Eine ungewollte Nebenfolge holakratischer Organisationsmodelle
Der Anspruch des holakratischen Organisationsmodells ist, dass die formale Struktur kontinuierlich immer besser an die Organisation herangetragenen Erwartungen angepasst wird. Zur Erfüllung dieser Erwartungen ist es nach Auffassung der Holakraten nötig, immer neue Kreise, Rollen oder Aufgaben zu bilden und diese wieder abzuschaffen, wenn sie zur Erfüllung eines Zweckes nicht mehr nötig sind. Wenn diese Annahme stimmt, müsste man in holakratischen Organisationen einen permanenten Fluss aus der Einrichtung und Abschaffung von Kreisen, Rollen und Aufgaben beobachten können.
Der Effekt ist jedoch häufig ein anderer. In holakratischen Organisationen werden zwar immer wieder neue Kreise, Rollen oder Aufgaben geschaffen, aber deren Abschaffung ist eher die Ausnahme (siehe dazu Sua-Ngam-Iam und Kühl 2021). So kann man in der Steuerungssoftware holakratischer Unternehmen erkennen, dass auch bei gleichbleibender Mitarbeiter:innenzahl die Anzahl der Kreise immer weiter zunimmt, die Rollen immer weiter ausdifferenziert werden und das Regelwerk immer weiter detailliert wird. Es scheint einen der Holacracy innewohnende Tendenz zu einer immer stärkeren Formalisierung zu geben.
Den Sog der Formalisierung sieht man in den holakratischen Organisationen gerade bei der Organisation besonders sensibler Fragen, wie die der Einstellung, Vergütung und Entlassung. Diese Fragen sind durch die holakratische Verfassung nicht geregelt, man erkennt aber wie stark in holakratischen Organisationen zu aufwendigen formalen Verfahren gegriffen wird, um diese in Organisationen häufig emotional aufgeladenen Fragen zu klären. Es werden komplexe Systeme aus Abzeichen – „Badges“ – erstellt, mit denen Mitarbeiter:innen ihre Qualifikationen und Erfahrungen nachweisen können. Diese müssen dann in einem aufwendigen Verfahren noch durch dafür geschaffene Rollen oder Kreise verifiziert werden, bevor sie dann als Basis für eine Verhandlung über Gehaltserhöhung dienen können (siehe für die Effekte zum Beispiel Groth 2018, S. 161; siehe aber auch Carr 2015).
Die Ausbildung von Formalitätsruinen
Der Effekt einer immer stärkeren formalen Verregelung ist die Ausbildung von Formalitätsruinen. Es werden Kreise eingerichtet, die sich fast nie zu Tactical Meetings oder Governance Meetings treffen. Es werden Organisationsmitglieder den neu geschaffenen Rollen zugeordnet, die aber faktisch in diesen Rollen nicht wirken. Die Aufgaben werden immer weiter ausdifferenziert, ohne dass dies die Tätigkeiten in den jeweiligen Rollen widerspiegeln. Es scheinen in der holakratischen Steuerungssoftware immer wieder formale Erwartungen formuliert zu werden, die aber faktisch keine Bedeutung für die Organisation haben (siehe dazu auch Oestereich und Schröder 2017, S. 85; ganz ähnlich Oestereich und Schröder 2020, S. 222).
Diese Formalitätsruinen werden häufig in der Organisation erst festgestellt, wenn ein neues Organisationsmitglied das holakratische Prinzip ernst nimmt und mit einem Anliegen eine dafür vorgesehene Rolle kontaktiert. Manchmal wird erst dann bemerkt, dass wegen Ausscheidens eines Mitarbeiters diese Rolle über Monate oder Jahre nicht mehr durch eine Person ausgefüllt worden ist. Die Nichtbesetzung dieser Rolle ist niemandem aufgefallen, weil sie faktisch keine Bedeutung in der alltäglichen Arbeit der Organisation hatte, aber niemand die Notwendigkeit gesehen hat, diese Rolle abzuschaffen.
