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Holacracy

Die Renaissance des zweckrationalen Organisationsmodells

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 2. Juni 2023
Renaissance

Holakraten beschreiben ihr Organisationsmodell als ein grundlegend neues „umfassendes Betriebssystem“ für Organisationen (Robertson 2016, S. 11; siehe auch Robertson 2015, S. 16).[1] Holacracy sei, so die Beschreibung, keine klassische Technik oder Software, sondern eine „soziale Technologie“. Genauso wie ein Computer ein Betriebssystem hätte, hätten auch Organisationen ein solches Betriebssystem, „das kontrolliert, wie die Kommunikation geschieht, wie die Macht verteilt ist, wie bestimmte Applikationen bestimmte Ressourcen und Informationen miteinander teilen und wie der Arbeitsfluss“ gesteuert wird (Robertson 2012; zitiert nach Laloux 2015, S. 119; Laloux 2014, 118f.).

Auch vor der Holacracy hätte es, so das Argument der Holakraten, in jeder Organisation ein Betriebssystem gegeben. Das sei aber oft nicht bewusst geplant worden und oft auch gar nicht mehr hinterfragt worden“. Dieses auf Hierarchie und Silobildung basierende Modell hätte eine „Art Monopol auf dem Markt der Betriebssysteme für Organisationen“ gehabt. Natürlich hätte es „einige Variationen gegeben“, aber letztlich hätten sie immer wieder auf den gleichen Machtstrukturen und Arbeitsweisen aufgesetzt (Robertson 2012; zitiert nach Laloux 2015, S. 119; Laloux 2014, 118f.).

Um Organisationen wirklich zu transformieren, könnte man, so das Argument der Holakraten, Veränderungen nicht einfach mehr auf das existierende Standardbetriebssystem „aufpfropfen“. Stattdessen müsse das herkömmliche auf personaler Hierarchie und Abteilungsbildung basierende „Betriebssystem“ der Organisation „ein Upgrade“ zu einem „neuen Betriebssystem“ bekommen (Robertson 2016, S. 10; siehe auch Robertson 2015, S. 15). Die notwendigen Einschnitte seien, so die verwendete Metapher, ähnlich wie bei der Umstellung der Computer von dem Betriebssystem MS-DOS auf Windows. Als man noch mit dem alten Betriebssystem von Microsoft mit dem „schwarzen Bildschirm mit dem klobigen grünen Text“ gearbeitet hätte, sei es schwer vorstellbar gewesen, dass dieses von „einer interaktiven, benutzerfreundlichen, grafischen Schnittstelle abgelöst“ werden würde, die „selbst Updates“ vornehme und „ständig mit einem weltweiten virtuellen Netzwerk verbunden“ sei (Robertson 2016, S. 10; siehe auch Robertson 2015, S. 15).

Es ginge – so die Suggestion der Software-Metapher – darum, ein System zu entwickeln, das die basalen Regeln des Zusammenspiels zwischen einzelnen Komponenten definiert. Ein Betriebssystem lege nicht fest, welche konkreten Programme darauf aufsetzen, beeinflusse aber maßgeblich deren Abläufe. Aber wenn es nicht gelinge ein funktionierendes Betriebssystem zu entwickeln, funktionierten – so die Implikation – alle Programme nur langsam, instabil und fehleranfällig (so die Darstellung bei Mitterer 2015). Holacracy verspricht auf diese Weise ein Betriebssystem zu sein, in denen alle Elemente sauber ineinandergreifen und eine Vielzahl anderer Programme drauf aufgesetzt werden können.

Die Metapher vom Betriebssystem klingt erst einmal plausibel. Wie viele Metaphern, mit denen Organisationen beschrieben werden, wirken sie gerade in ihrer Einfachheit überzeugend. Doch was für ein Organisationsverständnis steckt hinter diesem Konzept eines selbststeuernden Betriebssystems?

Als Ausgangspunkt sehen viele Verfechter neuer Organisationsformen eine sinnstiftende Ausrichtung der Organisation. Es ginge darum – so der Tenor – eine „soulful organization“ – eine „beseelte Organisation“ – zu schaffen (so Laloux 2014, S. 4 und in deutscher Übersetzung Laloux 2015, S. 4). In diesen „beseelten Organisationen“ würde eine Sehnsucht nach „einer radikal anderen Weise der Zusammenarbeit in Organisationen“ ihren Platz finden (so Laloux 2015, S. 4; siehe auch Laloux 2014, S. 4).

