Diese Fragen sollte man sich stellen:
- In welchen Fällen gibt man sich gegenseitig Rückendeckung?
- Welche ungeschriebenen Gesetze bestimmen den Umgang miteinander?
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Whitepaper „Nagelt den Pudding an die Wand! Wie man die Kultur der eigenen Organisation analysiert, bespricht – und erfolgreich beeinflusst. Das ganze Whitepaper steht hier kostenlos zum Download bereit.