Es ist nicht einfach, der Kultur einer Organisation auf den Grund zu gehen. Kultur ist nicht entscheidbar, dadurch auch nicht gut besprechbar. Zum Glück liefert die Organisationssoziologie eine Heuristik, die hilft, den relevanten Phänomenen nachzugehen. Wir nennen sie die Suchscheinwerfer der Organisationskultur.
In dieser Reihe stellen wir diese Suchscheinwerfer vor. Dieser Artikel bespricht Kontaktstruktur.
Unter der Kontaktstruktur verstehen wir die faktische Verteilung von Kontakten zwischen Organisationsmitgliedern, die sich unabhängig von den formalen Erwartungen im Zuge der eigenen Arbeit ausbilden. Mit diesem Suchscheinwerfer beleuchten wir also, wann und wie Mitarbeitende
zu bestimmten Themen Informationen austauschen, Entscheidungen vorbereiten oder auch die Tragfähigkeit von Ideen verproben. Denn allzu häufig führt der Weg von Entscheidungen nicht entlang entschiedener Prozesse, Organigramme oder Gremienstrukturen. Er verläuft im Zickzack, einen Schritt vor und dann wieder zwei zurück durch die Organisation, bevor eine Entscheidungs-vorlage in die offiziellen Kanäle eingespeist oder das neue Projekt im dafür zuständigen Gremium vorgestellt wird.
Kontaktstruktur: die faktische Verteilung von Kontakten
zwischen Organisationsmitgliedern.
Welche Funktion erfüllt es für die Organisation?
Wer in einer Organisation seine Aufgabe gut erfüllen möchte, wird Wege dafür finden. Sind die formalen Wege nicht oder nur teilweise geeignet, einen guten Job zu machen, werden neue Schneisen in das Kommunikationsdickicht geschlagen. Oft sind das einmalige oder nur selten vorkommende Pfade, die der Neuartigkeit der Situation, der verkorksten Urlaubsplanung der Nachbarabteilung oder auch der konkreten Überforderung einer Person geschuldet sind. Und doch bilden sich auf diese Weise immer wieder auch gut ausgetretene Trampelpfade und inoffizielle Routinen, die sich fest etablieren und als Erwartungen in das Zusammenwirken der Akteure einprägen. Dann hat man es mit faktischen Kontaktstrukturen zu tun, die die Kultur einer
Organisation mit prägen.
Informationen aus dem Steering Committee werden dann nicht mehr zufällig auch in der Kaffeeküche weitergegeben, sondern gezielt an Stellen in der Organisation verteilt, die formal nicht involviert, für den Erfolg des Projekts aber dennoch relevant sind. Entscheidungsvorlagen für die Vorstandssitzung werden dann routinemäßig auch mit anderen Abteilungen vorbesprochen, sodass individuelle Eskalationen vermieden und erwartbare Konflikte schon im Vorfeld umschifft werden können.
Diese Praktiken des Vorbesprechens oder auch „Anteigens“ in wiederkehrenden Konstellationen wird man in vielen Organisationen zu ganz unterschiedlichen Themen finden. Sie sind Paradebeispiele für Kontaktstrukturen, die sich aus den faktischen Notwendigkeiten der Arbeit ergeben – aber in keiner Dienstanweisung oder PowerPoint-Vorlage gefunden werden können.
Ein weiterer Vorteil: Die faktische Kontaktstruktur kann Abläufe, für die es unter Umständen komplizierte formale Regularien gibt, enorm beschleunigen. Man bereitet Entscheidungen mit den relevanten Akteuren vor, bevor sie den formal zuständigen Personen zur Entscheidung vorgelegt werden – und reduziert damit die anschließende Diskussionszeit in der Umsetzung. Man gibt Kolleginnen einen Informationsvorsprung, damit sie in der Gremiensitzung überzeugend argumentieren und sich ihre Meinung nicht erst bilden müssen. Oder man fragt bei komplizierten Fertigungsschritten einfach den erfahrenen Kollegen, ob das Bauteil die Qualitätskontrolle wohl trotz leichter Abweichungen passieren wird und vermeidet so umständliche Konsultationen von Qualitätssicherung und Ingenieuren.
Welche Folgeprobleme bringt es mit sich?
Was im Arbeitsalltag sinnvoll erscheint, ist aus Sicht der Organisation nicht selten ein Problem. Sinn und Zweck von Regelungen zu Informationsflüssen und Entscheidungsbeteiligungen ist es ja gerade, Erwartungssicherheit darüber herzustellen, welche Informationen in welchen Teilen der Organisation (vielleicht sogar zu welchem Zeitpunkt) bekannt sein sollten und wer qua formaler Rolle Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben sollte.
Faktische Kontaktstrukturen stehen dieser formalen Definition oft konträr gegenüber. So können zum Beispiel Stellen vom Informationsfluss abgekoppelt werden, die zwar formal zuständig, bei der Bearbeitung ihrer Themen aber in der Regel kaum involviert sind. Eine Qualitätsmanagerin, die nur jedes fünfte zweifelhafte Bauteil zu Gesicht bekommt, wird regelmäßige Mängel der
neuen Maschine erst spät erkennen können.
Bei der Analyse der Organisationskultur lohnt sich der Blick auf faktische Kontaktstrukturen deshalb gleich in zweifacher Hinsicht: So lassen sich nicht nur informale Abläufe entdecken, die den formal festgeschriebenen in Sachen Geschwindigkeit und Stakeholdermanagement schon weit voraus sind (und die damit im Zweifel geplante Prozessoptimierungsprojekte von vornherein
überflüssig machen). Es zeigt sich auch, wo die faktischen Arbeitsprozesse dafür sorgen, dass eigentlich gut durchdachte Verantwortlichkeiten und Informationsflüsse ins Leere laufen und so immer wieder für Friktionen sorgen.
Diese Fragen sollte man sich stellen:
- Welche kurzen Dienstwege sind etabliert?
- Welche Expertinnen und Experten sind auch außerhalb ihrer formalenRollen gefragt?
- Welche Umwege nehmen Informationen immer wieder?
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Whitepaper „Nagelt den Pudding an die Wand! Wie man die Kultur der eigenen Organisation analysiert, bespricht – und erfolgreich beeinflusst. Das ganze Whitepaper steht hier kostenlos zum Download bereit.