Hier wird wie bei vielen Managementkonzepten der Traum von Organisationen als „Orte“ gepflegt, in denen Menschen täglich Sinn stiften durch das, was sie miteinander tun. „Menschen“, so die Vorstellung, gingen „mit Freude“ zur Arbeit, begegneten sich dort „als Menschen“ und „entfalteten ihr Potenzial“. Am Ende des Tages gingen die Menschen mindestens genauso „energiegeladen und erfüllt nach Hause zurück, wie sie am Arbeitsplatz erschienen“ seien (alle Formulierungen aus Fink und Moeller 2018, 1f.).

Die Vorstellung ist, dass die Organisationen, die diese Dinge tun, nicht „nur zu ihrem eigenen Leben und Wohlbefinden“ beitrügen, sondern gleichermaßen zu dem ihrer Kunden, Geschäftspartner und Kapitalgeber. Letztlich würden in diesen Organisationen Prozesse angestoßen werden, die die Umwelt schonen und natürliche Grundlagen erhalten würden und so eine „positive Entwicklung des gesellschaftlichen Umfelds“ zur Folge hätten (alle Formulierungen aus Fink und Moeller 2018, 1f.).

Während solche Träume lange Zeit ein Vorrecht selbstverwalteter Betriebe, politischer Basisinitiativen und utopischer Lebensgemeinschaften gewesen waren (siehe dazu Paranque und Willmott 2014), sind sie inzwischen im Mainstream des Managements angekommen. Allen Problemen mit Abgasmanipulationen, Umweltverschmutzung oder Korruption zum Trotz glauben inzwischen auch Großunternehmen in der Automobil-, Pharma- und Energieindustrie, dass die Lösung für das Problem der Mitarbeitermotivation in der Suche nach einem höheren Sinn ihrer Unternehmungen liege. Jede Organisationen, so die Annahme, hätte „ihren eigenen Purpose“, „ihr eigenes Telos“, der vom „Top Zirkel“ herausgearbeitet werden müsse (Robertson 2006, S. 17).

Das Schlagwort dafür ist das der „purpose-driven organization“ (siehe dazu kompakt Kühl 2022, 209ff.). Durch die Formulierung eines Purpose spannten Organisationen „einen großen Regenschirm auf“, unter dem „sich die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Talenten, Absichten und Erfahrungen vereinen“ könnten, „um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen“. Purpose sei dabei sogar weit „mehr als ein Ziel“. Es sei der „Grund, warum wir morgens aufstehen und zur Arbeit gehen“, warum wir uns anstrengen, uns einbringen und Risiken eingehen“ (so mit dem im Managementdiskurs üblichen Pathos Linke 2016).

Konsequenterweise dominierten bei den Formulierungen des Purposes von holakratischen Organisationen unterbestimmte Superlative (siehe dazu auch Strothotte 2023). In den Purpose Beschreibungen wimmelt es nur so von englischsprachigen Begriffen wie „awesome“, „cutting edge“, „exquisite“ oder „transformative“, mit denen das „kreative Potential“ des „lebendigen Systems“ beschrieben werden soll (so Brian Robertson in Laloux 2015, S. 200; siehe auch Laloux 2014, S. 200).

Aber man darf von den wolkigen Purpose-Formulierungen nicht vorschnell auf die konkrete Funktionsweise holakratischer Organisationen schließen. Ein klassischer Fehler bei der Analyse von Organisationen besteht darin, dass nicht systematisch zwischen Wert- und Zweckformulierungen in Organisationen unterschieden wird (siehe dazu Luhmann 1973, 33ff.). Beim Purpose handelt es sich um abstrakte Wertformulierung, die lediglich einen groben Orientierungsrahmen geben, aber nicht bestimmen, was richtiges oder falsches Verhalten ist. Bei Zwecken handelt es sich dagegen um Programme, über die festgelegt wird, was zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht werden soll und ob dessen Erreichung oder Nichterreichung feststellbar ist.