Die paradoxen Effekte von Verschlankungskampagnen
Auf das Wuchern ihrer Formalstrukturen reagieren die holakratischen Organisationen mit Verschlankungskampagnen. Es wird aufgefordert, zu überprüfen, ob die geschaffenen Kreise noch Sinn machen und deren Abschaffung diskutiert. Von Organisationsmitgliedern mit mehr als zwanzig Rollen wird verlangt, die Anzahl zu reduzieren. An die Rollenträger wird appelliert, sicherzustellen, dass die Aufgabenbeschreibungen der Rollen noch angemessen sind.
Aber es gehört zu den Paradoxien hyperformalisierter Organisationen, dass diese Maßnahmen einen weiteren Formalisierungsschub nach sich ziehen. Es werden eigene Rollen eingerichtet, die als „Müllmänner“ dafür sorgen sollen, unnötig gewordene Rollen zu entfernen. Es werden eigene formale Programme erstellt, durch die die Entschlackung der Kreise sichergestellt werden soll.
Man erkennt in der Holacracy eine Wirkung der Formalisierung, die für die klassischen bürokratischen Organisationen gut untersucht wurde. Auf Probleme in der Organisation wird in den meisten Fällen mit der Schaffung neuer formaler Strukturen – in Form von neuen Kommunikationswegen oder neuen Programmen oder der Einstellung neuer Personen – reagiert. Die angesichts des Wucherns der Formalisierung regelmäßig ausgerufenen Entbürokratisierungskampagnen führen dann zu neuen formalen Regelungen, zur Schaffung neuer Stellen und der Einstellung neuen Personals (siehe dazu Luhmann 2000, 346ff.).
Auf Hyperformalisierung setzende Organisationskonzepte ähneln einem Fußballspiel, in dem die Verhaltenserwartungen an die Spieler:innen immer weiter in einem Regelwerk schriftlich spezifiziert werden. Der „Purpose“ der Mannschaft – das Gewinnen eines Spieles – wird in immer detailliertere schriftliche Regeln übersetzt, in denen festgelegt wird, dass die Fußballspieler:innen sich bemühen sollten, den Ball zu erobern, ihn nur eigenen Mitspieler:innen zuzupassen und am Ende in das gegnerische Tor zu treten. Jedes verlorene Spiel wird dann zum Anlass genommen, die formalen Anforderungen noch weiter zu spezifizieren und festzulegen, an wen die Bälle zuspielen sind, ob sie eher hoch oder flach gepasst werden sollen und wann welche Fouls begangen werden sollten. Am Ende kann man der Fußballmannschaft ein Regelwerk von Tausenden Seiten überreichen, in denen die Vorgehensweise im Detail beschrieben ist (siehe für diese Metapher Dollase 2011, S. 9).
Literatur
Carr, Paul Bradley (2015): Astonishingly, Tony Hsieh’s Holacracy Experiment is Causing Chaos at Zappos.
Dollase, Rainer (2010): Kritik der Qualitätssicherung. Bürokratische, sinnlose und sinnvolle Wege zu mehr Qualität. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 86, S. 296–311.
Dollase, Rainer (2011): Sinn und Unsinn des Qualitätsmanagements. Analyse und Verbesserung. Berlin: Konrad Adenauer Stiftung.
Groth, Aimee (2018): The Kingdom of Happiness. Inside Toney Hsieh’s Zapponian Utopia. New York: Touchstone.
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen: WDV.
Oestereich, Bernd; Schröder, Claudia (2017): Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen.
Oestereich, Bernd; Schröder, Claudia (2020): Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München: Vahlen.
Sua-Ngam-Iam, Phanmika; Kühl, Stefan (2021): Das Wuchern der Formalstruktur. In: Journal für Psychologie 29, S. 39–71.