Es gehört zum Fehler bei der Analyse von Organisationen, dass in einer fast naiven Art davon ausgegangen wird, dass die Zwecke sich aus den Werten der Organisation ableiten lassen. Es wird dabei übersehen, dass Werte und Zwecke ganz unterschiedliche Funktionen in der Organisation bedienen. Werte dienen eher der Ausschmückung der Schauseite und bieten bestenfalls grobe Orientierungsrahmen, während Setzungen von Zwecken eine Steuerung der Organisation ermöglichen. Die Werte und Zwecke einer Organisation sind dabei bestenfalls lose miteinander gekoppelt.

Wie stellen sich Holakraten jenseits der üblichen Purpose-Rhetorik die Durchstrukturierung von Organisation vor?

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Die Aufgliederung des Urzwecks

Am Anfang steht nach Auffassung der Holakraten einer Art Urzweck der Organisation. Dieser Urzweck wird durch die Führung einer holakratischen Organisation im Ankerkreis – beziehungsweise im General Company Kreis – festgelegt. Ausgehend von diesem Urzweck wird dann die ganze holakratische Organisation in Form von Zweck-Mittel-Ketten durchkonstruiert. Aus dem Urzweck werden eine Vielzahl von Mitteln in Form von Unterzwecken und Unterunterzwecken abgeleitet. Diese Unterzwecke und Unterunterzwecke dienen dann als Aufgabenbeschreibung für Kreise und dann für Rollen.

Sicherlich – in der Praxis werden bei der Verabschiedung der holakratischen Verfassung die Organisationen nicht auf dem Reißbrett von oben nach unten neu geplant. Ausgangspunkt sind vielmehr die Zweckbeschreibungen, die bisher die Arbeit in den einzelnen Einheiten angeleitet haben. Die Holakraten stehen dabei insofern in einer Tradition von Frederick Taylor, als dass der Ausgangspunkt einer rationaleren Organisationsgestaltung die einzelnen zu erfüllenden Aufgaben in einer Organisation sind.[2]

Am Ende sollen die Aufgaben dann so miteinander verknüpft sein, dass es eine konsistente Anordnung von ganz oben nach ganz unten gibt.

Man erkennt hier die schon bei Max Weber angelegte Vorstellung, dass Organisationen als rationale Anordnungen von Zwecken und Mitteln verstanden werden können. Es handle, so die bekannte Formulierung Webers (1976, S. 13), derjenige zweckrational, der in seinem Handeln verschiedene Zwecke gegeneinander abwägt, die günstigsten Mittel zur Erreichung der definierten Zwecke wählt und in diesem Auswahlprozess von Zwecken und Mitteln mögliche unerwünschte Nebenfolgen mit in Betracht zieht.

Die Verschachtelung von Zwecken und Kreisen

Die Bestimmung der Zwecke, Unterzwecke und Unterunterzwecke wird im holakratischen Organisationsmodell in ineinander verschachtelten Kreisen, Unterkreisen und Unterunterkreisen abgestimmt. Der Ausgangspunkt ist dabei immer der umfassende Zirkel – der Ankerkreis beziehungsweise der General Company Circle – durch den der Zweck der Organisation definiert wird. Von diesem Oberzirkel ausgehend werden Unterzirkel eingerichtet, die für die Erreichung der aus dem Oberzweck abgeleiteten Unterzwecke zuständig sind.

Dabei wird insofern mit dem klassisch-hierarchischen Aufbau gebrochen, als der übergeordnete Zirkel zwar den Lead Link des untergeordneten Zirkels besetzen kann, die genaue Bestimmung des Unterzweckes jedoch dem zuständigen Zirkel selbst überlassen und die Erfüllung der Aufgaben durch den untergeordneten Kreis selbst überwacht wird. Der übergeordnete Zirkel kann lediglich Spannungen thematisieren, wenn die Aufgabenbestimmung nicht mit dem Oberzweck abgestimmt ist oder die festgelegte Aufgabe nicht erreicht wird. Auch wenn das holakratische Organisationsmodell keine klassische hierarchische Ordnung darstellt, fällt doch auf, wie stark die Struktur aus Ober-, Unter- und Unterunterkreisen mit der hierarchischen Ordnung von Zwecken und Mitteln korreliert (siehe dazu aufschlussreich Luhmann 1973, S. 73).

Die Auswahl des geeigneten Personals

Sobald aus dem Zweck der Organisation die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Kreise und Rollen festgelegt sind, sollen diese nach dem holakratischen Organisationsverständnis durch geeignete Personen besetzt werden. Die Auswahl der Person für eine Rolle innerhalb eines Kreises obliegt dem jeweiligen Lead Link. Dabei kommt es darauf an – und da unterscheidet sich die Vorstellung nicht von der Grundüberlegung Frederick Taylors (1979, S. 44) –, die am besten geeignete Person für eine Rolle zu identifizieren.

Wichtig ist, dass nach diesem holakratischen Organisationsverständnis im ersten Schritt immer eine Rolle mit entsprechenden Aufgaben definiert werden muss und erst im zweiten Schritt eine geeignete Person für diese Rolle ausgewählt wird. In der Organisationswissenschaft wird dies als „Ad-rem-Prinzip“ bezeichnet. Das Zuschneiden von Stellen auf eine bereits eingestellte Person – das sogenannte Ad-personam-Prinzip – kann aus dieser Perspektive lediglich als Pathologie verstanden werden, die bestenfalls in Ausnahmefällen denkbar ist. Die Wahl von Personen sollte sich, so die Logik, immer nach den Aufgaben richten, nicht umgekehrt (siehe dazu Luhmann 1971, S. 209).

[1] Wörtlich heißt es im Original: “After many years of experimentation, across several organizations, a comprehensive new operating system emerged, through my efforts and those of many others.” (Robertson 2015, S. 16). Der Begriff des Betriebssystems – des „operating systems“ – wird von Brian Robertson in seinem Buch häufig verwendet. Siehe zur Verwendung des Begriffs in der Rezeption des Managementkonzepts zum Beispiel auch Groth 2013; Denning 2014; Mont 2017.

[2] Taylor muss hier in Abgrenzung von Harrington Emerson 1924 verstanden werden, der die Aufgabenbeschreibungen eher von den Oberzwecken der Organisation heraus ableiten will. Für die Kontroverse zwischen den Zeitgenossen Taylor und Emerson, siehe Witzel 2012, 186ff..

Literatur

Denning, Steve (2014): Making Sense of Zappos and Holacracy.

Emerson, Harrington (1924): The Twelve Principles of Efficiency. New York: The Engineering Magazine.

Fink, Franziska; Moeller, Michael (2018): Purpose Driven Organizations. Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Groth, Aimee (2013): Zappos is Going Holacratic. No job, No Titles, No Managers. Quartz.

Kühl, Stefan (2022): Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen. München: Vahlen.

Laloux, Frederic (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brussels: Nelson Parker.

Laloux, Frederic (2015): Reinventing Organizations. Ein Leifaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.

Linke, Lars-Peter (2016): Hola­cracy Purpose: Damit alles in bester Absicht geschieht.

Luhmann, Niklas (1971): Reform des öffentlichen Dienstes. In: Niklas Luhmann (Hg.): Politische Planung. Opladen: WDV, S. 203–256.

Luhmann, Niklas (1973): Zweckbegriff und Systemrationalität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mitterer, Gerald (2015): Holacracy – ein Fleischwolf für organisationale Entscheidungsprozesse. In: Eschenbach, Meyer, Herbert Schober und Horak (Hg.): Management der Nonprofit-Organisation – Bewährte Instrumente im praktischen Einsatz. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 426–432.

Mont, Simon (2017): Autopsy of a Failed Holacracy: Lessons in Justice, Equity, and Self-Management.

Paranque, Bernard; Willmott, Hugh (2014): Cooperatives—Saviours or Gravediggers of Capitalism? Critical Performativity and the John Lewis Partnership. In: Organization 21, S. 604–625.

Robertson, Brian J. (2006): An Interview with Brian Robertson on Holacracy.

Robertson, Brian J. (2012): It’s Just Good Business. Interview with Jeff Klein.

Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York: Henry Holt.

Robertson, Brian J. (2016): Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Verlag Franz Vahlen.

Strothotte, Adrian (2023): Purpose und Selbstorganisation. Über Funktionen und Folgen von Zwecken in holakratischen Organisationen. In: Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Wiesbaden: Springer Gabler.

Taylor, Frederick W. (1979): Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. 2. Aufl. München: Oldenbourg.

Weber, Max (1976): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Witzel, Morgen (2012): A History of Management Thought. London: Routledge (Business and management).

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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